Sex Revolts. Simon Reynolds
Die Fusion der Stones von prahlerischem Machismo und selbstherrlicher Androgynität zu einer Art allumfassendem Narzissmus hat sich als Klammer in der Geschichte rebellischer Rockmusik erwiesen: vom 1960er-Freakbeat (Gruppen wie John’s Children) über Lou Reed, David Bowie und die New York Dolls zu Prince, Hanoi Rocks, den Manic Street Preachers und Suede. Punk stand zu sehr auf Hässlichkeit, um mit Androgynie zu spielen, und doch hat der Begriff selbst eine effeminierte Konnotation. Im 16. Jahrhundert stand »punk« für eine weibliche Prostituierte oder Dirne, später entwickelte sich die Bedeutung hin zur jungen männlichen »Ehefrau« eines Sodomiten. In der Terminologie der Landstreicher sowie im Gefängnis-Slang war ein »punk« ein junger, hübscher, passiver Junge, der von anderen Insassen gefickt wird. Schließlich wandelte rebellische Rockmusik dieses Wort für ein entmanntes, verachtenswertes Stück menschlichen Abfalls einmal mehr in einen positiven Begriff des Ungehorsams.
In ihrem Essay »Baudelaire, or Infinity, Perfume and Punk« sieht Julia Kristeva das Dandytum als Identifikation mit der verhassten Position der Mutter in der patriarchalen Ordnung. Die Besessenheit des Dandys von der »trivialen« Sache des Styles ist eine Revolte gegen das ordnungsgemäße Männlichkeitsideal, das der Vater verkörpert – Style ist also der Versuch, die Mutter nachzuahmen. Punk erwähnt Kristeva in einem zweideutigen Kontext: Die bewusste, gezielte Selbstbesudelung im Punk-Style statt der Verschönerung ist eine Umkehrung des Dandytums. Sowohl Dandys als auch Punks besetzen ihre Minderwertigkeit und Marginalisierung dabei positiv, transformieren Entmannung zu Style.
Das Dandytum der Stones jedoch entsprach weniger der Umarmung einer Position als Underdogs als vielmehr einer Sehnsucht, selbst in der Hierarchie aufzusteigen – eine dekadente Verweigerung der respektablen, ehrlichen, entsexualisierten Maskulinität, die in den 1950ern propagiert wurde, zugunsten der aristokratischen Hemmungslosigkeit des Playboys. Dieses ambivalente, aber virile Image teilten sie sich mit Jimi Hendrix und später mit dessen Erben Prince, die als potente »Wilde« in majestätischer Pracht wahrgenommen wurden. Im Laufe seiner Geschichte bewegte sich Rock zwischen weichem Narzissmus und rauer Kraft. Doch keiner dieser Archetypen – weder der Kavalier noch der Roundhead,5 weder der Mod noch der Rocker – hat Frauen viel zu bieten. Das große Paradox des Rock ist, dass er gegen etablierte Vorstellungen von Männlichkeit rebellierte und dabei selbst misogyn blieb.
David Bowies Hymne »Boys Keep Swinging« vom 1979er-Album Lodger macht sich über das Phänomen der männlichen Verbrüderung lustig. Im dazugehörigen Video sabotiert Bowie die Kameraderie der Lyrics, indem er verschiedene weibliche Rollen einnimmt. Die Idee: Unter all ihrem Männlichkeitswahn sind die lads selbst latent homosexuell. Doch die subversive Schlagfertigkeit des Songs wurde von einer noch tieferen Ironie übertroffen: Mit weiblichem Glamour zu experimentieren und, wie Suzanne Moore es ausdrückte, »ausgewählte weibliche Subjektivitäten« zu übernehmen, ist ein männliches Privileg. Weibliches Crossdressing kommt nicht als Übermut oder Transgression rüber. Jungs mit Eyeliner sorgen für Erregung, aber Mädchen, die den Kajalstift boykottieren, gelten höchstens als unelegant.
1Die berühmteste »Errungenschaft« des PMRC sind die »Parental Advisory«-Aufkleber auf diversen Albumcovern. Anm. d. Ü.
2Im echten Leben starb Osbornes geliebter Vater, als er zehn Jahre alt war, und überließ ihn so seiner gehassten, dominanten Mutter.
3Rebel Without a Cause, also »Rebell ohne Grund«, ist der Originaltitel des vorher erwähnten Filmes … denn sie wissen nicht, was sie tun. Anm. d. Ü.
4Der Begriff »Satori« steht im Buddhismus für spirituelle Erleuchtung. Anm. d. Ü.
5Im Englischen Bürgerkrieg nannte man die Anhänger von König Karl I. Kavaliere. Ihnen gegenüber standen die Anhänger des Parlaments: die Roundheads. Anm. d. Ü.
