Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig

Mein Sonntag in Münster - Werner Zillig


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wohnen, einfach dazu benutzen, um ein Kind zu zeugen? Und sei es auch ein Mädchen. Wir stellen uns dem Auftrag entgegen. Es ist unmöglich, das Gerät ist nicht abschaltbar, seine Sicherheit ist die Gewähr der Fortpflanzung. Wir haben den Trieb, Kinder zu zeugen, er kommt auf uns zu, der Auftrag! Warum keinen anderen? Blutschänderische Fantasie – warum nicht Gulo? Aber wir können uns von Seno nicht mehr entfernen, und der Auftrag ist stärker als wir.

      Wir öffnen die Augen. Die Männer stehen in einem schwachen Frösteln da. Nur Seno, Seno liegt am Boden, geschüttelt vom Fieber unserer gemeinsamen Anstrengung, ihn zu verlassen. Wir starren ihn mit allen unseren Augen an und sehen, dass er uns ansieht. Es ist Bewusstsein in ihm. Er lächelt. Was weiß – weiß er alles? Ja, er sieht uns und lächelt uns zu. Wir spüren seine Dankbarkeit. Er ist dankbar, dass wir den Versuch machen, ihn zu verlassen und das Wunder seiner Fantasie zu bewahren. Doch wir vermögen nicht länger der Lavamasse des Auftrags zu entgehen. Derjenige, in dessen Geist wir sind, wird für Siria bestimmt sein. Wir sind in Senos Seele, er hält uns fest. Er ist der Erwählte. Was bleibt uns nach diesem letzten Versuch, uns gegen den Auftrag aufzulehnen?

      Unser Widerstand ist gebrochen. Wir haben Seno bestimmt, und die Zeremonie wird ihren festgelegten Fortgang nehmen. Wir folgen dem Körper von Siria. Die Männer mit Ausnahme von Seno erhalten von den Zeremoniengeräten den Befehl, sich zurückzuziehen. Sie begeben sich in den größeren Raum, aus dem sie zu Beginn der Zeremonie gekommen sind. Sirias Körper steht auf. Wir stehen auf. Seno kniet nieder und wir treten auf ihn zu. Zweimal zwei unserer Hände lösen sein Gewand und zwei andere Hände lösen das Gewand von Sirias Körper. Noch immer sehen wir die Stadt in Senos Seele. Viele andere Landschaften. Rot glühende, herbstliche Urwälder. Sternenräume aus Unendlichkeit. Doch nun, da wir den Widerstand aufgegeben haben, können wir all das staunend und mit großer Freude sehen. Wir treten auf Seno zu. Er liegt nun auf dem Rücken und erwartet unseren Kuss, unseren erlösenden Kuss. Seine Augen sind ein wenig starr, und er lächelt, als wir uns über ihn beugen. Er öffnet den Mund und heißt uns willkommen. Er ist ganz bereit für uns, wartet auf unsere schnellen, erfahrenen Bewegungen. Wir spüren ihn, riechen seinen Körper, der noch nach dem Öl des Vorbereitungsbades duftet. Wir hätten es ahnen können, dass dieser Duft nicht von einem Mann gemischt ist. Wie war es möglich, dass Frauen nicht auf diese naheliegenden Gedanken gekommen sind. Er hat sich vor uns verborgen, wie sich Wunder eben zu verbergen pflegen.

      Unsere brennende Hoffnung, unsere Erwartung des Kindes überfällt uns vollkommen. Und da unsere Lust und unsere Freude sich mit Senos Gier mischen, da erkennen wir mit einem Mal: Wir bevölkern mit vielen anderen Frauen Senos Geist. Wir sehen uns. Nackt und mit vor Lust verzerrten Gesichtern entspringen wir seinen Gedanken. Dort an einer Straßenecke sehen wir Misra liegen. Auf dem Rasen eines Parks wälzt sich schreiend Dugua. Siria tanzt mit lüsternen Augen im Licht von hundert hell strahlenden Scheinwerfern. Bea steht bis zu den Hüften in warmem Wasser und zittert in ihrer Anstrengung. Mora liegt an einem weiten Strand, und der helle Sand wärmt ihren Rücken und ihre Beine. Wir alle sind Senos Fantasie und Lust. Er ist in uns. Er lebt von uns und erhält uns am Leben. Dann spüren wir ihn. Wir sehen sein Gesicht, seine Arme, seine Brust. Unser Blick verweilt dort, wo er sich mit Sirias Körper vereinigt. Seine Beine stützen diesen Körper unserer Schwester, der sich langsam auf und nieder bewegt. Dieser Körper gehört uns allen. Das ist die Zeremonie.

      In einem Sekunden einer unbegreiflich langen Zeit währenden Blitz verbrennt dieser erste Teil der Zeremonie: Unser Kind soll wachsen und leben! Unser seufzender, langer Schrei hat ihm den Weg ins Leben gewiesen. Die Geräte instruieren uns, denn unsere Gedanken sind noch leer, und wir wissen nicht, was wir tun sollen. Als wir bemerken, dass wir wieder vereinzeln, haben die kleinen, dunklen Kästen uns bereits vorwärts geschoben.

