Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson
würde. Sie entdeckte ihn an einem der hinteren Tische, wo er in Gedanken versunken die Olive betrachtete, die in seinem Cocktail schwamm.
»Einen Martini hatte ich mir auch bestellt, als wir uns das letzte Mal in einem Sanborns getroffen haben. Ich frage mich, wie unser Leben heute aussehen würde, wenn dieses Gespräch damals anders verlaufen wäre. Vielleicht hätten wir jetzt Kinder und ein Zweithaus in Valle de Bravo«, sagte Tomás zur Begrüßung, und seine Ironie war nicht frei von Bitterkeit.
»Oder wir wären uns spätestens drei Jahre nach der Hochzeit fremdgegangen und würden heute kein Wort mehr miteinander reden«, konterte Amelia gelassen. Sie ging zu ihm und zog ihn in eine lange Umarmung.
Der vertraute Geruch und der enge Kontakt mit Tomás’ Körper vermittelten ihr ein so überwältigendes Gefühl von Nachhausekommen, dass sie sich fragte, ob sie damals, vor achtzehn Jahren, nicht doch die falsche Entscheidung getroffen hatte.
»Wie geht es dir? Hast du schon irgendwelche Reaktionen auf deinen Artikel?«, erkundigte sie sich und schüttelte die nostalgischen Gefühle ab.
»Sie haben mir eine Drohung auf mein Handy geschickt. Und ich laufe seit Stunden durch die Stadt, nachdem die Schergen von diesem Gorilla versucht haben, mich im Taxi zu entführen. Ich bin ihnen nur knapp entwischt.«
»Im Ernst? Bist du sicher, dass es nicht ein ganz normaler Raubüberfall war?«
»Glaub mir, das waren keine Taschendiebe. So, wie die aussahen und wie sie sich verhalten haben, waren das eindeutig Agenten oder Auftragskiller.«
»Wenn Salazar die Typen auf dich angesetzt hat, dann wollten sie dich wahrscheinlich an einem vertraulichen Ort dazu bringen, mit ihm oder einem seiner Unterhändler zu sprechen.«
»Dafür müssten sie mich ja nicht gleich entführen, oder?«
»Für sie wäre es von Vorteil, wenn du bei dem Gespräch schon eingeschüchtert bist. Bestimmt ist Salazar jetzt gerade mehr daran interessiert, dich mit ins Boot zu holen und zu erfahren, woher du die Informationen hast, als dich verschwinden zu lassen. Du musst bedenken, dass er nach deiner Kolumne von heute der Hauptverdächtige wäre, wenn dir etwas zustoßen würde. Apropos, woher hattest du überhaupt die Info mit dem Haus von Salazar?«
Tomás stieß einen Seufzer aus und erzählte beinahe im gleichen Wortlaut, was er zuvor schon Jaime über sein Mittagessen mit dem Rechtsanwalt Raúl Coronel berichtet hatte. Nur dass ihm diesmal, während er sich selbst zuhörte, die Art und Weise, wie er sich hatte bezirzen lassen, noch unverantwortlicher und törichter vorkam. Amelias forschender Blick bestätigte sein Gefühl: Er war ein Dummkopf gewesen.
»Er sagte, das Detail sei zu gut, um es zu ignorieren«, fügte Tomás erklärend hinzu.
»Ich werde versuchen, mehr über Coronel herauszufinden. Er könnte uns zum Kern der Sache führen«, schlug sie vor.
Tomás hörte sie gar nicht mehr, so laut hallte der letzte Satz seiner Verteidigungsrede in ihm nach. Etwas ließ ihn nicht in Ruhe, aber er konnte es nicht greifen, wie ein Alarm, der nur ganz leise aus unbestimmter Ferne zu hören war.
Als er sich wieder gesammelt hatte, erzählte er Amelia von seinem Gespräch mit Jaime.
