Sex Revolts. Simon Reynolds
haben – ein Versuch, mit Mutter Natur in Kontakt zu treten.) Sie verließen jegliches häusliche Umfeld, sobald es dort zu bequem wurde, weil sie auf der Suche nach einer höheren Art von Zuhause waren, nach einer glückseligen Vereinigung mit einer unsterblichen Weiblichkeit. Ihr Heiliger Gral war Satori4, von Norman O. Brown als »die Erfahrung des Ungeborenen« definiert. Wie Kerouac selbst schon schrieb: »Das eine, wonach wir strebten Zeit unseres Lebens, das uns seufzen und stöhnen macht und uns süße Beklemmungen bringt, ist die Erinnerung an irgendwelche verloreren Wonnen, die wir wahrscheinlich im Mutterleib erfahren haben und die sich (wenn wir es auch nicht wahrhaben wollen) nur im Tode wiederholen können.«
Dean Moriarty bedient sich eines üblichen frauenfeindlichen (später für Hippie-Rock typischen) Gesinnungs-Kunststücks, das es ihm ermöglicht zu beteuern, dass er das weibliche Geschlecht bewundert, während er die realen Frauen in seinem Leben wie Dreck behandelt. Er steht auf all die »gone chicks« – »Oh, ich liebe, liebe, liebe Frauen! Ich finde sie wundervoll!« – und verlässt seine Liebhaberinnen gleichzeitig, sobald ihn wieder die Rastlosigkeit überkommt. Als er Camille, mit der er ein Kind hat und die ein weiteres erwartet, verlässt, um mit Sal Paradise ins nächsten Abenteuer aufzubrechen, können beide Männer nicht nachvollziehen, warum sie das so sehr aufregt.
Doch so ganz entkommt Kerouacs Alter Ego (und zweifellos Kerouac selbst) seinem schlechten Gewissen nicht. An einer späteren Stelle im Roman ist Sal so hungrig und heruntergekommen, dass er halluziniert. Er hält eine Frau auf der Straße für seine Mutter und sich selbst für den verlorenen Sohn, der aus dem Gefängnis zurückgekehrt ist, um an ihre harte ehrliche Arbeit in einer Garküche anzusehen. »›Nein‹, schien diese Frau mit dem erschreckten Blick zu sagen, ›komm nicht zurück und quäle deine ehrliche, schwerarbeitende Mutter. Du bist nicht länger mein Sohn.‹« Kurz darauf hat Paradise eine Erfahrung im Nirwana: »Hell leuchtet das Wesen der Dinge auf, in gewaltigen und unfaßbaren Strahlungen, unzählige Lotosländer öffnen sich fallend im zauberhaften Mottenschwarm des Himmels.« Am Morgen nach dieser Begegnung mit der unsterblichen Weiblichkeit macht Paradise dennoch weiter, als wäre nichts gewesen, und schnorrt hundert Dollar von einem reichen Mädchen, mit dem er geschlafen hat, um den nächsten Trip zu finanzieren.
Laut dem Kerouac-Biografen Dennis McNally war ein zentraler Mythos in Kerouacs Leben die Geschichte von Dostojewskis Ehefrau und ihrem unermüdlichen Einsatz für ihren Mann, also die der Pflicht der Untalentierten, den kreativen Künstler zu unterstützen. Und so war die einzige weibliche Konstante in seinem Leben seine Mutter, »Mütterchen«, eine Quelle bedingungsloser Liebe. Nachdem er dem Beatnik-Dasein entsagt hatte, kehrte er zu ihr zurück und verbrachte den Rest seines Lebens in ihrer Nähe.
Die Beats versuchten, die American frontier wieder zu öffnen, deren Schließung die amerikanische Identität in den 1890ern tief erschüttert hatte. Diese new frontier der 1950er spielte sich zwar auf dem Terrain der Psyche ab, doch wie ihre geografische Vorläuferin bot sie dem rauen, männlichen Individualismus eine Spielwiese. Frauen gab es dort keine, denn sie galten als Symbol eines Zuhauses, das verlassen werden musste. Norman Mailers Definition des hippen Nonkonformismus in seinem Essay »The White Negro« von 1957 bedient sich einer traditionell amerikanischen Ausdrucksweise: »Man ist ein Grenzer im Wilden Westen des amerikanischen Nachtlebens oder ein spießiger Organismus, gefangen im totalitären Gewebe der amerikanischen Gesellschaft, dazu verdammt, sich anzupassen, wenn man erfolgreich sein will.« Um zu entkommen und ein wahrlich mannhaftes Leben zu finden, muss man »sich von der Gesellschaft scheiden lassen«; Mailers Sprache stellt eine Verbindung zwischen Ehe und Entmannung her. Etwa zur gleichen Zeit bot der Playboy mit seiner Fantasie vom Lebemann eine Art spießiges Gegenstück zum Beat-Lifestyle: weltmännisch und kultiviert, aber, wie der Beatnik, ein eingefleischter Junggeselle, mit dem festen Ziel, niemals sesshaft zu werden.
