Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig
was er als Nächstes zu tun hatte. Obwohl der Narr nichts anderes wünschte, als seine Gier an Jolanda zu befriedigen, war er offenbar unfähig, die einfachsten, instinkthaften Handlungen auszuführen.
Simon sah, dass Eugen alles richtig eingeschätzt hatte. Jolanda war kein Kind mehr. Sie hatte Wünsche. Sie wollte einen Mann und nahm, wenn es nicht anders ging, sogar mit den Narren vorlieb. Sie konnten nur hoffen, dass sie bisher bei solchen Versuchen noch keinen Erfolg gehabt hatte. Eine weitere Missgeburt hätte die Versorgungslage der Gruppe verschlechtert. Es ging ihnen schon schlecht genug, auch wenn dieser Sommer gut war. Vielleicht war der Darauffolgende so, dass sie nur von Wurzeln leben mussten. Vielleicht verhungerten sie alle.
Eugen sprang vor, sein kräftiger rechter Arm wurde lebendig, packte Robert und warf ihn zwei, drei Meter durch die Luft. Der Narr rollte über den Boden, blieb ängstlich zusammengekauert liegen und schlang die Arme um seinen Kopf, als wollte er Schläge abwehren. Jolanda starrte Simon an und sagte nichts.
»Komm mit«, röhrte Simon.
Er zog Jolanda hoch, und sie machten sich zu dritt auf den Weg zur Höhle. Der Narr, der es gewohnt war, den anderen zu folgen, lief in einiger Entfernung hinter ihnen her.
In den folgenden Tagen sorgte Eugen dafür, dass immer eine der Frauen aus der Gruppe ein Auge auf Jolanda hatte. Nach einer weiteren Woche kam eine der Frauen und meldete, dass Jolanda Menstruationsbeschwerden habe. Eugen erzählte Simon davon. Sie waren erleichtert. Jolanda war nicht schwanger.
Als sie tags darauf den Rat einberiefen, an dem alle Mitglieder der Gruppe teilnahmen, konnten sie konkrete Vorschläge machen. Überall in der Gruppe ruckten die Köpfe in schweigender Zustimmung, als Eugen sprach. Er sagte zuerst, dass Jolanda – ›die schöne Jolanda‹, wie er sie nannte – wohl nach allgemeiner Auffassung nur an einen Mann gegeben werden dürfe, der in gleicher Weise vollkommen sei wie Jolanda selbst. Auch die jungen Männer widersprachen nicht. Unter ihnen war keiner, der sich jemals Aussichten gemacht hatte. Sie alle waren hässlich und in vielfältiger Weise verkrüppelt. Bei dem einen war das Gesicht eine grotesk verzerrte Maske, bei einem anderen waren die Beine so weit verkürzt, dass er nur mit lächerlichen Trippelschrittchen gehen konnte. Einige waren wahrscheinlich ohnehin zeugungsunfähig. Alle vertrauten sie ihren Philosophen, die schon das Richtige für Jolanda tun würden.
»Wir haben nun in der Nähe von Nürnberg einen jungen Mann gefunden. Er soll sehr schön sein. Aber nach Nürnberg sind es über fünfzig Kilometer. Das ist das Problem. Überall die Strahlung, wie ihr wisst. Simon und ich machen jetzt den Vorschlag, Jolanda dennoch zu dem jungen Mann zu bringen. Wir glauben, dass das möglich ist.«
Eugen erklärte weiter, wie der Plan aussah, den er zusammen mit Simon ausgedacht hatte. Es gab weit und breit keine Fahrzeuge. Aber in der Nähe, in einem der Dörfer, wo die Strahlung noch nicht tödlich war, da müsste es Fahrräder geben. Er erklärte der Gruppe, was man unter einem Fahrrad zu verstehen hatte. Es gelang ihm nur unvollkommen. Er hatte auf seiner Reise nach Bamberg zwar eine Vielzahl von Fahrrädern gesehen, aber er wusste nicht, wie man auf den schmalen Rädern fahren sollte. Wenn er auch nicht zweifelte, dass das möglich war.
Es musste ihnen gelingen, ein Fahrrad zu holen. Und sie brauchten Teile von anderen Fahrrädern für den Fall, dass etwas repariert werden musste. Und Werkzeug natürlich. Dann aber, und das sei die eigentlich wichtige Sache, müssten sie noch einen Karren herstellen, den man hinter dem Fahrrad befestigen und so ziehen konnte. Auf dem Karren würden sie eine Kiste befestigen, und in dieser Kiste würde sich Jolanda während der Reise aufhalten.
Natürlich konnte das keine Kiste aus Holz sein. Die würde ja keinen Schutz vor der Strahlung bieten. Nein, es gab andere Materialien. Blei sei am besten, Blei schütze gut. Man werde es sicherlich in den Batterien der Autos, die in den Dörfern herumstanden, finden. In den Büchern, die er gelesen habe, stünde jedenfalls, dass in den Batterien Blei sei. Daraus müssten sie eine Kiste bauen. Jetzt sei Juni. Zwei Monate Zeit, dann könnte alles fertig sein. Wenn die Gruppe gemeinsam ans Werk gehe. Gemeinsam könnten sie es schaffen.
