Sarah Penrose. Priska M. Thomas Braun
«Sorry», sagte sie. «Ich mag mich am Sonntagmorgen nicht beeilen. Ich muss die ganze Woche über früh raus.»
«Da hast du recht. Eine Bäckerei ist nicht der passende Arbeitsort für Langschläfer.»
Sie schnitt eine Grimasse, sagte jedoch nichts.
«Ich meine es ernst. Was würdest du am liebsten tun, wenn du alle Möglichkeiten in Betracht ziehst?»
«Nach Afrika reisen, dort eine Crew begleiten, die DOK-Filme dreht. Ich wäre Mädchen für alles; ich würde Kaffee kochen, den Jeep steuern, Zelte aufstellen und in meiner Freizeit Löwen bändigen.»
«Und das wäre dein Traumjob?», fragte er.
«War nicht so ernst gemeint.»
«Also, dann realistisch. Warum ziehst du nicht zu mir in die Schweiz? In Basel gibt es Museen und Galerien zuhauf, und Roche und Novartis und auch all die vielen anderen, kleineren Pharmafirmen suchen Arbeitskräfte mit englischer Muttersprache.»
«Ich habe keine Büroerfahrung.»
«Aber du sprichst vier Sprachen. Zudem hast du Claire und John-Pierre in ihrer Galerie in der Bretagne geholfen und weisst, wie man mit Kunden und mit einem PC umgeht.»
«Ja, schon. Ich denke übrigens, seit ich an John-Pierres Retrospektive in Frankfurt war, oft an die beiden», sagte Sarah. Ihre Erinnerung, wie sie John-Pierre für seine Akte Modell gesessen hatte, behielt sie geflissentlich für sich. Sie konnte sich das von der Sonne aufgeheizte Atelier unter dem Dach ohne seine Staffeleien, bar seiner Präsenz und aufmerksamen Augen genauso wenig vorstellen wie die Tatsache, dass er nun auf einem bretonischen Friedhof lag.
«Und?», drängte Hannes.
«Ich weiss nicht. Lass mir noch etwas Zeit.»
«Meine Oma hat uns eingeladen», überraschte Brigitte ihre Freundin Sarah Anfang Dezember. «Zur Weihnachtsfeier in der Seniorenresidenz. Die Feier findet wie jedes Jahr am zweiten Freitag im Dezember statt. Vermutlich, damit die Familien an Heiligabend und über Weihnachten frei sind», seufzte sie.
«Warum lädt sie ausgerechnet mich dazu ein?», fragte Sarah.
«Vermutlich hast du auf sie einen guten Eindruck gemacht», sagte Brigitte. «Mich hat sie natürlich auch eingeladen. Sie hat das Anrecht auf zwei Gäste. Meine Eltern sind verhindert. Sie gehen dafür über die Feiertage hin.»
«Es könnte zu spät werden, um noch am Abend heimzukehren.»
«Nein! Das Essen beginnt früh und ist um 20 Uhr vorbei. Alte Menschen gehen mit den Hühnern schlafen. Bitte komm mit», bat Brigitte. «Wenn nötig können wir in Frankfurt übernachten. Meine Eltern besitzen ganz in der Nähe eine kleine unbenutzte Wohnung. Genau für solche Fälle.»
«Okay!», nickte Sarah und dachte dabei an den Toten im Park.
Von der Decke des Speisesaals hingen gigantische Weihnachtskugeln. Auf den Tischen leuchteten Mandarinen zwischen duftenden Tannenzweigen. Daneben lagen Liedertexte in grosser Schrift, flackerten Kerzenimitationen ohne Brandgefahr. Die lässige Ehefrau des Altenheimpfarrers klimperte auf dem Flügel Weihnachtsmelodien. Das Pflegepersonal eilte an jenem Abend in festlicher Kleidung hin und her; half einem Gehbehinderten mit Rollator oder einer Rollstuhlpatientin an ihre reservierten Plätze, während die Stationsverantwortlichen die Angehörigen begrüssten.
Adele Bohnerts graues Seidenkleid und ihre schlichte Zuchtperlenkette passten zum festlichen Rahmen. Ihre goldgeränderte Brille hatte sie in die ondulierten, noch vollen weissen Haare hochgeschoben. Sie brauchte die Sehhilfe bloss zum Lesen, und nun, da sie sich gegenüber Brigitte und Sarah an den Tisch gesetzt hatte, spähte sie in die Ferne, zum Eingang hin. Plötzlich nickte sie zufrieden.
«Schön, mit euch Mädels zu feiern. Das Essen hier ist ausgezeichnet», sagte sie und eröffnete Brigitte und Sarah, dass das vierte Gedeck für einen mit ihr befreundeten Senior vorgesehen sei.
