Ein himmlisches Chaos. Katharina Grabner-Hayden

Ein himmlisches Chaos - Katharina Grabner-Hayden


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musste, anstatt mich mit ihm in einem Hotelbett zu amüsieren.

      Plötzlich wurde mir ein kleines seidenes Taschentuch über die Schulter gereicht, der Wagnerianer hinter mir hatte offensichtlich meine Gemütsregung bemerkt.

      »Bewegend, nicht?«, meinte er, als wir bereits vor dem Festspielhaus standen. Odysseus war stillschweigend auf die nächste Toilette gerannt und versuchte Herr über seine Smokinghose zu werden.

      »Ja, und wie!«, gab ich zur Antwort, die ich auch sofort bereute, denn nun bekam ich von »meinem Meister« tiefe Einblicke über Inhalt, Inszenierung und Wesen Wagner’schen Schaffens.

      »Der Bühnenraum, wissen Sie, dient als polyszenischer Hybridraum.«

      »?«

      »Die Transformation des Raumes, das kaleidoskopartige Verdrehen von Gegenständlichem und Zeiträumen bei gleichzeitiger Verdunkelung schafft eine unheimliche und bedrohliche Atmosphäre.«

      »Wie recht Sie haben!«

      Die Frage nach den Engelsflügeln wurde mir mit den Worten »Sie stehen für das in Träumen Erlebbare und in Fantasygestalten visualisierte Potenzial, die Flügel auszubreiten, abzuheben und davonzufliegen. Sie assoziieren den Expansionsdrang von Ikarus und die Fortschrittseuphorie von Leonardo da Vinci«, beantwortet.

      »Absolut logisch. Und warum muss der gute König Amfortas wie Jesus ausschauen?«, versuchte ich ihm Bruchstücke der Handlung herauszulocken. Mir war nun nichts mehr klar.

      »Ganz einfach, die Dornenkrone ist ihm nicht von außen aufgesetzt, nein, die Dornen wachsen quasi aus seinem Kopf heraus, als sichtbares Zeichen seines, aus eigener Schuldverstrickung und eigenem Schuldbewusstsein erwachsenen Leidens ...«

      »Aha!« Mein Vis-à-vis brauchte ganz schnell eine Therapie.

      »... und seine weibliche Gewandung, ein langes blutverschmiertes Büßerkleid, zeigt seine Affinität zur unterdrückten Weiblichkeit.«

      Unterdrückte Weiblichkeit? Jetzt wurde es sogar eindeutig erotisch.

      »Ach ja, natürlich!« Verdammt, ich war in den Händen eines Psychopathen!

      Die Frage war nun, wie ich nach einer Dreiviertelstunde Pause die anderen beiden Akte überleben sollte, und das ohne Alkohol, denn Odysseus war weit und breit nicht zu sehen.

      Mit Fanfarengebläse wurde zur Aufführung gerufen. Ich ließ mich wieder unter Hunderten musikalischen Masochisten nieder und erwartete meinen seelischen Niedergang. Doch ganz im Gegenteil, das klärende Gespräch mit dem freundlichen Herrn hatte seine Wirkung getan.

      Man musste nur etwas komplizierter denken, um Parsifal zu verstehen!

      Nach vier Stunden emotionalen Taumelns erwachte ich zitternd. Ich war begeistert, aufgewühlt, geradezu enthusiasmiert.

      3. Akt:

      »Wie hat dir die Aufführung gefallen?«, fragte mich vorsichtig Odysseus im Wagen, als wir am nächsten Morgen auf der Heimreise waren. Er erwartete sichtlich eine Brandrede über Sinn und Unsinn Wagner’scher Helden und Götterideen, vernichtende Worte über dessen schwulstige Erlösungssehnsüchte, Ironie über die Vergewaltigung deutscher Stabreime, über erniedrigende Frauenbilder und politischen Kleingeist.

      »Ich bin hin- und hergerissen!«, antwortete ich ihm.

      »Im Ernst oder willst du mich verarschen?«

      »Nein, mich hat Parsifal wirklich sehr berührt!«

      »Das sagst gerade du? Ein Freigeist?«

      »Ja, das sage gerade ich!«

      »Und der Schwan, der von Parsifal als Matrose abgeschossen wurde, das war doch an Kitsch kaum zu überbieten, oder?«, bohrte er nach.

      »... der stellt auf der symbolischen Ebene eine Bedrohung der Männlichkeit im Individuationsprozess dar. Kapierst du das nicht?«

      Brutal wurde mir erst jetzt – und das nach fünfundzwanzig Ehejahren! – klar, dass ich mit einem Dümmling verheiratet war.