Nachdem Eugen geendet hatte, nahm Simon all seine Kraft und all seinen Atem zusammen, und entwarf keuchend und manchmal brüllend ein Zukunftsbild, durch das er die Angehörigen der Gruppe zusätzlich zu motivieren hoffte.
»Später, vielleicht nach fünfzehn Jahren schon, da kommt vielleicht einer zu uns. Er ist groß und schön. Er ist ein Mensch, wie es ihn nur vor dem Krieg gab. Viele von uns können das noch erleben. Ein Sohn von Jolanda! Er wird eine schöne Frau mitbringen. Zusammen werden sie weitere Kinder haben. Sie werden unsere Gruppe führen. Wenn wir uns also anstrengen, dann tun wir es für uns. Und wir tun es, damit die Menschheit überlebt.«
Eugen grinste breit und mit zuckenden Lippen. Simon konnte von seinen Träumen nicht lassen. Das belustigte ihn. Er sah das Unternehmen für eine interessante Sache an und für nichts sonst. Das Überleben der Menschheit war ihm egal. Die Sache brachte Abwechslung. Besonders für ihn selbst. Das war Rechtfertigung genug.
Ob Simons Appell es war, der die Gruppenmitglieder für die Reisevorbereitungen einnahm, oder ob sie deshalb arbeiteten, weil sie gewohnt waren, den Ideen ihrer beiden Philosophen zu folgen, das war nicht zu entscheiden. Sicher war nur, dass die ganze Gruppe zusätzliche Arbeit leistete. Sie vernachlässigte die Vorratsbeschaffung nicht. Außerdem aber trugen sie aus dem in der Nähe gelegenen Dorf alle Fahrräder zusammen, die sie fanden. Dazu kam, dass jemand in einem Haus, das am Weg stand, der hinunter ins alte Dorf führte, Zementsäcke entdeckte. Simon hatte diesem Mann einmal erzählt, dass man früher mit Zement Beton gemischt und Häuser gebaut hatte. Weil ein Haus für die Höhlenbewohner ein Kasten war und sie ja doch auch einen Kasten bauen wollten, erzählte der Mann Simon von seinem Fund. Simon, der niedergeschlagen war, lebte wieder auf. So konnte es vielleicht auch gehen.
Die Idee mit den Autobatterien war kein Fehlschlag gewesen, aber die ganze Sache war schwieriger als erwartet. Zwar standen in dem Dorf und auch auf der Straße dorthin verrostete Autowracks in großer Zahl, aber das Blei in ihren Batterien war bis auf Reste von der Säure zerstört. Es war mühsam und langwierig, so viel Blei zu sammeln, dass ein geeigneter Kasten gebaut werden konnte. Da kam der Zement gerade recht.
Nachdem die Rohmaterialien zusammengetragen waren, teilten Simon und Eugen die Gruppe in zwei Abteilungen. Die eine Abteilung, für die Simon zuständig war, beschäftigte sich mit der Konstruktion des Fahrrads und des Anhängerkarrens, die andere machte sich unter der Leitung Eugens daran, den Kasten zu bauen. Beide Werke waren schwierig, aber sie kamen doch stetig voran. Am einfachsten war die Zusammenstellung des Fahrrads. Weil der Gummi der Reifen spröde und brüchig geworden war, mussten sie nicht nur die besten Reifen heraussuchen, sondern auch dafür sorgen, dass eine gewisse Zahl von Ersatzreifen fertig auf die Felgen montiert zur Verfügung stand. Simon meinte, dass vier Ersatzreifen, je zwei für das Vorder- und zwei für das Hinterrad, genügen müssten.
Den Karren bauten sie aus den Teilen der übrigen Fahrräder. Er war dreirädrig, und das Vorderrad ließ sich so bewegen, dass der Karren immer der Laufrichtung des ziehenden Fahrrads folgen würde. Auf diese Konstruktion war Simon besonders stolz, weil nur sie es möglich machte, dass der schwere Kasten mit Jolanda transportiert werden konnte.
Der Kasten, den Eugens Abteilung baute, wurde aus Beton gemacht. Aus Brettern hatte Eugen einen großen und einen kleineren Holzkasten anfertigen lassen, die dann ineinander gestellt wurden, sodass der Zwischenraum mit dem Beton ausgegossen werden konnte. Das Ergebnis war eine unförmige, steinerne Kiste, die man dann noch mit einem nicht sehr dicken Mantel aus Blei umgab. Am Ende war die Kiste so schwer, dass sie nur von mehreren Männern gehoben werden konnte.
Das Gewicht des Kastens machte Simon skeptisch. Er war nicht sicher, ob der Karren genügend stabil und der Fahrer genügend kräftig sein würde, um Jolanda zu transportieren. Als er seine Bedenken Eugen mitteilte, grinste der und meinte, Simon müsse sich ja zumindest um die Kraft des Fahrers nicht allzu große Sorgen machen.
Als Fahrer des Gefährts war von Anfang an Eugen ausersehen. Er hatte sich freiwillig zur Verfügung gestellt und argumentiert, er habe die größte Erfahrung, was Reisen anbeträfe. Außerdem werde er nicht mehr