Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig
deutlich sichtbar. Für die anderen Menschen aber, für seine Eltern und für Katia zum Beispiel, existierte sie weniger als ein Traum in seinem Kopf. So war das nun einmal, auch wenn man es zuerst nicht so recht glauben konnte. Als Georg sich, noch immer in der inneren Schale stehend, die Umgebung besah, wunderte er sich. Alles hier war vertraut und doch wieder sehr merkwürdig. Das Gras und die Sträucher – er stand mitten in einem grünen Garten. Aber das Grün war dunkel, fast blau, und die Sträucher sahen seltsam unecht aus. Und außerdem das Licht! Auch das Licht war bläulich. Ganz weich und diffus war dieses Licht, sodass es keine Schatten warf, sondern alle Pflanzen dicht umschloss und sie, zumindest dem Anschein nach, dichter zusammenrückte, als es der Wirklichkeit entsprechen mochte. Nachdem er aus dem Würfel der inneren Chronobox ausgestiegen war, schaute Georg zuerst zum Himmel, um zu überprüfen, woher dieses überaus seltsame blaue Licht kam. Es gab nirgends eine Sonne, obwohl keine Wolken zu sehen waren. Das Blau wurde, wenn man hinaufsah, nur immer dichter. Es wölbte sich und fiel, irgendwo hinter Bäumen und Sträuchern, hinunter zum Horizont. Hier also war er gelandet. Es sah nicht so aus, als ob es hier viel zu entdecken gäbe. Vermutlich war diese Welt unbewohnt. Ein unbewohnter, gut gepflegter Garten, angenehm, aber langweilig. Leben konnte man hier, gewiss. Die Sensoren der Chronobox, die verhinderten, dass die Box auf einem unbewohnbaren, toten Planeten landete, diese Sensoren hatten gut gearbeitet. Aber gegen Langeweile gab es keine Außenfühler. Er konnte trotzdem zufrieden sein. Vielleicht war es richtig so. Zuviel Aufregung auf einmal war auch nicht gut. So konnte er, ohne dass er sich um seine Box Sorgen zu machen brauchte, zu einem Spaziergang aufbrechen und die nähere Umgebung erkunden.
In einer nicht allzu großen Entfernung – die genaue Distanz war wegen der ungewohnten Lichtverhältnisse nicht zu bestimmen – erhob sich ein Hügel aus dem ansonsten flachen Garten. Dahin wollte Georg zuerst gehen. Wenn er auf den Hügel stieg, hatte er einen guten Rundumblick über die kleineren Bäume hinweg. Er nahm ein kleines Peilgerät aus dem Innern der Box und machte sich auf den Weg. Das Peilgerät würde ihn sicher wieder zu seiner Chronobox zurückleiten, auch wenn er sich auf seinem Marsch zu dem Hügel weiter als erwartet entfernen sollte.
Nach einem Fußmarsch von ungefähr einer Viertelstunde langte er in der Nähe des Hügels an. Während des ganzen Weges war es ganz still gewesen. Diese vollkommene Stille, in der es nicht einmal das Rauschen von Blättern gab, war wohl das einzige Unheimliche hier. Aber dann, plötzlich, Georg wollte gerade an einem Baum vorbei zum Fuß des Hügels gehen, da hörte er ein vieltausendstimmiges Zwitschern, und gleich darauf stieg hinter dem Hügel eine bunte Wolke auf und breitete sich mit großer Schnelligkeit über diesen ganzen Garten aus. Jetzt war mit einem Male Leben überall, denn diese bunte Wolke hatte aus unzähligen kleinen Vögeln bestanden, die sich auf die Bäume niedergelassen hatten. Dort saßen sie jetzt. Die Kronen der Bäume hatten viele bunte Tupfen, und diese kleinen Flecken schrien und sangen eine seltsame, unabgestimmte, aber doch wieder zusammentönende Melodie.
War dieses Auftauchen der Vögel schon eine Überraschung, bei der Georg Klein stehen geblieben und dann, ohne nachzudenken, hinter einen nahestehenden Baum gelaufen war, so gewahrte er jetzt etwas noch viel Merkwürdigeres. Auf dem Hügel erschienen – Menschen. Zuerst nur einige, in kleinen Gruppen, dann immer mehr. Monströse Tiere, Ungeheuer, auf so etwas war Georg Klein gefasst gewesen. Er wäre erschrocken, gewiss, aber er hätte sich dann gesagt, dass er schließlich in einer völlig unbekannten Welt war. Aber dass er Menschen antreffen würde, unzweifelhaft zweibeinige, aufrecht gehende und miteinander sprechende Menschen, nein, das war nicht zu erwarten gewesen. Flucht? Diese Menschen sahen nicht so aus, als ob sie jemandem Anlass geben würden, vor ihnen die Flucht zu ergreifen. Sie gingen langsam, ein wenig stolzierend, machten gemessene, sparsame Handbewegungen und schienen im Übrigen an nichts anderem als an ihren Gesprächen interessiert. Dennoch war es natürlich unsicher, was diese Menschen tun würden, wenn sie einen Fremden anträfen.
