Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson
sich, die Signale, die ihr Körper aussandte, zu verdrängen. Der Anwalt war fünfundzwanzig Jahre älter als sie, womit er ihr Vater hätte sein können, ganz zu schweigen von den familiären und persönlichen Komplikationen, die jede engere Art von Verstrickung auslösen würde. Lemus’ Verhalten erleichterte ihr den Übergang in ein intellektuelles Gespräch. Er bat sie, auf dem Sofa Platz zu nehmen, während er sich selbst zwei Meter entfernt auf einem Sessel niederließ. Zwischen ihnen befand sich der Couchtisch.
»Du hattest gesagt, du möchtest deine Masterarbeit über das Freihandelsabkommen schreiben, das Carlos Salinas mit den Vereinigten Staaten und Kanada unterzeichnet hat. Aber du machst doch deinen Master gar nicht in Wirtschaft, sondern in Politikwissenschaften, hab ich recht?«
»Ja, aber ich will auch die sozialen und politischen Auswirkungen des Abkommens untersuchen, nicht nur die wirtschaftlichen.«
»Das klingt interessant«, räumte Lemus ein. »Es wird allerdings nicht ganz leicht sein, diesen Aspekt vom technokratischen Rest zu trennen. Wenn du die entstandene soziale Ungleichheit oder die Stärkung der Monopole analysierst, wird es dich viel Arbeit kosten zu unterscheiden, welcher Anteil auf die Vertragsklauseln zurückzuführen ist und welcher auf die Art und Weise, wie die Privatisierungen durchgeführt wurden, um die Großunternehmer auf Kosten des Mittelstandes zu bevorzugen, um nur ein Beispiel zu nennen.«
Amelia nickte konzentriert, während sie darüber nachdachte, dass es nicht nur das Aroma war, das ihr an Carlos gefiel: Es war, als würde er über den Themen schweben, um diese vollständig und im Zusammenhang zu betrachten, weshalb seine Bemerkungen immer präzise und treffend waren. Ein bisschen wie ein Adler, der das ganze Feld im Blick hatte, bevor er sich mit erstaunlicher Zielgenauigkeit auf eine winzige Beute herabstürzte.
Trotz aller Faszination war es nicht Amelias Art, sich von der Begabung eines anderen allzu leicht beeindrucken zu lassen. Mehr, um ihre Zweifel gegenüber Carlos zu nähren, als um der politischen Auseinandersetzung willen, ging sie zum Gegenangriff über: »Du bist also kein Salinist, soweit ich das verstanden habe, obwohl du der PRI angehörst. Ich halte nichts von Salinas’ vermeintlich modernisiertem Modell, aber wie sieht der Gegenvorschlag aus? Das alte System um jeden Preis aufrechterhalten?«
Carlos betrachtete sie lange schweigend, so, als sähe er sie gerade zum ersten Mal. Er ließ den Blick über ihren Rock schweifen, bemerkte ihre Ohrringe und die roten Lippen. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen war er ein großer Freund der Kontroverse und scharfen Auseinandersetzung. Jetzt erinnerte er sich wieder daran, wie sehr ihn die junge Frau schon früher fasziniert hatte, und er musste an die vielen Gespräche denken, die er mit den Freunden seines Sohnes geführt hatte, einfach weil es ihm Spaß gemacht hatte, die Widerreden und Einwürfe aus ihnen herauszukitzeln.
»Schau, Amelia, ich wurde Mitglied der PRI, weil es die einzige Möglichkeit war, mich aktiv an der Politik zu beteiligen. Jahrzehntelang war die Einheitspartei ein notwendiges Übel, um Stabilität und Wachstum zu gewährleisten: Während sich die restlichen lateinamerikanischen Länder immer wieder zwischen Aufständen und Militärdiktaturen zerrieben haben, ist es Mexiko gelungen, seine stürmische Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts und die Revolution zeigen, wie groß die Gefahr für das Land war, immer weiter auszubluten. Die Gewalt schien unserem Land in die Wiege gelegt zu sein. Erst das von der PRI eingeführte Präsidialsystem, in dem der Präsident nicht für eine zweite Amtszeit wiedergewählt werden darf, hat uns fünfzig Jahre Stabilität gebracht.«
Carlos’ Stimme war jetzt sachlich und monoton, und er schien ebenso mit ihr zu sprechen wie mit sich selbst. Wahrscheinlich hatte er dieses Thema schon unzählige Male ausgeführt.
