DARK ISLAND. Matt James
Platz, direkt neben der Tür. So konnte niemand vor ihr sitzen und sie würde beim Fahren nach links und rechts hinausschauen können, was ihr gut gefiel. Mack wusste, dass sie ein großes Privileg genoss, so häufig die Welt bereisen zu können, wie sie es tat; nicht zuletzt deshalb wollte sie nach Möglichkeit nichts verpassen.
Allein mit ihrem Rucksack und ihrem Kaffee atmete Mack tief durch und machte sich an die Arbeit. Ein weiterer Pluspunkt war, dass die Armlehne an ihrem Sitz über einen Getränkehalter verfügte, wie sie erfreut feststellte. Willkommen daheim, dachte sie und platzierte ihren Becher in der Halterung.
Sie holte ihr iPad hervor und öffnete jede Datei, die sie über das Thema ihrer Expedition besaß. Die Files reichten von lokaler Folklore über paläontologische und ornithologische Entdeckungen im Nationalpark bis hin zu einer Liste mit Kontaktpersonen und potenziellen Interviewpartnern, unter denen sich auch ein gewisser Ian Robert Hunt befand, gebürtig aus Lavonia, Michigan, USA.
Der Ex-SEAL-Soldat hatte sich seinerzeit nach einem Angriff durch einen Kameraden aus seiner eigenen Einheit, der durch alle Medien ging, zur Ruhe gesetzt. Mack musste nicht eigens Nachforschungen darüber anstellen, was damals passiert war; sie erinnerte sich daran, von der Sache gehört zu haben, als sie noch jünger gewesen war. Nach dem Vorfall war Ian so eine Art kleine Berühmtheit gewesen. Die Medien verfolgten seine wundersame Genesung, bis er eines Tages – Wusch! – plötzlich von der Bildfläche verschwand. Danach war er wie vom Erdboden verschluckt. Objektiv betrachtet war er arbeitslos gewesen, seit er aus dem Militärdienst ausgeschieden war. In Wahrheit jedoch war er zusammen mit seiner Frau um die Welt gereist. Es gab mehrere Fotos, auf denen Ian im Hintergrund stand.
Als Mack eine Porträtaufnahme von Mrs. Hunt öffnete, konnte sie nicht umhin, zuzugeben, dass Ian ein echter Glückspilz war. Seine Frau war eine echte Schönheit gewesen.
Ian …
Sie hatte den Planeten schon etliche Male umrundet und war dabei allen möglichen Arten von »Glücksrittern« begegnet. Ian Hunt entsprach dem Klischee dieser Typen bis aufs i-Tüpfelchen. Denn auch wenn sie keinerlei handfeste Belege dafür hatte, dass diese Annahme zutraf, hatte Mack gelernt, auf ihre Instinkte zu vertrauen. Und in diesem Moment sagte ihr Instinkt, dass mehr an Ian dran war, als auf den ersten Blick ersichtlich. Er war ein sehr gefährlicher Mann.
Besonders seit ihrem Tod …
Ian war schon vor Abigails Hinscheiden mit dem Geschäft der Gefahr vertraut gewesen, und daran hatte sich seitdem nichts geändert; im Gegenteil.
Mack rief eine andere Datei auf und las erneut den Polizeibericht, der auf das Frühjahr vor sieben Jahren datiert war. Darin wurden die Umstände von Abigail Hunts Tod grausam detailliert beschrieben.
Damals war Ian blutbesudelt den Berg heruntergetorkelt gekommen. Einiges von diesem Blut war sein eigenes, aber nicht alles. Er hatte lauthals um Hilfe geschrien und von einem Teufel schwadroniert, der oben auf dem Gebirgszug lauern würde. Er hatte behauptet, der Berg hätte ihn und seine Frau verschluckt. Dann sei Abigail von irgendetwas umgebracht worden.
Mack war überrascht, dass seinerzeit überhaupt jemand das verheerende Erdbeben überlebt hatte. Sämtliche internationalen Medien hatten darüber berichtet. Damals waren Hunderte Menschen ums Leben gekommen. Der Umstand, dass Ian und seine Frau sich im Epizentrum des Bebens befunden hatten, als es passierte, und einer von ihnen diese Nacht tatsächlich überlebt hatte, war allein für sich genommen schon verblüffend.
Der psychisch mitgenommene, brabbelnde Mann wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet und in Gewahrsam genommen, bis die Behörden weitere Nachforschungen anstellen und der Angelegenheit ordnungsgemäß auf den Grund gehen konnten. In Zusammenarbeit mit der örtlichen Polizei ging die Madagascar National Parks Association Ians Behauptungen nach. Die Beweise, auf die man dabei stieß, bestätigten, dass es tatsächlich einen Mord gegeben hatte. Und als man Ian Hunts ebenfalls blutbespritzte Schrotflinte entdeckte, wurde Ian für ihren Tod für schuldig befunden, anstatt irgendein übernatürliches Wesen.
