Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig

Mein Sonntag in Münster - Werner Zillig


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jedoch selbstverständlich ist, brauche ich es nicht gesondert zu betonen, und ich spreche deshalb von meinem Bruder Gulo und von meinen Schwestern Bea, Siria und Misra. Während ich meine Arme um Gulo lege, begreife ich plötzlich, warum Dugua immer noch mit Gulo zusammenlebt. Gibt es einen zärtlicheren und zugleich stärkeren Mann als ihn? Er hatte ja, ich muss es aufrichtig sagen, keinerlei Einfluss auf Duguas Entscheidung. Aber ich begreife sie, ja, ja, ich begreife sie. Und in aller Lust bin ich ein wenig stolz, denn ich war seine Lehrerin.

      Am nächsten Morgen sitzen alle anderen schon beim Frühmahl, als ich zusammen mit Gulo das große Zimmer betrete. Ehe ich mich auf die Frauenseite des Tisches begebe, küsst er mich auf die Wange und sagt, dass er mich liebt. Das ist der Morgengruß für mich wie für alle anderen, nichts weiter. Da wir nun vollzählig am Tisch sitzen, beginnt Mutter mit den Erläuterungen zum Ablauf des Vorbereitungstages. Zwar sind die wichtigen Ereignisse von vornherein festgelegt, aber unsere Mutter weiß sehr geschickt die kleinen, unwichtigen und der freien Entscheidung der Mutter überlassenen Möglichkeiten zu nutzen. So ist es selbstverständlich, dass das Vorbereitungsbad getrennt stattfindet. Dugua, meine Schwestern und ich baden vor den Männern. Aber ist es kein wunderbarer Einfall unserer Mutter, dass sie uns bittet, wir möchten den Mann bestimmen, der die Duftöle mischen soll? Natürlich gibt es viele fertig gemischte Öle. Will man das Bad des Vorbereitungstages individueller und kostbarer gestalten, so kann man auch nach einem Verzeichnis der Charakterprotokolle aller Teilnehmer ein eigenes Öl synthetisieren lassen. Viel aufregender aber ist es ohne Zweifel, wenn man einen Mann bestimmen kann, der sich ganz im Vertrauen auf sein Gefühl daranmacht, eine neue Mischung nur für diesen Tag zu erfinden.

      Traditionell beginnt das Frauenbad um die Mittagszeit. In einer längeren Beratung haben wir Seno dazu bestimmt, das Öl zu mischen. In seinem schmalen Gesicht konnte man die unterdrückte Freude sehen, als Bea ihm sagte, dass wir ihn erwählt hätten. Wie sich zeigt, hätten wir keinen Besseren als Seno finden können. Als wir den Baderaum betreten, liegt der Badeteich in einem smaragdfarbenen Grün da und es entströmt ihm ein fremdartiger Duft. Obwohl niemand während des Badens spricht, erkenne ich, dass auch meine Schwestern voller Begeisterung sind. Dugua, die neben mir steht, schließt die Augen und atmet lächelnd in tiefen Zügen ein. Alle lösen jetzt zugleich die Kordeln, die die schwarzen Badeumhänge am Hals zusammenhalten, wir legen einander die Hände auf die Schultern und schreiten mit kleinen Schritten hinab zum Wasser, auf dem in einer dünnen Schicht das dampfende Duftöl liegt. Das Wasser ist sehr heiß. Das Bad des Vorbereitungstages ist immer so heiß, dass es gerade noch ohne Schmerz ertragen werden kann. Senos Öl aber scheint die Hitze noch zu verstärken. Es ist kein Schmerz in dieser Hitze, nur dieser Geruch, der die Blumen eines riesigen Urwalds in diese kleinen Ölflächen zu vereinen scheint. Als wir bis zu den Hüften im Wasser stehen, beginnt aus den Wänden die Musik wie Nebel auf uns herabzusinken. Manchmal staune ich über diese kleine, kunstreiche Vorrichtung der Badezimmer, die aus dem Herzrhythmus und den Bewegungen der Badenden solch eindringliche und harmonische Töne formt. Ich, als die Älteste, habe die Aufgabe, den Tanz zu beginnen. Meine Arme schweben wie ohne mein Zutun von den Schultern Duguas und Misras herab und beschreiben eine weite Bewegung, die darin endet, dass ich die Arme vor der Brust kreuze. Damit löse ich eine Tonfolge des Synharmonicums aus. Wie eine nicht endende, fallende Harfenmelodie kommen immer neue Töne aus den Wänden, brechen sich in den Sensoren zu anderen und immer wieder anderen Arpeggien, die aufsteigen und uns alle im Verein mit dem Duft des Öls zu tragen scheinen. Meine Schwestern und Dugua ahmen meine Tanzfigur nach. Die Musik wird nicht lauter, nur dichter. Es sind mehr und feinere Ober- und Untertöne in der Luft. Und unmerklich nimmt das Synharmonicum, das die Melodie bisher ohne klare Gliederung geformt hat, die Schläge unserer Herzen und die Bewegungen unserer Körper auf und errechnet im selben Augenblick daraus einen aufflammenden, synkopierten Takt. In diesem wunderbaren Kreislauf bewegen wir uns nun. Da wir nach der Melodie, die wir wahrnehmen, in einfachen und zärtlichen Bewegungen tanzen, entwirft das Instrument aus den allerkleinsten Abweichungen unserer Herzschläge und Körperschwankungen eine sich steigernde Symphonie. Es ist ein erhabenes Gefühl, mit dem Tanz der Frauen ein musikalisches Werk von unübertrefflicher Harmonie zu schaffen. Das Synharmonicum ist mit allen Harmonielehren programmiert, die je eines Menschen Geist erfunden und überliefert hat. Walzer, Choräle des Mittelalters und fernöstliche Erkenntnisse der Musikgeschichte haben ihre Regeln gestiftet, um dies möglich zu machen. Viele Versuche waren vonnöten, um das musikalische Empfinden unterschiedlichster Menschen zu prüfen und in miteinander verträgliche Programme umzuschreiben. Fürwahr, die Erfindung dieses Instruments ist die Vollendung der Musik.