      Langsam sehe ich diesen schlanken Körper wieder aus meinen eigenen Augen. Als ich um mich blicke, treffen mich Beas Blicke, und ich erschrecke. Sie ist bleich und ihr blutleeres Gesicht steht voll Entsetzen. Sie weiß, dass die Zeremonie nicht aufgehalten wird. Senos Erlösung – wir dürfen sie nicht unterlassen. Wir sind an Seno herangerückt und legen unsere Hände auf seinen Körper. Wir streicheln über ihn hin. In den nächsten Minuten, vielleicht in den nächsten Stunden erst, werden wir ihn erlösen. Ich erinnere mich eines Traums, unseres gemeinsamen Traums. Die Erinnerung ist ebenso dunkel wie die Bilder, die von einem Spaziergang in mir emporsteigen. Seno ist jung. Er wird bald bereit sein für die Erlösung. Mutter beginnt zu singen. Meine Schwestern stimmen ein. Auch ich beginne, zu singen. Unsere weichen Frauenhände tragen Seno davon. Er lächelt. Wie jung er ist. Schon nach wenigen Minuten spürt er die Lust wieder in sich. Die Zeremoniengeräte melden es uns. Er vermag sich seinem erneuten Verlangen nicht entgegenzustellen. Auch darin zeigt sich seine Jugend. Ältere Männer versuchen, die Erlösung hinauszuzögern. Unser Gesang wird lauter. Wir berauschen uns daran, wiegen uns, immerfort Senos Körper berührend, im Takt des Gesangs hin und her. Bald glüht das Gesicht des jungen Mannes vor uns. Doch das ist noch nicht das Ende. Er wird unsere Dankbarkeit spüren, er wird die Lust eines ganzen langen Manneslebens in wenigen Minuten spüren, in die Grenzenlosigkeit zusammengedrängt. Er beginnt leise zu wimmern, dann zu schreien. Es ist, als versuche er, unseren Gesang zu vollenden. Wir singen lauter und übertönen seine leisen Schreie.

      Die Männer bringen uns, von den Geräten zur rechten Zeit dazu aufgefordert, die Watte und das goldene Messer. Das vergoldete Stilett, das zur Erlösungszeremonie bestimmt ist, ist einer Nadel ähnlicher als einem Messer. Gulo trägt es auf einem blauen, mit Samt belegten Tablett. Er überreicht es Siria. Sie hat ihr Kind empfangen, ihr gebührt das Messer. Sie sitzt bereits an der rechten Stelle, links neben Senos Brust. Unser Gesang ist lauter und lauter geworden, und nachdem die Männer sich wieder entfernt haben, wird er zum Hymnus. Seno scheint mit uns zu singen. Es kann nicht mehr lange bis zum Ende sein. Unsere Hände in ihrer Zärtlichkeit und die Geräte werfen ihn höher und höher. Wir wissen, dass er sich dir Erlösung wünscht. Könnte er noch sprechen, so würde er uns anflehen, ihn schnell zu erlösen. Wir sind ihm dankbar und bemühen uns, seinem Wunsch zu entsprechen.

      Alles geschieht rasch jetzt. Unser Gesang wird zum Schreien, unsere schwankenden Körper beschwören in ihrer Ekstase Senos Erlösung. Dann spüren wir das Ende, sehen es zugleich: Siria hebt ihr Messer und stößt zu. Sie trifft Senos Herz mit dem ersten Stich. Das Blut, das aus der winzigen Wunde fließt, fangen wir mit den Wattebäuschen auf. Seno öffnet die Augen und sein Blick dankt uns. Er lächelt. Sein Lächeln werden wir bis zur Geburt des Kindes aufbewahren.

      Wir verbringen die Zeit bis zum Ende der Woche in Gesprächen. Bea fährt, wie es ihr zusteht, am selben Tag ab. Wir küssen unsere kleine Schwester und geben ihr Ratschläge für die Männersuche. Sie sieht dennoch ein wenig traurig aus. Mutter fragt sie, ob sie nicht bei der nächsten Zeremonie ein Kind haben wolle. Bea zuckt mit den Achseln, dann sieht sie uns alle noch einmal an, und wir erkennen, dass sie noch immer traurig ist.

      Am letzten Tag unseres Zusammenseins erreicht uns die Nachricht, dass Bea tot ist. Wir wissen nicht, woran sie gestorben ist. Es ist nicht üblich, danach zu fragen. Wir werden es nie erfahren.

      1978 Das Familientreffen. Aus: Science Fiction Story Reader 10. Hrsg. von Herbert W. Franke. München: Heyne. (Heyne TB 3602). – Unter dem Pseudonym Heinrich Werner.

      

      Ein Mann für Jolanda

      Eugen und Simon stehen nicht weit vom Eingang zur Höhle auf einer kleinen Anhöhe und schauen wie jeden Abend nach Westen. Heute geht die Sonne bei unbedecktem Himmel unter, und das heißt, dass man eine rot verhangene, blasse Scheibe am Horizont sehen kann. Eugen und Simon, so nennt auch die Gruppe diese beiden merkwürdigen Gestalten. Nachnamen gibt es nicht mehr. Sie sind überflüssig geworden, denn die Gruppen sind so klein, dass man alle leicht mit Hilfe von Vornamen unterscheiden kann.

      Nachdem sie eine Weile stumm und ehrfürchtig in die Sonne gestarrt haben, fängt Eugen an zu reden. Er bemüht sich, seine hohe Fistelstimme leise zu halten. Es gelingt ihm nur sehr unvollkommen. Während des Redens gestikuliert er nervös mit seinem linken Arm, der ganz dünn und beinahe ohne alles Fleisch ist. Sein rechter Arm indessen, stark und kräftig und


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