      »Hast du etwas getrunken?«, fragte Odysseus vorsichtig nach.

      Als mir Parsifals Geschichte nähergebracht wurde, war der arme Mann ja am Klo, er hatte keine Möglichkeit, tieferen Einblick in Parsifals Geschichte zu erhalten.

      Wir fuhren am nächsten Morgen auf der Autobahn Richtung Österreich. Der CD-Player spielte – natürlich Parsifal.

      Ich saß neben Odysseus und ließ den vergangenen Abend und die herrliche Gegend an mir vorbeigleiten, dabei schwor ich mir, nächstes Jahr, koste es was es wolle, wieder in Bayreuth zu sein. Bei Lohengrin und bei »meinem Meister«, der mir Wagner so leidenschaftlich nahegebracht hatte. Egal, ob als Gast oder als dienstbare Billeteuse, ich würde wieder in die heilige Gemeinschaft aufgenommen werden.

      »Also im letzten Akt, als die Bühne als deutscher Reichstag dargestellt war, verstand ich gar nichts mehr!«, versuchte Odysseus das Gespräch wieder anzukurbeln.

      »Das ist doch ganz klar! Parsifal verschwindet aus der Gralsgemeinschaft, die Erlösung vom Erlöser, was bedeutet, dass in einem freien, gerechten und wohlgeordneten Staatswesen kein Erlöser mehr notwendig sein sollte.«

      »?«

      »Apropos Erlösung! Hättest du nicht jetzt die Route Prag/Amberg/Regensburg einschlagen müssen?«, stammelte ich verlegen.

      »Verdammter Parsifal! Jetzt hab ich mich total verfahren!«

      Parsifal verwirrt, aber das ist ja gerade das Göttliche an ihm!

       Parsifalinterpretationen aus: Susanne Vill, Parsifal. Eine Inszenierungsanalyse mit Kommentaren, 2009

      Christmas Wonderland

      Weihnachten fordert jedes Jahr den höchsten Tribut an Organisation, Planung, vor allem aber an Koordination von mir.

      Denn meine und die verschwägerte Verwandtschaft kommen aus gänzlich unterschiedlichen Kulturen. Es ist einfacher, Muslime und orthodoxe Juden, als meine Familie, an einen Tisch zu bekommen.

      So gehört zur Planung eines friedlichen Weihnachtsfestes vor allem die Einteilung der Besuche dazu, die Odysseus und ich aufgrund der Kompliziertheit der Familien bereits im Oktober mühselig festlegen.

      Da meine Schwester in der dritten Patchwork-Generation lebt, sich aber die Schwiegermutter aus erster Ehe mit meiner Mutter wunderbar versteht, ist es nicht ratsam, diese mit ihrem neuen Liebhaber an einen Tisch zu setzen. Die Großeltern aus zweiter Ehe lieben die Kinder aus ihren unterschiedlichen Beziehungen abgöttisch, ein Christ- oder Stephanitag ohne sie wäre kaum vorstellbar. So darf Freund Nummer drei nur am Stephanitag und die Schwiegereltern aus Ehe Nummer zwei nur am Christtag kommen, was die Ehemänner Eins und Zwei goutieren, den Liebhaber Nummer drei aber stets beleidigt.

      Meine älteste Schwester, eine überzeugte und militante Homöopathin, stört die schulmedizinische Besserwisserei meines Schwagers, ein neureicher Orthopäde, dermaßen, dass wir sie wie zwei wilde Furien auseinanderhalten müssen, was wiederum Tante Luise missfällt, die aus den Streitgesprächen der beiden durchaus Nutzen und Hilfestellungen für ihre hypochondrischen Wehwehchen zieht.

      Erbtante Herta ist unbedingt einzuladen, obwohl meine Hunde mit ihrem kleinen vierbeinigen Malteser Fußball spielen, was Herta mir in der Küche ständig verärgert vorhält.

      Die bissige Kröte wiederum hetzt die Katzen durchs Haus und dazwischen sitzt mein Vater und wirft sich mit Alkohol eine Beruhigungstablette nach der anderen ein. Er hat zwar vier Mädchen gezeugt, dabei aber nicht einkalkuliert, dass wir die Fruchtbarkeit meiner Mutter und den exzessiven Sexualtrieb des Vaters in unseren Genen tragen. So darf er ungewollt fünfzehn Enkelkinder sein Eigen nennen. Er mag weder die eigenen noch die, die durch ständig neue Eheschließungen dazu kommen. Er kann niemanden leiden,


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