Sarah Penrose. Priska M. Thomas Braun
Baum schon gestern gefällt?», fragte Hannes seinen Vater, der nickte und zwei oder drei Scheite Holz in den Ofen nachlegte.
Sarah bemerkte die echten Kerzen auf ihren Haltern sowie die filigranen Strohsterne und die Nüsse und Tannzapfen, die das leicht krumme Tännchen schmückten. Im Vergleich dazu war der ausladende Weihnachtsbaum, der in der Halle von Finlays Wohnung in London prangte, ein gut gewachsener Riese, dessen Engel auf der Spitze die hohe Decke touchierte. Finlays Weisstanne war jeweils vollbehangen mit roten und goldenen Kugeln, mit Engelshaar, Lametta sowie feinen elektrischen Lichterketten, die den Baumschmuck zum Glitzern brachten. Keiner hätte es dort gewagt, richtige Kerzen am Baum anzuzünden. Sarah stellte sich ihre Mutter vor, die vermutlich bereits in London war und dort am Nachmittag letzte Einkäufe erledigt hatte. Sie schluckte die aufsteigenden Tränen, die sie sich nicht erklären konnte, hinunter. Es war wirklich schön hier. Emma hatte einen Kartoffelsalat vorbereitet. Dazu gab es Saitenwürstle und für Sarah ein Tofu-Schnitzel. Hannes erzählte von der Schweiz, und Gustav lobte Sarah dafür, wie gut sie sich im Betrieb eingearbeitet hatte. Alles war bestens. Trotzdem wusste Sarah, dass dies nicht das Leben war, das sie sich auf Dauer für sich vorstellte.
Als der Abend voranschritt und Hannes und seine Eltern über verschiedene Nachbarn und Bekannte und entfernte Verwandte redeten, dachte Sarah schon wieder an ihre Familie in England. Sie fragte sich, ob Claire in der Bretagne und Rebecca und Tom in Cornwall mit Toms Eltern feierten.
Sarah würde sie am nächsten Tag alle anrufen, ihnen frohe Weihnachten wünschen und hören, ob ihnen die Bücher gefielen, die Sarah über Amazon für sie bestellt hatte.
«Wie hast du Weihnachten verbracht?», fragte Brigitte, als sie Sarah im neuen Jahr zufällig auf der Post traf.
«Mit Hannes und seinen Eltern. Und du?»
«Ich habe gearbeitet und meine Freizeit verschlafen. Ich war todmüde. Es war so viel los.»
«Waren Rudi Rothfuss und die Kinder über Weihnachten im Hotel?»
«Ja, Herr Rothfuss hat rund um die Uhr gearbeitet. Susanne ist im Mutterschaftsurlaub. Sie hat sich in der Wohnung verschanzt und zu den Kindern geschaut.»
«Muss schön für sie sein. Ein Kind zu Weihnachten», nickte Sarah.
«Ja, sicher. Aber sie sieht schlecht aus. Und Jessica und Jens sind ein bisschen eifersüchtig auf das Baby», sagte Brigitte. «Sie haben sich jedoch sehr über deine Geschenke gefreut.»
Sarah nahm sich vor, bald im Tannwald vorbei zu schauen.
«Im Grunde bin ich froh über den Januar», seufzte Brigitte. «Weniger los, und es herrscht rundum wieder emotionaler Normalbetrieb. Die Festtage mit dem ganzen Drumherum sind nicht so mein Ding.»
«Früher, als ich mit Mum und meiner Sis in London bei Finlay und Lance feierte, war es immer okay. Aber dieses Jahr hatte ich einen kurzen Festtagskoller. Zum ersten Mal in meinem Leben.»
Mitte Januar wurde es kalt, zudem schneite es aus tief hängenden Wolken. Ausser in den Hotels war im Ort nichts los. Brigitte und Sarah trafen sich wieder wöchentlich zum Pizzaessen. Hie und da setzten sie sich spät abends zusammen mit anderen jungen Leuten an eine Bar. Zwischendurch fuhren sie nach Freudenstadt. Dort zeigte das Kultkino im Kurhaus prämierte Filme im Originalton. Während sich Sarah und Brigitte auf Sofas räkelten und Getränke aus dem Weltladen schlürften, wähnten sie sich während der Dauer des Films in einer Grossstadt. Oder in einer beliebigen Ecke dieser Welt.
«Einen zweiten Winter hier überlebe ich nicht», klagte Sarah.
Die Wochenenden, die Hannes im Schwarzwald verbrachte, verflogen im Nu. Doch die Werktage zogen sich in die Länge. Hin und wieder überlegte sie, ob sie für ein Weekend nach Basel fahren wollte. Doch sie war auf den Zug angewiesen, und für Hannes war es mit dem Auto bequemer, nach Fleckenbronn zu kommen. Seit sie in der Backstube arbeitete, blieb er bis montagmorgens, stand mit ihr zusammen auf und machte sich nach einem schnellen Kaffee auf in die Schweiz. Emma sah es nicht gerne, dass ihr Sohn bei Dunkelheit losfuhr. Die Strasse über den Ruhestein war in der Früh eisig, Hannes meistens in Eile und Emma beständig in Sorge um ihn …
Brigitte riss Sarah aus ihren Gedanken.
