Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson
diese neue Perspektive, sie gefällt mir. Ich werde jetzt ein Konzept entwickeln und mir eine Fragestellung überlegen. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dir meinen Entwurf schicke? Eine Einschätzung von dir würde mich wirklich freuen. Jetzt mache ich mich aber mal lieber auf den Weg.«
»Selbstverständlich werde ich deine Überlegungen dazu mit Vergnügen lesen! Wenn es nach mir geht, war der weibliche Teil der Blauen schon immer der begabteste.«
Amelia lächelte nervös angesichts dieser persönlichen Bemerkung. Sie verstaute das Notizbuch in ihrer Tasche, stand auf und wandte sich zum Gehen.
»Ich begleite dich hinaus«, sagte Carlos und hakte sich bei ihr unter.
Als sie die Tür zum Empfangszimmer erreichten, hielt er sie zurück: »Halt, warte. Spürst du auch das Beben?«
»Wir müssen raus auf die Straße, schnell!«, schrie sie beinahe panisch. Sie hatte das Erdbeben von 1985, bei dem mehrere ihrer Mitschüler ihr Leben verloren hatten, noch allzu gut in Erinnerung.
»Amelia, wir befinden uns im zwölften Stock: Bevor wir unten sind, ist das Beben längst vorbei. Komm«, sagte er, legte den Arm um sie und führte sie zu einer Säule des Büros, gegen die er sich mit dem Rücken lehnte. Dies waren für eine Weile die letzten Worte, die sie miteinander wechselten.
Amelia klammerte sich an Carlos, steckte die Nase in sein offenes Hemd und ließ sich von seinem Geruch überfluten. Einen Augenblick später küssten sie sich. Den Moment, als das Beben aufhörte, bekamen sie nicht mit. Sie kehrten zurück auf das Sofa, von dem Amelia gerade aufgestanden war, rissen sich die Kleider vom Leib und erlebten gemeinsam einen langen, intensiven Orgasmus.
Amelia schloss die Arme um Carlos und legte den Kopf auf seine Brust. Sie konnte nicht mit Entschiedenheit sagen, ob sie gerade den besten Sex ihres Lebens gehabt hatte, aber anders war er gewesen, so viel war sicher, eine gänzlich neue Erfahrung. Mit sechzehn, einen zehn Jahre älteren Mann an ihrer Seite, hatte sie beschlossen, sich der in ihren Augen lästigen Jungfräulichkeit ein für alle Mal zu entledigen. Seither hatte sie mehrere zwei- bis dreijährige Beziehungen mit Männern geführt, die mindestens Ende zwanzig oder schon in den Dreißigern waren, von dem kurzen Flirt mit Tomás vor ein paar Monaten einmal abgesehen.
Der Sex war für sie immer ein Vergnügen gewesen, bei dem sie sich überlegen fühlte. Das war mit Carlos nicht der Fall. Dank des Einflusses ihrer Mutter hatte sie bislang nie ohne Präservativ mit einem Mann geschlafen, aber heute hatte sie an Verhütung überhaupt nicht gedacht, obwohl sie sogar ein paar Kondome in ihrer Tasche gehabt hätte. Es überraschte sie, wie sie sich von den heftigen Gefühlen, die die Begegnung mit Carlos in ihr auslöste, hatte mitreißen lassen. Der intime, lustvolle Blick, die tief empfundene Komplizenschaft, als sie sich lange in die Augen sahen, während er in sie eindrang, hatte alle Bedenken über Altersunterschiede und unmögliche Umstände weggefegt.
Kaum dass sich Carlos’ Atmung wieder normalisiert hatte, fing er an zu lachen, zuerst leise, dann immer lauter. Sie hob den Kopf und sah ihn neugierig an.
»Es ist die pure Freude«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie lange ich mich nicht mehr so gefühlt habe. Meinetwegen kann das Erdbeben jederzeit wiederkommen, ich werde in Dankbarkeit diese Welt verlassen.«
Am Ende lachte Amelia einfach mit, obwohl sie überhaupt noch keine Lust hatte, diese Welt zu verlassen. Doch sie teilte mit Carlos das Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit, das die gemeinsam erlebte Intimität ihnen geschenkt hatte.
Von da an sahen sie sich jeden Mittwochabend heimlich in seinem Büro. Sie sprachen über ihre Masterarbeit, aber auch über Sehnsüchte, Träume und Sorgen. Sie tranken Weißwein und liebten sich langsam und ausgiebig.
»Zu wissen, dass wir diesen einen gemeinsamen Abend haben, gibt mir für den Rest der Woche das Gefühl, der reichste Mensch der Welt zu sein«, sagte er. »Allein der Gedanke schenkt mir Zuversicht und ein wohlig warmes Gefühl im Bauch. Ein bisschen so, als wäre man in der Wüste, aber mit dem Wissen, dass einen hinter der nächsten Düne eine Oase erwartet.«
Ihr gefiel das Bild der Blase besser: Sie gingen beide ihrer täglichen Routine in der Uni oder Arbeit nach und führten weiterhin ihr jeweiliges Privatleben in dem vollen Bewusstsein, dass es nicht mehr gemeinsame Zeit für sie gab als diese drei oder vier Stunden in der Woche. Amelia war sich bewusst, dass Blasen dazu neigten, immer größer und größer zu werden, bis sie unweigerlich platzten, ganz egal, wie schillernd sie waren, doch die Blase hielt über acht Jahre.