SHE’S HIT: SONGS OF FEAR AND LOATHING
»Du meinst also, dass es den schönen, verträumten Typ gibt und den bösartigen Bitch-Typ. Es gibt noch ein oder zwei andere, aber ja, du hast recht […]. Es gibt zwei Arten von Mädchen [in meinen Songs], mir ist das nur noch nie aufgefallen. Ah, ich verstehe, ich baue sie nicht ordentlich ein.«
Mick Jagger im Interview mit dem Rolling Stone, 1978
Es ist ganz einfach: Wer die Rolling Stones nicht mag, mag keinen Rock ’n’ Roll. Die Stones sind die Quintessenz des Rock – und eine der misogynsten Gruppen aller Zeiten. Schon ihr Name – dem Song »Rollin’ Stone« des Blues-Pioniers Muddy Waters entnommen – impliziert Flucht: vor Häuslichkeit, emotionaler Verpflichtung, Intimität, Verbundenheit. Ihr Manager Andrew Loog Oldham baute ihr Image als sexuelle Nomaden behutsam auf, indem er der Presse Texte lieferte wie: »Sie sehen aus wie die Jungs, die jede Mutter, die etwas auf sich hält, im Badezimmer einsperren würde. Doch die Rolling Stones – fünf taffe junge Musiker aus London mit lässig geöffnetem Mund, blassen Wangen und zerzausten Haaren – kümmern sich nicht darum, was Mütter denken.« Ein anderer Slogan, den Oldham dem Melody Maker lieferte, wurde zu der berühmten Überschrift »Würden Sie Ihre Tochter mit einem Rolling Stone ausgehen lassen?« Das Charisma der Stones war untrennbar verbunden mit dem Bild einer ungehobelten Unterschicht auf der Jagd nach dem kostbarsten Besitz der höheren Klassen: den Körpern ihrer Töchter.
Wo die Beatles ein Image als »nette Jungs« hatten, verführte der schlechte Ruf der Stones Mädchen mit der Vorstellung, von ihnen ohne Respekt behandelt zu werden. Die Dichotomie Beatles/Stones festigte die Trennung von Pop und Rock zwischen gepflegten Stars und ungepflegten Außenseitern, Romantik und rauer Sexualität, unschuldigem Verliebtsein und animalischer Lust. Natürlich wurden auch die Beatles von der Rockkritik hoch geschätzt und ebenso waren die Stones Popstars, die große Erfolge bei Teenagern feierten, doch beide hatten ihren Anteil an dem bis heute gängigen Klischee, nach dem Pop sich bei Mädchen anbiedere (Schönlings-Image, Harmonien und Melodien, sentimentale Texte), während Rock von und für harte Jungs gemacht werde.
Der Reiz der Rolling Stones lag darin, dass sie wild und ungebändigt waren. In »Under My Thumb« (von Aftermath, 1966) lehnt Jagger die Zähmung durch die Monogamie ab, während er davon prahlt, ein vormals stolzes, unabhängiges Mädchen gebändigt zu haben. Wie wild er ist, misst er an ihrer Fügsamkeit; er hat sie zu alldem gemacht, was er verabscheut. »Out of Time« und »Yesterday’s Papers« stellen Mädchen als verzichtbare, überflüssige Waren dar. In all seiner Prahlerei ist es Jagger nicht genug, seiner abservierten Freundin unter die Nase zu reiben, dass er sie nicht mehr will; er muss ihr unbedingt mitteilen, dass sie auch sonst niemand wollen wird.
»Have You Seen Your Mother, Baby, Standing In The Shadow?« ist einer der hasserfülltesten Songs der Stones. Er ist auch eine der verblüffendsten und apokalyptischsten Aufnahmen der 1960er – vor allem in Kombination mit Peter Whiteheads Promofilm, der Bildern von Randale während Liveauftritten der Band Szenen entgegensetzt, die zeigen, wie sich die Stones für das Cover-Fotoshooting stylen. Auf dem Cover der Single stellen sie in Frauenkleidern verschiedene groteske Karikaturen weiblicher Stereotype nach.
Nur der am unverfrorensten phallokratische aller Rockkritiker, Nick Tosches, kam der niederträchtigen Magie des Songs nahe. In einer Reminiszenz an seine jugendliche Liebe für die Band beschreibt er die Faszination seiner Clique für die »zynische Vorstellung, der neurotischen, verstoßenen Freundin das Bild ihrer Mutter an den Kopf zu werfen und die Schwangerschaft des Mädchens zu verspotten. Mit hoher Geschwindigkeit und geschlossenen Fenstern fuhren wir auf der Suche nach weiblichen Kehlen durch die kalte Dunkelheit. Wo keine waren, hörten wir [den Song], lächelten