Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson

Die Korrupten - Jorge Zepeda Patterson


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fertig. Trotzdem war er unzufrieden: Nahezu alles, was er über die Schönheit aus Sinaloa herausfinden konnte, hatte mit ihrem Liebesleben zu tun. Aber er hatte eine Idee, wer ihm helfen konnte. Vor einer Weile hatte er eine verschlüsselte Nachricht an Luis geschickt, dem besten Hacker seiner Generation.

      Luis war eine Legende, seit er mit vierzehn den Einfall gehabt hatte, über Torrent verschlüsselte Nachrichten zu schicken, die seine Freunde dann wie ein Video herunterladen konnten. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war er ein völlig atypischer Internetjunkie. Er war kein übergewichtiger Nerd, der in seiner virtuellen Welt eingesperrt lebte und kein Sozialleben hatte. Luis war charismatisch und attraktiv, außerdem Leichtathlet und eine Leseratte. Er verbrachte täglich kaum länger als vier bis fünf Stunden vor dem Bildschirm, was im Vergleich zu den üblichen vierzehn oder sechzehn Stunden eines jeden anderen Hackers, der etwas auf sich hielt, ein Klacks war.

      Was Luis auszeichnete, war sein natürliches, fundiertes und für sein Alter sehr fortgeschrittenes Verständnis diverser Programmiersprachen. Es war, als stammte er aus dem Land, wo sie gesprochen wurden – eine Art Mozart mit der Musik der Sphären in seinem Geist: Er brauchte nur eine Weile mit einem neuen Programm herumzuspielen, und schon hatte er die gesamte Partitur im Kopf.

      Vidal glaubte, dass Luis mit seinem Talent zu etwas Höherem bestimmt war, ebenso wie er selbst. Sie hatten sich sofort angefreundet, weil er eine geniale Idee von Luis, kaum dass der sie in einem Forum gepostet hatte, in die Tat umgesetzt hatte. Vidal hatte in zwei Tagen das gesamte Programm geschrieben und an dessen geistigen Urheber geschickt, der, wie sich herausstellte, in Guadalajara lebte. Dankbar für Vidals Arbeit hatte Luis vorgeschlagen, dass sie sich bei seiner nächsten Reise nach Mexiko-Stadt persönlich kennenlernen sollten. Seither versuchte Vidal, sich nützlich zu machen, indem er ihn über die neuesten Entwicklungen in der Cyber-Welt auf dem Laufenden hielt, und bereits zweimal hatte er Luis auf dessen Bitte hin beim Schreiben umständlicher Programme geholfen. Luis hatte ihn in beiden Fällen großzügig entlohnt, denn immerhin waren die Programme Teil seiner Beratertätigkeit für einen Software-Entwickler in Santa Fe, New Mexico.

      Vidal hatte Luis noch nie um einen Gefallen gebeten, aber er wusste, dass sich sein Freund für den Fall interessieren würde, denn das war seine eigentliche Leidenschaft: Geheimnisse aufdecken, und zwar einfach, weil es ihm Spaß machte. Wenn es WikiLeaks noch nicht geben würde, dachte Vidal, wäre Luis wahrscheinlich gerade dabei, es zu erfinden. Sein Freund hatte ohne Zweifel etwas von Julian Assange, nur dass ihm die persönliche Anerkennung nicht so wichtig war wie dem Australier. Im Grunde war er mehr ein Voyeur als ein Verbreiter von Informationen: Er hackte sich in vertrauliche Datenbanken ein, stöberte eine Weile darin herum und fand das eine oder andere drollige oder verfängliche Detail, bis er sich wieder aus dem Staub machte, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Er verschaffte sich Zugang zu geheimen Archiven mit der Neugier eines Sammlers oder Herzensbrechers, der das Interesse am Gegenstand seiner Begierde sofort verlor, sobald er ihn bekommen hatte.

      Vidal aktivierte den Bildschirm, um zu sehen, ob es etwas Neues von seinem Freund gab. Der Download über Torrent dauerte ein paar Minuten, aber Sicherheit ging vor. Enttäuscht stellte er fest, dass der Ordner noch immer leer war, und beschloss, dass jetzt ein guter Zeitpunkt für einen Ausflug auf die Dachterrasse war.

      Der Joint fühlte sich gut an. Vidal spürte, dass es genau das Richtige gewesen war, die Schule zu verlassen und seine ganze Zeit darin zu investieren, sich unter den Profis im Cyberspace einen Namen zu machen. Luis hatte ihm achttausend Dollar für den ersten Job und zehntausend für den zweiten bezahlt. Er wollte noch einen dritten an Land ziehen, bevor er seinen Eltern schließlich zeigte, was er verdient hatte. Auf diese Weise wollte er sie davon überzeugen, dass seine Arbeit so ehrenwert war wie jede andere auch, nur vermutlich um einiges lukrativer.