«Solange du einen Job hast, ist es okay. Mir jedenfalls wird es an der Rezeption nicht langweilig. Schon bald ist Frühling, und wir können draussen zusammen Tennis spielen.»
«Ich weiss nicht. Hier dauert es ewig, bis es einigermassen warm wird.»
«Stimmt», antwortete Brigitte, «ich überlege mir ernsthaft, auszuwandern.»
An einem Donnerstagabend im April meldete der Südwestfunk den Absturz eines in Deutschland registrierten Kleinflugzeugs in den Vogesen. Nach Angaben der französischen Polizei starben der Pilot sowie beide Passagiere. Der Hergang des Unfalls, der sich um 16 Uhr ereignet habe, sei noch Gegenstand der Untersuchung. Rettungskräfte, Polizei und Feuerwehr seien vor Ort. Sarah war gerade dabei, ihre Laufschuhe zu binden und hörte nur mit einem Ohr hin. Dann, im Laufe des Freitagvormittags, meldete der SWR, dass es sich bei den Opfern des Flugzeugabsturzes um einen Baden-Württembergischen Hotelier mit Familie handle.
Am Nachmittag schliesslich wurde sie von der total aufgelösten Brigitte angerufen, die fragte: «Hast du vom Flugzeugabsturz gehört? Es ist mein Chef. Herr Rothfuss flog in seiner Sportmaschine an eine Gastronomen-Konferenz im Elsass. Weil es so prächtiges Wetter und die Tagung übers Wochenende war, nahm er Susanne und den Kleinen mit.»
Als Sarah nicht antwortete, schluchzte Brigitte: «So hör doch! Jessica und Jens sind hier. Herr Rothfuss war auf der Stelle tot. Ich darf es noch niemandem sagen. Aber du, du bist sicher eine Ausnahme. Zudem weiss es innert Kürze bestimmt jeder im Ort. So etwas sickert durch. Das kann man nicht geheim halten! Gleichwohl hat unser Geschäftsleiter verfügt, dass die offizielle Meldung an die Presse erst morgen rausgeht.»
Sarah antwortete noch immer nicht. In ihrem Kopf hämmerte es: Rudi Rothfuss, dieser stattliche, vitale Mann kann nicht tot sein. Genauso wenig wie Susanne und das Baby. Das musste ein Irrtum, eine Falschmeldung sein.
«Sarah? Bist du noch da? So sage doch etwas! Oder komm bitte nach Feierabend zu mir ins Personalhaus. Ich will jetzt nicht allein sein.»
Endlich antwortete sie. «Ja, mache ich. Ich warte um 21 Uhr an der Rezeption auf dich.»
«Und was ist mit Hannes?», fragte Brigitte.
«Oh!», rief Sarah. Sie hatte Hannes komplett vergessen. «Er ist auf Geschäftsreise. Er besucht in Portugal Kunden und bleibt übers Wochenende in Lissabon.»
Die holzgetäfelte Hotellobby, normalerweise einer der gemütlichsten Räume im Tannwald, fühlte sich anders an. Sarah fror, obwohl im Kamin ein Feuer knisterte. Sie beobachtete, wie das Personal und einige Gäste tuschelten und fragte sich, ob die Leute informiert wurden. Sie musste sich gedulden und auf Brigitte warten, die hinter dem Tresen auf ihren Bildschirm starrte.
Da tauchte Karin auf. Sarah erkannte auf einen Blick, dass sie Bescheid wusste. Zusammen eilten sie in einen Lagerraum. Überall standen Bierkästen, Mineralwasser und Softdrinks. Zudem war der Raum düster und eiskalt. Karin hängte sich wie eine Ertrinkende an Sarah, schluchzte und brachte kein Wort hervor. «Schscht», machte Sarah, «ich weiss es. Brigitte hat mich angerufen.»
Karin nickte, und Sarah fragte sie: «Hast du Jens und Jessica gehütet, als es passierte?» Karin nickte erneut.
«Seit wann weisst du es?», fragte Sarah.
«Ich habe es soeben mitbekommen. Gäste aus Frankreich haben mit zuhause telefoniert. Dort ist anscheinend der Name durchgesickert.»
«Wie denn das?», fragte Sarah.
«Ich weiss es nicht. Vielleicht hat dort jemand Polizeifunk gehört. Jedenfalls reden die Elsässer jetzt darüber.»
«Schlafen die Kinder?», fragte Sarah, und Karin nickte zum dritten Mal.
Zusammen schlichen sie in die Personaltoiletten, wo sich Karin Wasser ins Gesicht spritzte und die Augen kühlte. Dann kehrten sie zurück