Der unterste Ast des Baumes war nicht allzu hoch, und Georg ergriff ihn, schlang ein Bein um den danebenliegenden Ast und kletterte weiter nach oben. Hier konnte er sicher sein, dass ihn diese Menschen nicht so leicht entdecken würden. Er atmete, um sich zu beruhigen, lief durch und schaute durch eine Lücke im Blattwerk hinunter auf die blaugrüne Ebene und den Hügel. Die ersten kleinen Gruppen waren inzwischen schon ganz nahe herangekommen. Es war abzusehen, dass einige dieser Menschen direkt an dem Baum, auf dem Georg Klein saß, vorbeigehen würden. Jetzt, da sie nähergekommen waren, konnte man ihre Gesichter erkennen. Sie sind alle jung, ungefähr so alt wie ich, dachte Georg. Es gibt keine älteren Männer und Frauen unter ihnen. Das ist seltsam! Aber vielleicht folgen die Älteren später?
Inzwischen kamen keine neuen Menschen mehr über den Hügel, und alle die, die Georg jetzt sehen konnten, waren jung. Das war die eine Merkwürdigkeit. Die andere seltsame Sache: Alle diese jungen Leute trugen weiße Kleider, schneeweiße Kleider sogar, die nur einen Schimmer aus wechselndem Blau aufwiesen, wo der Stoff Falten warf. Diese Kleider waren bei den Jungen und den Mädchen vollkommen gleich geschnitten. Sie waren lang und ziemlich weit, allerdings nicht so weit, dass man nicht hätte erkennen können, dass diese Jungen und Mädchen athletisch und offenbar, trotz ihrer gemessenen Bewegungen, auch sportlich trainiert waren. In Haut- und Haarfarbe glichen sie den verschiedenen Rassen auf der Erde. Es gab dunkle, bläulich schwarze und hellhäutig blonde und dazwischen jeden Ton.
Eine Erklärung dafür, dass es hier, in einer anderen Welt und in einem anderen Kosmos, Menschen gab, die sich in nichts von den Menschen auf der Erde unterschieden, nein, eine Erklärung dafür würde er nicht finden. Das wusste Georg. Jedenfalls so lange nicht, als er nicht mit diesen Menschen selbst sprechen oder sich wenigstens durch Zeichen verständlich machen konnte. Er überlegte, ob er es wagen sollte, den Baum zu verlassen. Diese Jungen und Mädchen sahen wirklich nicht kriegerisch oder gefährlich aus. Aber konnte er sicher sein, dass sie ihn nicht doch angreifen würden, vielleicht sogar mit Mitteln, die es auf der Erde nicht gab?
Er blieb wohl eine halbe Stunde auf dem Baum. Den Entschluss, herabzusteigen, fasste er erst, als sich eine Gruppe direkt unter dem Baum gelagert hatte. Er hörte ihrer Sprache zu. Wenn diese Jungen und Mädchen sprachen, dann war es einem weichen Singen nicht unähnlich. Viele »u« und »o« kamen in dieser Sprache vor. Und viele Pausen. Manchmal schwieg die ganze Gruppe einige Minuten lang, und dann lachten alle wie auf ein geheimes Kommando. Dieses Lachen war es, das Georg bewog, von dem Baum herabzusteigen. Es klang wirklich sehr freundlich, und je länger er dem Lachen dieser Menschen zuhörte, desto stärker wurde in ihm die Sehnsucht, bei ihnen zu sitzen. Und außerdem konnte er ja nicht den ganzen Tag über auf diesem Baum bleiben. Wenn sie ihn entdeckten – es war auf jeden Fall besser, wenn er aus eigenem Entschluss auf sie zuging.
Georg bemühte sich, die unter dem Baum Sitzenden nicht zu erschrecken. Er machte also absichtlich Geräusche, um sie zuerst auf sich aufmerksam zu machen. Dann wollte er wie selbstverständlich von dem Baum heruntersteigen. Zu seiner Verwunderung achtete niemand auf die Zeichen, die er gab. Selbst als er laut hustete und sich vernehmlich räusperte, sah niemand zu ihm hinauf. So stieg er denn herunter, ohne sie vorher von seiner Anwesenheit in Kenntnis gesetzt zu haben.
Nun allerdings wurde Georgs Überraschung vollkommen. Er ging langsam auf die Gruppe zu. Die, die ihm das Gesicht zuwandten, konnten ihn jetzt sehen, sie mussten ihn einfach sehen. Aber – sie zeigten keinerlei Reaktion. Sie standen nicht auf, machten die, die ihm den Rücken zuwandten, nicht auf ihn aufmerksam, ja sie folgten ihm nicht einmal mit ihren Blicken. Sie schauten für einige Augenblicke geradewegs in die Richtung, in der er sich befand, aber sie unterbrachen das Gespräch nicht, sondern sahen nach kurzer Zeit wieder jemanden aus der Gruppe an. So als ob er gar nicht existierte.
Sind sie vielleicht gar nicht wirklich da, fragte sich Georg. Vielleicht bilde ich mir das, was ich hier sehe, nur ein? Aber er stand doch jetzt nur noch ein bis zwei Meter von einem Mädchen aus der Gruppe entfernt, und er konnte sie ganz genau sehen. Er konnte sie ansprechen. Er verstand ihre Sprache nicht, gut, aber sie mussten seine Stimme hören!
»Guten Tag«, sagte Georg, »ich heiße Georg Klein.«
Er wollte, wenn sie ihm den Kopf zuwandten, einfach weitersprechen und erzählen, dass er mit seiner Chronobox hierher gekommen war. Er zweifelte nicht, dass sie ihn, da er doch nun mit einer deutlich hörbaren Stimme sprach, sogleich ansehen würden. Aber nichts