      Er träumte von der Möglichkeit, Luis’ Fähigkeiten mit Tomás’ beruflichen Beziehungen zu verknüpfen und etwas zu erschaffen, das ihnen zu Ruhm und Reichtum verhelfen könnte. Vielleicht ein Online-Magazin auf der Basis solider journalistischer Arbeit mit explosivem Material oder eine Fernsehsendung mit investigativem Journalismus, deren Enthüllungen die Zuschauer in Erstaunen versetzten. Dabei müssten es nicht einmal politische Skandale sein – jede unerwartete Information über das Leben eines x-beliebigen Städters wäre gut genug. Es wäre in etwa so, wie wenn ein Mentalmagier seinem verblüfften Publikum den Inhalt einer fremden Brieftasche verriet.

      Als Vidal spürte, dass die Wirkung des Marihuanas nachließ, kehrte er an seinen Schreibtisch zurück. Er führte abermals den entsprechenden Download durch und musste einige Minuten warten, da er diesmal tatsächlich mehrere große Dateien enthielt. Er speicherte sie auf einem USB-Stick, kopierte sie auf seinen Laptop, der nicht mit dem Internet verbunden war, löschte den Download auf dem Desktop-Computer und begann zu lesen. Nun, da die Dateien heruntergeladen waren, würden sie automatisch von Torrent gelöscht werden.

      Der Download umfasste mehrere Ordner. Im ersten befanden sich verschiedene Dokumente mit Bezug zu dem Gebäude, in dem Salazar sein Büro hatte und in dem die Schauspielerin allem Anschein nach ermordet worden war: das Grundbuch, ein Grundriss des Hauses, die aktuellen und die vorherigen Besitzer. Der zweite Ordner enthielt einen eindrucksvollen Stammbaum von Patricia Serrano.

      Die Ahnenforschung war ein weiteres Hobby von Luis: Während die Daten der Einwohnermeldeämter des Landes immer weiter digitalisiert wurden, hatte sich Luis einen Spaß daraus gemacht, ein Programm zu entwickeln, das die Datenbanken scannte und anschließend miteinander verglich, indem es die Daten in Form einer Grafik, die einem Wald aus Baumdiagrammen ähnelte, übereinanderlegte, Dopplungen eliminierte und Unpassendes verwarf. Dabei verflochten sich die Äste der Bäume mit denen anderer und offenbarten eine weit verzweigte Landkarte des jeweiligen Familienclans. Luis hatte einmal überlegt, die Ergebnisse den Zeugen Jehovas zu zeigen, die es aus irgendeinem religiösen Grund für nötig befanden, die Ahnen ihrer Mitglieder zu kennen. Vidal hatte nie nachgefragt, was aus dem Projekt geworden war.

      Im Stammbaum der Serranos und der Plascencias – die ursprünglichen Nachnamen von Dosantos – entdeckte Vidal zahlreiche Namen, die mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht wurden, obwohl das in Sinaloa nicht sonderlich überraschte, wo Fonseca, Beltrán und Félix geläufige Namen waren, die sich mit verschiedenen Plascencias mischten, unter anderem mit der Mutter der Schauspielerin. Er würde den Stammbaum mit mehr Ruhe durchgehen und mit den Polizeiakten vergleichen müssen, um zu sehen, ob es da etwas Aufschlussreiches gab. Wahrscheinlich war sein Freund genau damit gerade beschäftigt.

      Der dritte Ordner war der aufregendste. Es handelte sich um drei Aufnahmen von einem Auto, die anscheinend von Kameras gemacht worden waren, die den Verkehr in der Hauptstadt überwachten. Auf einer war das Auto von hinten zu sehen, sodass das Nummernschild zu erkennen war. Eine andere zeigte dasselbe oder ein sehr ähnliches Fahrzeug, wie es um eine Straßenecke bog, die Vidal nicht identifizieren konnte, doch auf dem Videomitschnitt waren Orts- und Zeitangaben vermerkt: »19. November 2013, 14.46 Uhr, Calle Nueva York / Insurgentes, Col. Nápoles.« Die dritte Aufnahme war die mit der schlechtesten Qualität. Zu sehen waren derselbe Wagen von der Seite, ein Fahrer und eine Frau mit langen dunklen Haaren auf dem Beifahrersitz. Dosantos?, fragte sich Vidal mit angehaltenem Atem.

       9

       Montag, 25. November, 21.30 Uhr

       Tomás und Amelia

      Auf dem Weg zu ihrem Treffen mit Tomás hatte Amelia gedacht, dass es eine gute Idee gewesen war, sich in der Bar vom Sanborns zu verabreden. Das Lokal war spärlich beleuchtet, die leise Musik erlaubte es, sich zu unterhalten, und es gab viele Ein- und Ausgänge, um zu verschwinden, wenn es nötig sein sollte. Doch während sie durch die Bücher- und CD-Regale des Ladens schlenderte, fragte sie sich, ob ihr das Unterbewusstsein nicht einen Streich gespielt hatte. Als sie vierundzwanzig gewesen waren, hatten Tomás und sie sich regelmäßig im Sanborns getroffen, wenn auch nicht in diesem hier, sondern in einem in der Zona Rosa, um anschließend ins Museum oder ins Kino zu gehen, und ausgerechnet in einer Bar dieser Kette hatte sie einen Schlussstrich unter die Beziehung gesetzt, die irgendwann über ein rein freundschaftliches Verhältnis hinausgegangen war.


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