«Da kommt er», erklärte sie und winkte einem distinguierten Herrn, der leicht vornübergebeugt auf ihren Tisch zukam.
«Alf, darf ich dir meine Enkelin Brigitte und ihre Freundin vorstellen?», und zu den Mädchen gewandt: «Alf Arendt wohnt seit einem Jahr hier. Wir drehen täglich eine Runde im Garten und spielen zusammen Klugscheisser.»
Sarah runzelte fragend die Stirn, und Brigitte lachte: «Klugscheisser ist der Name eines Quiz. Es ist witzig. Bloss wer es zweimal gespielt hat, kennt die Antworten. Dann muss man sich neue Mitspieler suchen.»
«Nicht in unserem Alter. Für uns sind die Fragen täglich wieder neu», kicherte Adele.
«Nun übertreib deine Vergesslichkeit mal nicht», wandte Alf ein. «Brigitte hat recht. Ich jedenfalls spiele lieber Binokel. Binokel ist eindeutig besser.»
«Ja, aber wir haben auch Spass gehabt mit Klugscheissern», bemerkte Adele mit einem ironischen Lächeln. «Mit jenem Adolf Müller zum Beispiel. Der war ja der schlimmste Besserwisser weit und breit.»
Alf schaute die Mädchen vielsagend an. «Adolf Müller hat mir oft von diesen – entschuldigt den Ausdruck – sauteuren Hotels im Schwarzwald erzählt, wo er anscheinend ein- und ausgegangen ist», sagte er und grinste dabei. «Seine Erinnerungen schienen mir ziemlich akkurat. Doch ich kann es schlecht beurteilen. Ich machte mein Leben lang einen Bogen um die Sterne-Gastronomie. Meine verstorbene Frau und ich mochten es einfacher.»
Am nächsten Tag im Regionalzug von Karlsruhe, der sich das Tal hoch schlängelte und an jeder Station hielt, fragte Sarah: «Brigitte, hast du Einsicht in die alten Gästelisten? Jene der vergangenen Jahre?»
«Sicher. Ich muss nächste Woche die Weihnachtsgrüsse des Hotels verschicken. Rudi Rothfuss schreibt auf die Festtage hin immer alle vormaligen Gäste an. Warum fragst du?»
«Mich interessiert, ob jenes Hotel, in dem dieser Adolf Müller gemäss Alf ein- und ausgegangen ist, das unsrige war. Könnte ja sein.»
«Der Hundertjährige, der im Park verstarb?», fragte Brigitte.
«Ja, der knapp Hundertjährige, stand in der Zeitung», antwortete Sarah.
Eine Woche später erfuhr Sarah, dass Adolf Müller tatsächlich mehrmals im Hotel Tannwald übernachtet hatte.
«Er hat 2010 auch seinen 95. Geburtstag hier gefeiert», bestätigte Brigitte und dankte Sarah für den Tipp. «So muss ich schon einen weniger anschreiben. Oder ich könnte ihm die Weihnachtswünsche direkt in den Himmel schicken.»
«Oder in die Hölle.»
«Wieso denn das?»
«Och, bloss so. Er scheint nicht besonders beliebt gewesen zu sein.»
«Warum interessiert dich der Alte?», hakte Brigitte nach.
«Er interessiert mich nicht wirklich», wehrte Sarah ab und überlegte, ob Izzy diesen Adolf Müller 2010 im Hotel getroffen hatte.
«Sag einmal Brigitte, glaubst du an Intuition?», fragte sie.
«Sicher. Ich lebe davon. Ich kann dir schon beim Einchecken sagen, ob ein Gast nett oder kompliziert sein wird. Und es stimmt immer.»
«Hannes widerspricht. Er glaubt nicht daran. Muss immer alles prüfen, zweifach und dreifach, um sicher zu gehen.»
«Ja, so sind Männer. Frag einmal meine Oma. Sie würde meinen, er könne sich seine Mehrfachprüfungen sparen. Es gibt Dinge, die spürt man einfach.»
«Gustav, glaubst du an Intuition? Und an Telepathie?»
Der Duft von Anis, Ingwer, Muskat und Nelken hing in der Backstube, wo Gustav und Sarah Hand in Hand arbeiteten. Zusammen stachen sie im Advent an vier Wochentagen jeweils 500 Kilogramm Weihnachtsgebäck aus. Sarah staunte über Bezeichnungen wie Spitzbuben oder Springerle. Sie konnte sich keine zur Jahreszeit passendere Arbeit vorstellen, als hier mit Gustav Weihnachtsgutzle zu backen. Ausser vielleicht, Tännchen zu fällen. Das Radio spielte Weihnachtslieder, unterbrochen von