»Doch seit den Siebzigerjahren passte das System immer weniger in die Zeit«, fuhr er fort. »Natürlich gab es PRI-Politiker, die auf Biegen und Brechen daran festhalten wollten, daher die Niederschlagung der Studentenbewegung von Achtundsechzig. Salinas’ Projekt ist ein Ausweg nach hinten, konform mit den Modernisierungsmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds und des Washington-Konsenses: Privatisierung, Minimierung der Rolle des Staates, Kürzung der öffentlichen Gelder et cetera et cetera, aber das geht zulasten der Sozialpolitik, die die PRI-Regierungen in all den Jahren – wenn auch nur zu Legitimationszwecken – vorangetrieben haben.«
»Du willst also sagen, es gibt drei Kategorien von PRI-Politikern: die neoliberalen Technokraten um Salinas, die Dinosaurier von der alten Garde, die glauben, dass das Regime bis in alle Ewigkeiten Bestand haben kann, und die Reformer wie dich.«
»Schön wär’s, wenn diese drei Tendenzen in der Partei vertreten wären. Tatsächlich sind die, die so denken wie ich, eine kleine Minderheit, und ich weiß nicht, ob wir überhaupt in der PRI bleiben können. Wie du siehst, bin ich derzeit kein Regierungsmitglied mehr«, sagte Carlos und deutete mit einer unbestimmten Geste auf seine Büroeinrichtung.
»Gehören die Reformen, die Reyes Heroles 1977 initiiert hat, zu dieser ideologischen Richtung, von der du sprichst?«
»Wie ich sehe, hast du dich gut in das Thema eingelesen«, sagte er und ließ den Blick über Amelias Körper wandern.
Sie rutschte verlegen auf dem Sofa hin und her und war erstaunt, als sie spürte, wie ihr angesichts seines Lobes die Röte ins Gesicht stieg, obwohl sie immer geglaubt hatte, weitgehend unabhängig von der Anerkennung durch andere zu sein.
»Du hast ganz recht«, fuhr er fort. »Präsident Echevarría gab zwischen 1970 und 1976 noch alles, um das alte Regime zu stärken – mit harter Hand in politischen Belangen und dem Ziel einer Ausweitung des paternalistischen Staates, doch mit all den Schwachstellen eines längst überholten Modells: Bürokratie, Verschwendung, Korruption, Vernachlässigung, von der Mafia unterwanderte Gewerkschaften. Als López Portillo 1976 an die Macht kam, wusste er, dass sich etwas ändern musste. Nur war es eher seine Stärke, brillante Reden zu schwingen, als klare Ideen zu entwickeln. Ambivalent, wie er war, ließ er zwei unterschiedliche Strategien parallel laufen: Er ernannte Reyes Heroles zu seinem Innenminister, um eine politische Reform von oben anzustoßen – eine Art vorgezogene Perestroika –, und gleichzeitig engagierte er eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, die an neoliberalen Universitäten in den Vereinigten Staaten promoviert hatten, und betraute sie mit der Leitung des Wirtschaftskabinetts.«
»Miguel de la Madrid, Salinas, Aspe und Konsorten«, ergänzte Amelia.
»Tatsächlich haben sie am Ende gewonnen. Reyes Heroles musste nach zwei Jahren gehen, und obwohl sich ein paar seiner Reformvorschläge schon konkretisiert hatten, wurde das Gesamtpaket abgelehnt. Was ihn aber letztlich zu Fall gebracht hat, war die Kombination aus alter Garde, die sich jeglicher Öffnung in den Weg stellte, und den jungen Technokraten, die darauf bestanden, dass es erst die wirtschaftlichen Reformen geben müsse und dann die sozialen und politischen.«
»Das heißt, die Dinosaurier und die Modernisierungs-Technokraten haben sich verbündet, um die reformerischen Tendenzen aufzuhalten?«
»Das ist ein interessanter Punkt. Die zwei Gruppierungen hatten eine seltsame Beziehung zwischen Annäherung und Distanz, und der Ex-Präsident Carlos Salinas ist eine Fusion aus beiden Lagern. Das zeigt sich bereits in seiner Biografie: Er war der Sohn eines Mitglieds der alten Garde, selbst aber Harvard-Absolvent und Verfechter des Washington-Konsenses. Was danach kam, ist Geschichte. Die Ereignisse rund um die Zapatisten-Bewegung und den Mord an Luis Donaldo Colosio im März, mitten im Präsidentschaftswahlkampf, zeigen aber schon, dass die sozialen Strukturen einem Wirtschaftsmodell nicht standhalten werden, das sich auf die Besserverdiener konzentriert und die Hälfte aller Mexikaner marginalisiert, vor allem diejenigen in den ländlichen Regionen. Die Technokraten kapieren nicht, dass eine Verbesserung der Wirtschaft nicht möglich ist, wenn man die Bauern ruiniert, es sei denn, es werden die nötigen politischen Maßnahmen ergriffen und strukturelle Änderungen vorgenommen, die es ihnen erlauben, sich wieder in das soziale und politische Leben einzugliedern.«
Amelia glaubte, genug gehört zu haben, um das Thema ihrer Masterarbeit zu konkretisieren. Sie hatte trotz des aufgeschlagenen Notizbuchs auf ihrem Schoß nichts mitgeschrieben, aber sie würde sich an das meiste erinnern, wenn sie sich zu Hause gleich an den Schreibtisch setzte. Sie wollte eigentlich noch nicht gehen, aber sie