Mein Sonntag in Münster. Werner Zillig
befestigen die Sensoren mit leichtem Druck unterhalb des Haaransatzes. Dann werden die Stirnbänder darübergebunden. Wir setzen uns im Kreis auf den Teppich des Wohnraums nieder und bemühen uns, wie es für den ersten Abstimmungsvorgang notwendig ist, leichte und angenehme Gedanken zu denken. Ich erinnere mich an den Spaziergang mit Seno, an seine schönen, schmalen Schultern und seine zarten Hände. Bei Familienzeremonien liegen die Entscheidungen an zwei Stellen konzentriert: bei der Mutter, die die zentrale Abstimmung aller Geräte vornimmt, und bei den drei dunklen Kästchen, in denen das Empfinden der Familienmitglieder registriert und in neue Empfindungen umgeschrieben wird.
Nur Siria möchte während dieser Zeremonie ein Kind empfangen. Dadurch wird der erste Teil der Zeremonie kurz sein. Die Erlösungszeremonie wird unabhängig davon nur von uns und dem Erlösten abhängen. Während der Familienzeremonie vor fünf Jahren, als sowohl ich wie auch Misra Kinder empfingen, dauerte die Erlösung bis tief in die Nacht. Obwohl es bereits die zweite Zeremonie war, die ich mitmachte, war der Eindruck unbeschreibbar tief.
Nachdem die Zeremoniengeräte abgestimmt sind, gibt Mutter an die Frauen die letzte Tasse des Kräuterweins aus, in der sie die Droge aufgelöst hat, die zum Vollzug der Zeremonie einstimmt. Die Männer halten nacheinander ihre rechte Hand in die Drogengeber. Dann ziehen wir uns alle zurück. Für jede Frau ist ein einzelnes Zimmer bestimmt, die Männer gehen zusammen in einen etwas größeren Raum.
Ich setze mich nieder und spüre die Wirkung der Droge. Erwartung und Ruhe, so könnte man die beiden Gefühle bezeichnen, die durch die Droge aufgebaut werden. Ich fühle deutlich die leichte Erwärmung meiner Beine. Die Einstimmung dauert lange, misst man sie mit den Uhren der gewöhnlichen Tage. Doch die Zeit zieht sich für den, der auf die Familienzeremonie wartet, aus dem Bewusstsein zurück. Erinnerungen werden zu kleinen Einstichen in einem riesigen schwarzen Raum der Zeitlosigkeit. Die Gegenwart verschwindet, löst sich auf und gesellt sich zu den anderen Bildern des Gehirns. Wo habe ich die alte Frau gesehen, ihre zerfurchte Haut? In einem Buch, einem alten illustrierten Buch. Ich beschäftige mich lange mit den Falten, die um den Mund der Frau herum sich zusammenziehen. Ich möchte sie ansprechen, möchte sie fragen, wann sie gelebt hat. Was war das wichtigste Ereignis ihres Lebens. Fast glaube ich schon, dass sie mir antworten wird. Ehe dieser alte Frauenmund sich jedoch öffnen kann, wird die Tür zu meinem Zimmer aufgeschoben. Mutter tritt ein, nimmt mich bei der Hand und führt mich in den großen Wohnraum, wo ich mich auf den Boden setze. Dann holt sie nacheinander Misra, Siria und Bea, die sich in einem weiten Kreis neben mich setzen. Wir lächeln uns aus trüben, hellsichtigen Augen an und versinken dann in unseren Bildern.
Mutter öffnet die Tür des Raumes, in dem sich die Männer befinden. Diese gehen in die Mitte unseres Kreises und bleiben dort stehen, während Mutter sich auf einen Stuhl neben die Zeremoniengeräte setzt. Sie thront dort. Unsere Mutter ist die Königin der Zeremonie, ihr gebührt ein Thron. Ich sehe zu ihr auf. Um den Stuhl ranken sich goldene Schlingpflanzen, die sich nun straffen und den Thron erheben. Dann das Licht – sie ist in ein blendendes Licht getaucht. Auch meine Schwestern sehen zu unserer Mutter hin, denn nun wird sie die Zeremonie in Gang setzen. Sie beginnt langsam, leise zu singen. Und diesen kaum vernehmlichen Gesang hört das Zeremoniengerät, mit dem wir alle verbunden sind. Es schaltet sich selbstständig ein. Nun hören wir uns alle, alle Frauen spüren sich. Mutter hat die Augen geschlossen und singt lächelnd weiter. Das Lied erfasst uns, wir stimmen ein in den großen, so überaus harmonischen Ton. Wir alle werden nun zusammen sein, und wir werden zusammen entscheiden. Wir werden den Vater von Sirias Kind bestimmen. Wir werden den ersten Augenblick des neuen Lebens begleiten und werden in allen Zufällen sein, auch in jenem wichtigsten Zufall. Wir werden den Sohn dankbar begrüßen und werden jubeln, wenn eine Tochter dieser Zeremonie entspringt.
Die Zeremoniengeräte sind vollkommene und objektive Berater. Nicht sie bestimmen, wir, die Frauen vereinen uns in ihnen und planen alles. Ich fühle, wie ich mich mit Bea, Siria und Misra vereinige. Dugua, die nicht zu unserer Familie gehört, bestimmt die Zeremonie nicht mit, doch ist sie ebenfalls mit uns verbunden, sie kann unsere gemeinsamen Gefühle in sich wahrnehmen. Auch ihre Augen leuchten.