Das Streben nach veränderten Bewusstseinszuständen in den 1960ern erweiterte die new frontier der Beats auf die eigene innere Wahrnehmung. Hier lässt sich die Wiederholung eines Musters beobachten: Timothy Leary, der LSD-Prophet, himmelte einen abwesenden Vater an. Captain Tote Leary hatte die Familie verlassen. Er war rastlos, leidenschaftlich, Alkoholiker, hatte ständig Schulden und befand sich stets auf der Flucht vor der Häuslichkeit. »In den 13 Jahren, die wir zusammen verbracht haben, hat mein Vater mir nie Erwartungen aufgezwungen«, erinnerte sich Leary jr. liebevoll. »Dad blieb für mich ein Vorbild des Einzelgängers. Er verachtete Konventionalität.«
Seine Mutter Abigail blieb zurück. In ihren Armen: ein Kind, das einmal die volle Wucht seiner Verachtung gegen sie richten würde. Abigail war eine fromme Katholikin, die sich nach einem Leben in der Mittelklasse sehnte und der eine Skepsis vor »allem Freudvollen, Frivolen oder Neumodischen« anerzogen worden war. Ihr fiel die Verantwortung zu, Leary großzuziehen, während der Vater den Glamour der totalen Verweigerung jeglicher Verantwortung einheimste. Was sie dafür bekam, war ein Sohn, der sein Bestes tat, um sich die unausstehlichsten Charakterzüge seiner Familie väterlicherseits einzuverleiben. Diese altbekannte Dialektik zwischen männlicher Abenteuerlust und weiblichem Konformismus, männlicher Rastlosigkeit und weiblicher Sesshaftigkeit, nimmt Learys Diskurs einer heroischen Odyssee in den Sog des Acid bereits vorweg. LSD befürwortete Leary als eine Möglichkeit, die Welt zu verfremden. Unter diesem Projekt versteckte sich die Sehnsucht, der Familie zu entkommen – ganz nach Papas Vorbild. Der Sinn eines Acid-Trips war es, das Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Welt zu zertrümmern, die Landkarte zu zerreißen und jene Orientierungen, durch die das Leben bequem, routiniert und gewöhnlich wurde, zu desorientieren. Nur wer diese turbulenten Stromschnellen des Bewusstseins hinter sich brachte, konnte es zu jener Lagune der Klarheit schaffen, wo sich das zerschlagene Ego mit dem Kosmos verband. Wieder grüßt Nietzsche: »Damit ein Heiligtum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligtum zerbrochen werden.«
Ken Kesey ist das Bindeglied zwischen Norman Mailers Sicht der amerikanischen Vorstadt als Konzentrationslager der Mittelmäßigkeit und Learys Flucht in die psychedelische Wildnis. Einer flog über das Kuckucksnest (1962) basiert auf Keseys eigener Erfahrung als Hilfskraft in einem psychiatrischen Krankenhaus und stellt die Anstalt als einen Mikrokosmos des Amerikas der 1950er-Jahre dar. Der Held des Romans, R. P. McMurphy, täuscht psychopathische Tendenzen vor, um der Unerbittlichkeit der Gefängnisfarm zu entkommen. Zu seinen Verbrechen gehört Sex mit einem minderjährigen Mädchen, Reue zeigt er keine. Der ausgelassene McMurphy stiftet die anderen Patienten – geschlagene, kastrierte Männer, die mit den An- und Widersprüchen des vorstädtischen Matriarchats nicht klarkommen – dazu an, sich dem System zu widersetzen.
Es gibt zwei Arten von Frauen in Einer flog über das Kuckucksnest: Huren und Matronen (wobei Letztere zugleich unterdrückt werden und unterdrücken). Die mit McMurphy befreundeten Huren sind dumm, hübsch und hörig. Zu den frigiden Matriarchinnen zählen die kontrollsüchtigen Ehefrauen und Mütter, die zwar nicht als Charaktere auftreten, aber – darauf wird im Roman angespielt – die Insassen einst gebrochen haben, und verklemmte Dominas wie Oberschwester Ratched, die die Station mit ihrem strengen Arbeitsplan, beruhigender Muzak und regelmäßig verabreichten Beruhigungsmitteln regiert.
Ratcheds Name klingt phallisch, gewaltsam und abgehackt, wie das englische »ratchet«, ein Schneidewerkzeug. An einer Stelle versucht McMurphy einen Mitinsassen davon zu überzeugen, dass sie eine abscheuliche Tyrannin sei, die den Männern die Eier abschneide, damit diese schwach seien und mit dem Strom schwämmen – und von ihnen gäbe es viele. Amerika würde von Müttern regiert, die sich gegen die Männlichkeit verschworen hätten. Oberschwester Ratched ist sogar mit der Mutter eines Patienten namens Billy befreundet. Billy ist ein 31-jähriger Mann, der von der besitzergreifenden Prüderie seiner Mutter in einen mentalen Zusammenbruch getrieben wurde. Als McMurphy eine seiner leichten Freundinnen heranschafft, um Billy dabei zu helfen, seine Jungfräulichkeit zu verlieren, werden sie von Ratched in flagranti erwischt, die daraufhin damit droht, Billy bei seiner Mutter zu verpfeifen. Erneut wurde Billy entmannt – und begeht daraufhin Selbstmord. Aus Rache versucht McMurphy, Ratched zu erwürgen. Doch er scheitert und endet nach einer Lobotomie als gebrochener Zombie.
Später gründete Kesey die Merry Pranksters, zu denen auch der alte Gauner Neal Cassady gehörte. In einem bunt angemalten Bus fuhren sie durch die USA