Am Anfang fiel es ihr schwer, dem Impuls zu widerstehen, Carlos tagsüber anzurufen oder sich andere Umstände mit ihm vorzustellen. Doch nach und nach lernten sie beide eine Beziehung schätzen, die ihnen keine Verpflichtungen auferlegte, keine Einschränkungen oder Bedingungen jenseits der selbst gewählten, sich in dem begrenzten Rahmen ihrer wöchentlichen Treffen einander voll und ganz zu widmen.
Anfangs trafen sie sich regelmäßig einmal die Woche, später zwei- bis dreimal im Monat, je nachdem, wie ihre jeweiligen Terminkalender es zuließen. Aber die Blase blieb stets intakt, die Begegnungen innig und vertraut. Anfangs stand die ausgiebige gegenseitige Erforschung ihrer Sexualität im Vordergrund, die dank der fehlenden täglichen Routine nie eintönig wurde. Wie ein gutes Tanzpaar begannen sie Maße und Entfernungen, konkave und konvexe Formen zu erkennen, die natürlichen Bewegungen des anderen zu verstehen und sich zu eigen zu machen, sodass sie bald zu gemeinsamen wurden.
Je mehr Monate und Jahre vergingen, umso klarer wurde Amelia, wie wichtig ihr die Beziehung und ihre ausgleichende Wirkung geworden waren. Er lernte von ihr, gelegentlich Marihuana zu rauchen, außerdem brachte sie ihm das Kochen bei, wofür sie die Küchenzeile im Büro erweiterten und in eine Art Gourmet-Ecke verwandelten. Er half ihr dabei, ihre Redegewandtheit in einen sicheren Schreibstil zu übertragen, der sie zu einer erfolgreichen Buchautorin und renommierten Essayistin machte. Zusammen entdeckten sie ihre Liebe zu angelsächsischen Schriftstellern, die sie in der Originalsprache lasen.
Amelia genoss den Sex ebenso wie die langen Gespräche danach, denen sie sich nicht minder leidenschaftlich hingaben. Die absolute Vertrautheit in einer Beziehung, in der auf jeglichen Versuch der Kontrolle oder Manipulation verzichtet wurde, machte diese Begegnungen für Amelia zu Therapiestunden, in denen sie ihre Träume, Frustrationen und Unsicherheiten kennenlernte, die sie in keinem anderen Kontext zugegeben hätte, nicht einmal vor sich selbst.
Die Beziehung mit Amelia erlaubte Carlos, mit einem Teil von sich wieder in Kontakt zu treten, den er schon verloren geglaubt hatte: der Begeisterung dafür, etwas an den bestehenden Verhältnissen zu ändern oder sie infrage zu stellen, die Empörung gegenüber der Schlechtigkeit der Welt oder die bedingungslose Verzückung angesichts eines künstlerischen oder literarischen Werks. Vor allem aber waren es die Erfahrungen seines Körpers, die ihm wieder neues Leben einhauchten. Die Erinnerung an Amelia wirkte noch an den anderen Tagen der Woche in ihm nach und verlieh seinem Alltag ein angenehm erotisierendes Grundgefühl. Er hatte nie eine Schwäche für jüngere Frauen gehabt, sodass ihn Amelias Besuch in seinem Büro und besonders die Nachwirkungen dieser Begegnung ziemlich überrumpelt hatten. Etwas an ihrer Pfirsichhaut, an der Sinnlichkeit, mit der ihre langen Beine ihn umfingen, weckten in ihm Erinnerungen an eine jugendliche Sehnsucht, in der die vollkommene Intimität eine reale Möglichkeit darstellte. Die körperliche und erotische Begierde der jungen Frau, die ohne emotionales Kalkül der Lust in ihren unendlichen Formen freien Lauf ließ, wurde zur Triebkraft seines täglichen Lebens. Bei Geschäftstreffen mit gelangweilten Mandanten zeichnete er in Gedanken die Leberflecke auf Amelias Rücken nach. So wie sie liebte er die mitternächtlichen Gespräche, wenn ihre zufriedenen Körper den Seelen Raum gaben, sich zu öffnen.
Sie fanden heraus, dass die täglichen Schikanen und Niederträchtigkeiten des Lebens gebannt werden konnten, sobald sie sich in ihrer nächtlichen Blase im Schummerlicht, die Körper nach dem Liebesspiel ineinander verschlungen, alles erzählten. Manchmal erschien es ihnen, als wäre das eigentliche Paralleluniversum nicht ihr selbst erschaffenes mittwöchliches Stelldichein, sondern das Familien- und Arbeitsleben der restlichen Woche, das nur dazu diente, ihnen den Gesprächsstoff für ihre vertrauten Stunden zu liefern.
Es kam der Punkt, an dem Amelia wieder anfing, Paarbeziehungen