Ich habe mir vor dem Beginn der Zeremonie keinen Gedanken darüber gemacht, wen wir gemeinsam zum Vater für Sirias Kind erwählen werden. Gulo wird als unser Bruder von den Zeremoniengeräten ausgeschaltet und dringt nicht in unser Bewusstsein ein. Alle anderen werden wir prüfen. Die Auswahl ist nicht vorhersehbar, doch habe ich Seno ausgeschlossen. Er ist sehr jung, und es kommt ganz selten vor, dass ein Mann, der noch nicht zwanzig Jahre all ist, bei der Zeremonie zum Vater bestimmt wird. Seno also nicht. Doch die anderen. Wer sind die anderen Männer? Sie stehen noch immer in der Mitte. Nun, da wir uns in ihr Bewusstsein einschalten, bewegen sie sich leicht, so als fröstelten sie in einem kalten Abendwind am Meer. Doch sie frieren nicht, die Schauder auf ihrer Haut entspringen dem Gefühl der Lust. Um zu verhindern, dass sie ihre Gedanken und Erinnerungen, überhaupt ihre Körper wie ihr Bewusstsein vor unseren forschenden Blicken verbergen können, stimuliert das Zeremoniengerät in ihnen fortwährend eine Woge von Lust. Kein Mensch kann, wenn er dieses Gefühl verspürt, seinen Körper oder seinen Geist vor einem anderen verbergen. Dazu gehörten Konzentration und Anspannung. Beides wird durch die Angstgefühle hinweggespült. So sind die Männer wie Kinder wieder, die ins Spielen versunken sind und nicht bemerken, dass die Augen der Erwachsenen ihnen zusehen.
Doch zuerst müssen die Frauen sich zusammenfinden. Wir kreiden lange um die Gedanken unserer Mutter. Wie Rauch über dem Feuer suchen wir unseren Ursprung zu ergründen, um in ihm zu einem Geist zu werden. Plötzlich, in einem Blitz, sehe ich mich selbst. Ich öffne die Augen: Meine Mutter schaut mich an. Ich habe sie gefunden, ich sehe durch ihre Augen auf mich selbst. Dann sehe ich sie aus einem leicht veränderten Blickwinkel – Misra! So sieht Misra unsere Mutter. Und wieder verändert – Siria, dann die Augen und der Geist Beas. Nun müssen wir zusammengehen. Es ist wie ein Schreiten, jede Schwester geht auf jede ihrer Schwestern zu. In unser aller Mittelpunkt aber wartet still und mit weisem Lächeln unsere Mutter auf uns. Es geht schnell, ich spüre viele Gefühle in mir. Viele spüren mich. Wir spüren uns. Nun sind wir zusammen, ohne Geheimnis, ohne Arglist. Es ist Liebe. Liebe! Wir sind eine Familie, wir sind der Geist einer Familie und wir wollen, dass diese Familie weiter wächst. Wir wollen ein Kind.
Die Männer frieren stärker, als wir gemeinsam auf sie zugehen. Sie bemerken uns nicht, und wir treten bei allen zugleich ein. Frano zugleich neben dem blonden jungen Mann. Wie verschieden ihre Seelen sind! Und die anderen. Am Ende aber immer wieder und immer stärker. Seno. Seine Jugend? Nein, er ist nicht jung, er trägt die Last und die Erfahrung eines langen Lebens in sich. Er ist ein alter Mann und voll der Weisheit eines alten Mannes. Aber er ist kräftig und jung, er ist Jugend und Alter zugleich. Wir sind verwirrt, denn wir verstehen Seno nicht. Wir sind nicht in einen Mann eingedrungen, sondern stehen in einer Stadt voller Menschen. Frauen, ja auch Frauen sind darunter. Es ist ein Wunder, das uns Angst macht. Die Seelen der anderen haben wir vergessen, sie streifen uns wie leichte Schleier im Wind, und wir achten nicht mehr auf sie. Vor uns liegt, verborgen in einem einzigen Menschen, eine große Stadt voller Menschen. Wir werden nie verstehen können, dass es möglich ist, als ein Mensch eine Stadt in sich zu verbergen. Deshalb also war uns Seno Mann und Frau zugleich! Hinter der zufälligen Gestalt des jungen Mannes gibt es keinen einzelnen Geist, es gibt Tausende einzelner Geister. Fantasie – kann hinter diesem alltäglichen Wort das stehen? Aber dies ist Wirklichkeit!
Wir bemerken, dass wir nicht mehr fähig sind, uns von Senos Bewusstsein zu trennen. Wenn man ein Wunder sieht, wie kann man da zum Gewöhnlichen zurück? Wir starren Seno an, vieläugige Frau. Dann kommt der Auftrag auf uns zu. Wollen wir diesen Auftrag noch hören? Gewiss, bis heute war es unauslöschlich sicher, dass Frauen Kinder empfangen. Es war sicher, dass wir dazu zusammengekommen sind, um einen Vater für Sirias Kind zu bestimmen. Aber nun stehen wir vor einem Wunder, das wir nicht begreifen können. Soll Seno der Vater dieses Kindes sein? Seine Erlösung – das Wort kracht in unser Denken. Wir wollen kein Kind, nein, kein Kind mit Seno! Doch der Auftrag fließt wie siedender Honig aus den Zeremoniengeräten. Er treibt uns vor sich her. Sein süßer Geruch steigt heiß in unsere Nasen: Wenn wir dem Auftrag, den wir den Geräten selbst gegeben haben, nicht nachkommen, wird uns diese klebrige Substanz überfluten, unsere Gehirne werden ineinander verklebt bleiben. Die gewaltsame Trennung brächte uns allen den Wahnsinn.