      Jetzt höre ich mich tief in die Musik hinein. Es gehört eine lange Übung dazu, will man aus all den sich überlagernden und umherschweifenden Tönen sich selbst heraushören. Ich habe dieses Heraushören lange geübt und kann, wenn ich mich im Tanz nur genügend konzentriere, auch die Herzschläge und Bewegungen der anderen unterscheiden. Ich durchstreife die Musik, die einem Labyrinth aus unzähligen Tönen gleicht, und bin auf der Suche nach meinem Herzschlag. Hinter einem Bündel hoher, singender Töne finde ich ihn und gleich daneben auch Misras Herz. Woher weiß ich, dass es Misras Herz ist? Das weiß ich nicht mehr, es ist einfach Gewissheit in mir, eine Art Instinkt und musikalisches Gefühl.

      Während wir tanzen, steigen wir tiefer in den Badeteich hinein. Das Wasser umspielt meine Brüste und macht sie leicht. Meine Hände, die unter der Wasseroberfläche Beas Rücken ertasten, werden wie die der anderen durch den Widerstand des Wassers in ihren Bewegungen verlangsamt. So sinkt die Gewalt der Musik ein wenig zurück, gleicht einem trägen und breiten Strom jetzt. Siria schreitet quer durch den Teich auf mich zu und ergreift meine Hände. Ihr Gesicht leuchtet, und ihre Augen sind weit geöffnet, so, als habe sie mich niemals zuvor gesehen und doch schon immer gekannt. Sie wird mich waschen. Die Waschung des Vorbereitungstages ist ein altes Symbol. Vom Gesicht an beginnend, streicht Siria über meinen Oberkörper hin, geht um mich herum und lässt ihre Hände auf meinem Rücken liegen. Damit bin ich rein und vorbereitet. Nachdem ich Siria ebenfalls gewaschen habe und weil die anderen unserem Beispiel inzwischen gefolgt sind, ist die pflichtgemäße Übung des Frauenbades erfüllt. Nun können wir frei und ungezwungen das Bad genießen. Im Allgemeinen ist es so, dass alle durch den Tanz versuchen, jemanden aufzufinden, der die Tanzmeisterin spielt. Alle wollen dann den Bewegungen der Tanzmeisterin folgen, wodurch sich erfahrungsgemäß eine sehr komische Melodie ergibt, die in ein immer schnelleres und hemmungsloseres Tanzen führt. Heute jedoch brauchen wir keine Tanzmeisterin zu suchen. Bea ist zum ersten Mal mit uns allen zusammen in einem Vorbereitungsbad, so ist es selbstverständlich, dass wir sie zur Meisterin bestimmen. Ohne dass es eines Wortes bedürfte, ahmen wir Beas Schritte und Tanzfiguren nach. Sie lächelt ein wenig und ist sich der kleinen Ehre, die wir ihr erweisen, durchaus bewusst. Wie könnte man seinen Schwestern besser zeigen, dass man eine wirkliche Frau geworden ist! Beas Jugend fließt über in das Zucken ihrer Beine, in das Zittern ihres Bauches und ihres Halses. Wir lachen und folgen ihr, nicht ohne durch unser langsames Tanzen ihr die Bestätigung zu geben, dass sie in ihrer ganzen Jugend frischer und zu größerer Lust fähig ist als wir.

      Die Musik steigt wieder zu größerer Dichte auf. Der Duft des Öls wird betäubend. Bea hat, die Lungen voller schwerer Luft, einige Schritte auf die Mitte des Badeteiches zugemacht, und wir sind ihr gefolgt. So stehen wir nun unter Wasser, öffnen die Augen und spüren die Musik, die unter der Wasseroberfläche noch intensiver zu vernehmen ist. Es ist nicht leicht, Beas Tanz zu folgen, denn hier ist ihr zierlicher Körper biegsam wie der Rücken eines Fisches. Wer wird zuerst auftauchen müssen? In dem unschuldigen Spiel bin ich die Verliererin. Lachend springe ich empor, die anderen folgen mir. Bea taucht als Letzte auf, glücklich, das Spiel gewonnen zu haben. Sie ist jung, und sie ist eine Frau, was kann es Schöneres geben, als zum ersten Mal mit den Schwestern im Vorbereitungsbad zu stehen? Wir tanzen weiter. Der Duft des Öls stimmt uns in einen Rausch ein, dem wir nicht mehr entkommen. Das Synharmonicum, das empfindlich genug ist, auch die leiseste Stimmungsänderung wahrzunehmen, wandelt die Symphonie in ein überschäumendes Finale. Ich schlage auf das Wasser, das emporspritzt und meine Haut mit feinsten Tröpfchen Öl bedeckt. Mein Schlag wird zum Auftakt eines wuchtigen, von Paukenwirbeln beherrschten Satzes, in dessen vibrierenden, schüttelnden Stakkatos sich meine Schwestern und Dugua ekstatisch umarmen. Es ist die schönste Einstimmung für den Familientag. Selbst wenn wir uns nicht nach fünf, sondern erst nach zehn Jahren wiedergesehen hätten, so


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