Dieser Bursche hat schwere Zeiten durchgemacht, das ist mal sicher, dachte Mack stirnrunzelnd.
Ian verbrachte acht Jahre im Gefängnis, ehe er schließlich freigelassen wurde. Als im selben Gebiet, in dem Abigail verschwunden war, ein weiterer Todesfall passierte, erkannten die Behörden, dass sie ihn zu Unrecht beschuldigt hatten. Im Gegensatz zu der Sache mit Abigail fand man diesmal allerdings menschliche Überreste – oder zumindest Stücke davon.
Dank eines Kontaktmanns bei der südafrikanischen Regierung konnte Mack in Erfahrung bringen, dass Ian anschließend auf Madagaskar geblieben war, anstatt nach Johannesburg zurückzukehren, wo er offiziell wohnte. Sie vermutete, dass er auf eigene Faust Nachforschungen anstellen wollte. Zwar hatte die Polizei Mrs. Hunts Akte tatsächlich noch einmal geöffnet, doch bislang ohne irgendwelche konkreten Ergebnisse.
Nachdem sie sich noch ein bisschen eingehender mit Ian beschäftigt hatte, rief sie die Datei auf, in der es darum ging, was seine Frau getötet haben könnte.
Da war zunächst die relativ verbreitete Sage über ein einheimisches Mythengeschöpf, den Kalanaro. Angeblich ähnelten diese Geschöpfe kleinwüchsigen Menschen und waren mit kurzem, krausem Haar bedeckt. Außerdem besaßen sie ein Paar fieser Klauen. Irgendwie fühlte Mack sich an die Monster aus dem Film Gremlins erinnert, bloß mit Fell und ohne diese furchteinflößende Reaktion auf Wasser oder Sonnenlicht.
Diese gremlinartigen Kreaturen lebten vorgeblich in Höhlen und an anderen dunklen Orten. Deshalb zogen sie den Schutz der Nacht auch der intensiven afrikanischen Sonne vor. Das passte zum Zeitpunkt und zum Ort des Angriffs: bei Nacht und in der Nähe einer Reihe von Höhleneingängen.
Sie überflog die Seite und entdeckte ein Bild von Ian, das unmittelbar nach dem Vorfall aufgenommen worden war. Er sah schlimm aus, über und über mit Blut beschmiert. In diesem Blut zeichneten sich drei lange Wunden ab, wie von einem Messer. Sie begannen hinter seinem Ohr und endeten nur Zentimeter über seinem Auge. Sofern es die Kalanaro tatsächlich gab, passten die Verletzungen zu ihren mutmaßlichen Klauen.
Mack dachte bei sich: Jedenfalls, wenn sie nicht nur sechzig Zentimeter groß gewesen wären … Sie hegte große Zweifel, dass ein sechzig Zentimeter großer Affenmensch diesem Kerl ernsthaft gefährlich werden konnte. Den Kopf schüttelnd ob dieses lächerlichen Gedankens, setzte sie ihre Recherchen fort.
Der Nächste auf der Liste der potenziellen Angreifer war der gar nicht so mythische Fossa. Dieses seltene, nur schwer zu fassende Raubtier hatte die Größe eines kleinen Pumas, wog ausgewachsen gute zehn Kilo und hatte mörderische Krallen. In gewisser Weise hatte der Fossa Ähnlichkeit mit einem übergroßen Mungo, und so wie neunzig Prozent der übrigen Pflanzen- und Tierarten, die man hier fand, gab es ihn ausschließlich in diesem Land. Die Flora und Fauna Madagaskars konnte sich über Generationen vollkommen ungestört vom Rest der Welt entwickeln, was ein wahrhaft einzigartiges Ökosystem hervorgebracht hatte.
Aber könnte ein Fossa das Gesicht eines SEALs so verunstalten?
Mack bezweifelte es. Abgesehen davon waren die Pfoten dieses Tieres viel zu klein, um die Art von Wunden zu verursachen, die Ian Hunt zugefügt worden waren – und das offenbar mit einem einzigen Prankenhieb. Darauf deuteten jedenfalls die Beweise hin. Es hatte ihn nur ein einziges Mal erwischt, aus derselben Richtung, nicht mehrmals aus verschiedenen Winkeln. Sie stellte sich den Fossa als übergroße, übereifrige Hauskatze vor, die mit einem Gestöber kurzer, schneller Schläge ihren Kratzbaum bearbeitete.
Aber was war es dann?
Sie beschloss, alle Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, und öffnete einen Ordner, der die absonderlichste aller möglichen Erklärungen enthielt. In diesen Dokumenten ging es um eine Kreatur, die in Mythen und Legenden überall auf der Welt vorkam – insbesondere bei denen der Kulturen rings um den Indischen Ozean. Tatsächlich kannte man den Roch in jedem Land, von Indien bis nach Madagaskar. In gewisser Weise war der Roch die Mutter aller Fabelwesen.
Dieser riesige Raubvogel wurde nicht zuletzt durch den Film Sindbads