DARK ISLAND. Matt James
Der Roch tauchte überall in der Mythologie des Mittleren Ostens auf und fand sogar in einem von Marco Polos gefeierten Abenteuern Erwähnung.
Sie griff in ihren Rucksack und holte den Ausdruck des Skeletts hervor, das man vor acht Jahren neben der Felswand gefunden hatte. War es möglich, dass dies die sterblichen Überreste der Kreatur waren, die hinter den Roch-Legenden steckte? Das Ding war um einiges größer als alle anderen Rahonavis-Spezies, die je auf Madagaskar entdeckt worden waren, soviel war gewiss.
Mack, die einiges über Dino-Vögel wie diesen wusste, schüttelte unwillkürlich den Kopf. Zum einen konnten diese »Vögel« nicht wirklich fliegen – gleiten vielleicht, aber nicht richtig fliegen. Zweitens war der Roch angeblich riesig. Und um für einen bewaffneten, kampferprobten Veteranen eine ernsthafte Bedrohung darzustellen, musste ein Vogel schon von beträchtlicher Größe sein.
Allerdings wäre eine Kreatur von den Ausmaßen eines Pterodaktylus schon längst entdeckt und gemeldet worden. Nein, was auch immer Ian angegriffen hatte, war etwas Neues – entweder das, oder es war sehr alt, längst begraben und vergessen.
»Trotzdem …«
Die Frau, die auf der anderen Seite des Mittelgangs saß, sah sie an, als sie Mack Selbstgespräche führen hörte. Mack lächelte bloß und drehte das Foto um, weg von den neugierigen Blicken der Dame.
Außerdem hätte in diesem Fall jemand einen Kadaver finden müssen.
Mack kniff die Augen zusammen, gähnte und beschloss ein Päuschen zu machen. Sie verstaute das Foto und ihr iPad wieder in ihrem Rucksack. Dann setzte sie sich eine Pilotensonnenbrille auf und machte es sich so bequem, wie ihre Größe es zuließ. Leider ließ sich ihr Sitz nicht nach hinten lehnen. Darum stütze sie stattdessen ihren Rucksack auf ihre Schulter und klemmte ihn zwischen ihren Kopf und das Fenster, um ihn als provisorisches Kissen zu benutzen. Wenn sie draußen im Feldeinsatz war, so wie jetzt, machte sie das ziemlich häufig.
Mit geschlossenen Augen ging sie noch einmal alles durch, was sie bislang wusste oder zu wissen glaubte.
Ihr Vater hatte die Hypothese aufgestellt, dass im Herzen von Madagaskar irgendeine altertümliche Bestie lebte. Sie vermied es, das Ding als das zu bezeichnen, was es war: ein Dinosaurier. Und meistens lag ihr Dad mit seinen Annahmen richtig. So, wie sie gelernt hatte, ihren eigenen Instinkten zu vertrauen, hatte sie gelernt, sich in solchen Dingen auf die ihres Vaters zu verlassen.
Dass man Ian Hunt erst verhaftet und dann wegen eines ähnlichen Todesfalls acht Jahre später entlastet und wieder freigelassen hatte, erhöhte die Glaubwürdigkeit der Tatsache, dass da draußen wirklich »irgendetwas« war. Bekanntermaßen lebten auf dem Berg nicht allzu viele Raubtiere, die willens und in der Lage gewesen wären, Menschen zu töten. Vermutlich war der Fossa davon noch das gefährlichste, doch sie bezweifelte ernsthaft, dass dieses Tier imstande gewesen wäre, einem Mann mit Ians Hintergrund so schwer zu verletzen, ganz zu schweigen davon, dass der Fossa es geschafft hätte, seine Frau zu töten und wegzuzerren. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass eine zehn Kilo schwere Wildkatze einen erwachsenen Menschen hinter sich herziehen konnte.
Das Foto des Dino-Vogels war weniger als ein Jahr vor dem Tod von Mrs. Hunt aufgenommen worden. Gab es eine Verbindung zwischen dem plötzlichen Auftauchen des Bildes und dem Abstecher der Hunts auf den Berg?
Dann war da noch die Zunahme der seismischen Aktivitäten in dem Gebiet, insbesondere in jener Nacht, in der Ian und Abigail dort gewesen waren.
Als ihre Hand zufällig den Deckel ihres Kaffeebechers streifte, stieß Mack ein missbilligendes Seufzen aus. Mit einem Stöhnen wurde ihr bewusst, dass der Becher noch immer halb voll war. Wenn es eine Sache auf der Welt gab, von der Mack es hasste, sie zu vergeuden, dann war es Kaffee, und −
Bevor sie sich für diese Verschwendung noch mehr schelten konnte, war sie bereits eingeschlafen.
