Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson

Die Korrupten - Jorge Zepeda Patterson


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zu denen sie sich nie hätten hinreißen lassen sollen, obwohl in Wahrheit wenig gesagt, dafür umso mehr gefühlt worden war. Beerdigungen sind kein guter Zeitpunkt, um sich auszusprechen, fand Tomás, da liegen die Emotionen sowieso blank.

      »Ich hoffe, diesmal endet unser Treffen besser als beim letzten Mal«, sprach Tomás seine Gedanken laut aus.

      »Bestimmt. Diesmal ist einer von uns in Gefahr.«

      Tomás widerstand der Versuchung, sich über Marios Ton lustig zu machen, der ihn stark an Die drei Musketiere erinnerte. Es war nicht nötig, der jugendlichen Naivität seines Freundes einen Dämpfer zu verpassen, und wahrscheinlich hatte der sogar recht – sonst hätten Jaime und Amelia nicht nach so vielen Jahren an ein und demselben Tag Kontakt mit ihm aufgenommen.

      Diese Überlegung und Marios ansteckender Enthusiasmus stimmten ihn ein wenig zuversichtlicher. Vielleicht war die unbeabsichtigte Wirkung seiner Kolumne letztlich gar nicht so unglückselig: Auf diese Weise war sie wieder ins Blickfeld gerückt, und vielleicht konnte er die Aufmerksamkeit nutzen, um seiner Arbeit als Kolumnist wieder mehr Gewicht zu verleihen. Das barg natürlich Risiken, aber die schlimmste Gefahr war immer noch der Stillstand, in dem sich sein privates und berufliches Leben derzeit befanden: Ein Tag nach dem anderen verging, ohne dass er wirklich etwas erwartete, während seine Überzeugung wuchs, dass an dem Bahnsteig, auf dem er stand, kein Zug mehr vorbeikam. Und dennoch war unverhofft diese Lokomotive aufgetaucht, die womöglich seine letzte Hoffnung war – vorausgesetzt, sie überrollte ihn nicht.

      Er malte sich den vor Tatendrang sprühenden, einflussreichen Journalisten aus, der er sein könnte. Er hatte immer geglaubt, das Talent dazu zu haben, nur leider mangelte es ihm an Ehrgeiz. Vielleicht würde der Überlebensinstinkt ihm die Energie geben, die ihm in seinem Leben seit einiger Zeit fehlte. Aber als Erstes musste er ein paar Dinge regeln.

      Tomás verabschiedete sich von Mario und wertete es als einen Glücksfall, dass direkt vor dem Eingang des Cafés ein freies Taxi stand, wie für ihn bestellt. Er nannte dem jungen Fahrer die Straße, in der seine Ex-Frau und Tochter lebten, und überlegte kurz, ob er sich bei Jimena ankündigen sollte, beschloss dann aber, das Handy lieber nicht zu benutzen. Sie würde sicher schon von ihrem Deutschunterricht zurück sein. Ihm war völlig schleierhaft, was seine Tochter dazu antrieb, eine Sprache zu lernen, die in Mexiko von so geringem Nutzen war, aber so war sie nun mal. Sie schien in vielerlei Hinsicht eher Amelias Tochter zu sein als Teresas, die zwar schon vor Jahren die langen Hippieröcke abgelegt hatte, nicht aber die betont lockere, selbstgefällige Art, mit der sie durchs Leben ging. Jimena war da ganz anders, immer souverän und mit schlagkräftigen Argumenten sowie teilweise etwas rigiden Meinungen im Gepäck. Vielleicht war es das, was ihr an der deutschen Sprache so gefiel, dachte Tomás, obwohl er keine Ahnung hatte, ob die deutsche Grammatik ebenso unerbittlich war wie der scharfe Klang dieser Sprache.

      Es war früher Abend, der Verkehr auf der Avenida de los Insurgentes war zäh, und es ging nur mühsam voran. Die beiden Fahrspuren glichen langen bunten Schlangen, die sich langsam Richtung Süden bewegten. Die Dichte des Verkehrs hinderte die Autofahrer nicht daran, in einem fort die Spur zu wechseln. Unverzeihlich sind in Mexiko nur zwei Dinge: die Verletzung der Ehre und eine Lücke in einer Autoschlange zu lassen, dachte Tomás, obwohl er sich bei Ersterem nicht mehr ganz so sicher war.

      Doch der Taxifahrer schien es nicht sonderlich eilig zu haben. Umso besser, dann konnte er sich eine Weile ausruhen. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.

      »Heute schon Feierabend, Patrón?«

      »Mhm«, antwortete er lustlos.

      Früher hatte sich Tomás gerne mit Taxifahrern unterhalten. Ihnen eilte der Ruf voraus, den Puls einer Stadt am besten zu kennen, aber nach vielen Jahren bedeutungsloser Konversation war Tomás zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen urbanen Mythos handeln musste, genährt von ausländischen Berichterstattern, die zu faul waren, ihre Arbeit gründlich zu machen – drei Fahrten mit dem Taxi, und sie glaubten zu wissen, wie das Herz der Metropole schlug. Gleichwohl fühlte er sich in seinem neuerlichen Bestreben, ein einflussreicher Journalist zu werden, zur Unterhaltung verpflichtet.

      »Wie läuft das Geschäft? Immer gut zu tun?«

      »Immer weniger. Der Verdienst reicht kaum noch, um die Kosten für das Auto zu decken. Diese verdammten Fahrräder nehmen uns massenhaft Kunden weg.«

      Für Tomás klang das nach einer ziemlichen Übertreibung, aber der junge Mann kannte sein Geschäft sicher am besten. Er betrachtete ihn mitfühlend und sah sich dann im Taxi um. Ein Coffee-to-go-Becher von Starbucks in der Konsole zwischen den Vordersitzen erregte seine Aufmerksamkeit: ein kaum bezahlbarer Luxus für einen Taxifahrer in einer finanziell schwierigen Situation. Die Widersprüche des modernen Lebens, sagte er sich. Ein farbenfrohes Detail für einen zukünftigen Artikel über das Phänomen, wie Modeerscheinungen der westlichen Welt den verarmten Sektoren unserer Länder einfach aufgezwungen werden.

      »Und wie steht es mit der Sicherheit? Ist die Arbeit als Fahrer nicht ziemlich gefährlich?«

      »Ich nehme hier eine Abkürzung, die Insurgentes ist völlig überlastet«, sagte der Fahrer und bog noch im selben Moment in eine kleine Nebenstraße ab. »Man ist wachsam. Aber wie man sieht, trifft es sogar die Künstler.«

      »Allerdings«, erwiderte Tomás und verfluchte sich für den idiotischen Einfall, das Thema Sicherheit anzuschneiden.

      »Wie sehen Sie die Sache, Patrón? Wer hat die Frau auf dem Gewissen?«

      Das Klingeln des Handys bewahrte ihn gerade rechtzeitig davor, antworten zu müssen. Er kramte in seinen Taschen, bis ihm einfiel, dass sein Handy ausgeschaltet war. Es musste das Telefon des Taxifahrers sein, der in diesem Moment in seine Jackentasche griff und den Anruf wegdrückte. Ein BlackBerry der neuesten Generation, dachte Tomás, zumindest sah es genauso aus wie das von Jaime an diesem Morgen.

      Er musterte den jungen Fahrer noch einmal genauer und glaubte zu erkennen, dass dieser Markenkleidung trug – obwohl er sich in der Hinsicht nicht als Experte verstand. Er dachte noch einmal an den Moment zurück, als er in das Taxi gestiegen war, und eine Ader auf seiner Stirn begann zu pochen, da ihm klar wurde, dass der Wagen draußen vor dem Le Pain Quotidien gestanden und womöglich dort auf ihn gewartet hatte.

      Jeder Hauptstädter kannte den Modus Operandi von Überfällen in Taxis. Inzwischen waren sie zwar sehr viel seltener als in den Neunzigern, aber die Berichte über den Ablauf hatten sich kaum geändert. Der Wagen bog in der Regel bald auf weniger befahrene Nebenstraßen ab, bis schließlich ein zweiter Wagen auftauchte, aus dem ein Komplize ausstieg. Der setzte sich auf den Beifahrersitz und bedrohte das Opfer mit einer Waffe. Darauf folgte eine lange Prozedur, bei der mit sämtlichen Bank- und Kreditkarten die Konten des Opfers an verschiedenen Geldautomaten der Stadt leer geräumt wurden. Allerdings ließen ihn das gepflegte Äußere und die athletische Körpersprache des jungen Fahrers vermuten, dass hier niemand hinter seinem Geld her war.

      Tomás rutschte auf den Platz hinter dem Beifahrersitz, damit ihn der Fahrer nicht mehr über den Rückspiegel im Blick hatte, und drehte langsam den Kopf, um zu überprüfen, ob ihnen jemand folgte. Etwa einen halben Block entfernt bemerkte er einen weißen Lieferwagen mit mehreren Insassen; damit war die Sache für ihn klar.

      Vorsichtig versuchte er, die Tür zu öffnen, um aussteigen zu können, sobald der Fahrer die Geschwindigkeit drosselte, aber es ging nicht. Er nahm an, dass es die Kindersicherung war, durch die sich die Tür nur von außen öffnen ließ; mit der linken Tür verhielt es sich bestimmt nicht anders.

      Zwei Häuserblocks weiter bog das Taxi nach links in eine kleine Straße ein. Noch während der Wagen um die Kurve fuhr, schlug Tomás dem Fahrer mit den Knöcheln der rechten Hand hart gegen das Kinn. Der Kopf des Mannes schlug gegen das Fenster, dennoch hielt er das Lenkrad – womöglich durch ein Art Reflex – weiterhin fest umklammert, sodass das Auto seinen Kurs fortsetzte. Das Taxi prallte gegen den Vorderreifen eines alten Kombis, der am linken Straßenrand geparkt war, und kam zum Stehen. Der Fahrer schien das Bewusstsein verloren zu haben, aber Tomás nahm sich nicht die Zeit, das zu überprüfen. Er wusste, dass ihm nur wenige Sekunden blieben, bevor der Lieferwagen


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