Kapitel 3
Fossas Fänge Ambalavao, Madagaskar
Er saß an seinem Lieblingsplatz in der ganzen Stadt, in der Ecknische von Fossas Fänge, seiner Stammkneipe, in der er ziemlich häufig zu Gast war. Innerhalb der Mauern der Bar waren unzählige Deals abgeschlossen und mindestens ebenso viele wieder gebrochen worden, woran Ian Hunt in den letzten paar Jahren einigen Anteil gehabt hatte.
Na ja, keine richtigen »Deals«.
Die hier getroffenen Absprachen waren mehr so etwas wie Aufträge. Man einigte sich auf einen Job und bekam die Hälfte der Bezahlung vorab. Die andere Hälfte des Honorars gab es bei Erledigung des Jobs, worum auch immer es sich dabei handeln mochte. Für jemanden wie Ian, der einfach keine richtige Arbeit bekam, war das mehr oder minder die einzige Möglichkeit, Geschäfte zu machen.
Der Barkeeper und Betreiber der Schenke, ein Mann, der »Fossa« genannt wurde, hatte bei den meisten dieser Aufträge seine Finger mit im Spiel. Nicht all ihre Unternehmungen waren gefährlich; größtenteils befassten sie sich mit der illegalen Ein- und Ausfuhr übermäßig besteuerter Waren. Hin und wieder jedoch ging es auch um Waffen und Munition. Diese Jobs waren allerdings selten, doch wenn sie sich ergaben, verdoppelte Ian seinen üblichen Preis, um sich seine Beteiligung zumindest ordentlich bezahlen zu lassen.
Zudem sorgte er dafür, dass ein kleiner Teil der importierten Fracht in seinem Besitz blieb.
Bei vielen dieser Operationen verließ sich Fossa auf Ian als wichtigste Sicherheitsmaßnahme, nicht zuletzt, weil Ian allein die Arbeit erledigen konnte, für die normalerweise drei Männer nötig waren. Hinzu kam, dass er dafür trotzdem nur den Preis von zweien berechnete … Fossa wollte, dass die Dinge ordentlich erledigt wurden, und vertraute darauf, dass der Amerikaner tat, was nötig war. Außerdem fand er Gefallen an dem Umstand, dass Ian ein Außenseiter war.
Wenn zu viele Einheimische im Team waren, war das schlecht fürs Geschäft. Einheimische redeten zu viel und versuchten stets, bei lukrativen Aufträgen ihre Freunde und Familienmitglieder mit ins Boot zu holen. Doch dann geriet die Sache irgendwann ganz unvermeidlich zu einem ziemlichen Durcheinander. Wenn das geschah, musste Ian regelmäßig einschreiten und die Situation bereinigen. Meistens bedeutete das nichts weiter, als dass er jemandem solche Angst einjagte, dass er sich bereit erklärte, zu kooperieren. Hin und wieder jedoch kam er nicht umhin, Gewalt anzuwenden.
Im Gegensatz zu den Einheimischen redete Ian mit niemandem. Niemals.
Er glaubte an das Gebot des Schweigens. Schweigen war die beste Methode, einen Gegner einzuschüchtern. Dementsprechend wichtig war es, wie man nach außen hin wirkte und wie man sich verhielt. Wie andere einen wahrnahmen, war in diesem Metier genauso wichtig wie die eigenen Fähigkeiten. Während seiner Zeit in der Navy war er so etwas wie ein lebender, atmender Schatten gewesen, und daran hatte sich seitdem nichts geändert.
Schatten reden nicht.
Nachdem seine Kopfverletzungen verheilt gewesen waren, hatte Ian versucht, sein Haar wachsen zu lassen, um die Narben zu verdecken. Bedauerlicherweise musste er schnell erkennen, dass das vergebliche Liebesmüh war. Deshalb entschied er sich stattdessen für das genaue Gegenteil. Sein rasierter Schädel unterstrich sein »Harter Kerl«-Gebaren sogar noch mehr und lenkte die Aufmerksamkeit des Betrachters unweigerlich auf die hässlichen Narben, die sein dämonischer Angreifer ihm seinerzeit verpasst hatte. Wie, um das Bild zu vervollständigen, hatte er sich außerdem einen langen, ergrauenden, rostfarbenen Vollbart stehen lassen.
Die Verunstaltungen auf seiner linken Kopfseite ließen Ian wirken, als sei er in eine Schlägerei mit einem Grizzly geraten und habe gewonnen. Die drei langen, gezackten Wunden waren nie richtig verheilt, aber wie wäre das auch möglich gewesen? Die untere Kerbe hatte sein Ohr geritzt, als die Klaue darüber fuhr und dabei fast ein Stück davon abgetrennt hätte. Die mittlere Narbe war am tiefsten und ging bis runter auf den Knochen. Der obere Schnitt indes war ein bisschen geschwungen, wie um der Form seines Schädels zu folgen, und endete bloß Zentimeter von seinem Augenwinkel entfernt.
Kurzum: Ian Hunt