»Er hat natürlich nicht ganz unrecht, aber nimm nicht alles wörtlich, was er sagt. Ganz sicher hat er selber was davon, wenn du über seine Themen schreibst. Schau dir das Material, das er dir für die Kolumne gibt, auf jeden Fall genau an. Ich kann dir sonst auch noch was geben, das für einen hübschen Artikel reichen dürfte. Hinter den illegalen Anzapfungen der Pipeline von PEMEX steckt ein Gouverneur – dabei geht es um einen Jahresumsatz von mehreren Hundert Millionen.«
»Das interessiert mich. Gib mir einfach die Daten. Anhand der Informationen werde ich ein paar Telefonate führen, um die Sache zu untermauern. Ein Mitglied der Industriegewerkschaft Bergbau schuldet mir noch einen Gefallen«, erwiderte Tomás munter.
Amelia lächelte. Sie wusste, dass ihr Freund eine Vorliebe für Benzin-Skandale hatte.
Tomás war damals, als er noch als Reporter gearbeitet hatte, plötzlich berühmt geworden, als er die wahre Ursache für die Explosionen im Kanalnetz von Guadalajara im Jahr 1992 öffentlich gemacht hatte. Nach der offiziellen Version handelte es sich um einen Unfall, der angeblich der Nachlässigkeit der Industrie in Guadalajara geschuldet war, die ihre Abwässer über die Kanalisation entsorgt hatte, aber Tomás zeigte anhand einer Reihe von Reportagen auf, dass sich hinter der Tragödie ein Verbrechen von gigantischem Ausmaß verbarg. Die Verantwortlichen eines Erdölspeichers erhielten über die Pipeline aus Salamanca viel mehr Benzin, als sie inventarisierten, was es ihnen ermöglichte, riesige Mengen von Treibstoff und Lösungsmitteln auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Am einundzwanzigsten April desselben Jahres wurden sie vor der Gefahr einer Wirtschaftsprüfung gewarnt, weshalb man sich entschloss, den illegalen Treibstoff kurzerhand über die Kanalisation zu entsorgen. Es handelte sich um mehrere Tonnen. Um zehn Uhr morgens des darauffolgenden Tages kam es, wahrscheinlich ausgelöst durch einen Funken, zu zahlreichen Gasexplosionen im Kanalnetz der Stadt, wobei Straßen von insgesamt acht Kilometern Länge in die Luft flogen, Hunderte von Menschen starben und Zigtausende ihre Häuser und Wohnungen verloren. Die Ergebnisse von Tomás’ Nachforschungen gingen durch die internationale Presse, er wurde mit zwei Journalistenpreisen ausgezeichnet und bekam schließlich den Job als Kolumnist bei El Mundo. Aus eigenem Verdienst auf diese Bühne zurückzukehren, und wieder durch einen Benzin-Skandal, würde die letzten faden Jahre der beruflichen Mittelmäßigkeit wieder wettmachen.
Die bloße Vorstellung brachte Tomas’ Augen zum Leuchten, er sah sich selbst wieder als den umjubelten Journalisten im Zentrum des politischen Geschehens.
Unwillkürlich stellte er sich die Frage, ob ihm das auch eine zweite Chance bei Amelia einräumen würde. Knapp zwanzig Jahre zuvor hatten ihn beim Umwerben der Freundin, die fünf Jahre vor ihm erwachsen geworden war, alle erdenklichen Unsicherheiten geplagt. Mit einer gewissen Genugtuung überlegte er, dass sich die Alterskurven schon in ein paar Jahren umkehren würden. Mit vierundzwanzig hatte ihre Schönheit Männer aller Altersklassen angezogen, während er gerade erst seine verspätete Pubertät hinter sich gehabt hatte. Es war ein ungleiches Spiel gewesen. Doch nun, da sie in ihren Vierzigern waren, würde er noch eine Weile für Frauen attraktiv bleiben, die zwanzig Jahre jünger waren als er, während Amelias Auswahl bald auf Männer an der Schwelle zum Greisenalter beschränkt sein würde. Tomás beschloss, ihr irgendwann noch einmal den Hof zu machen und in aller Großzügigkeit zu demonstrieren, dass er sie den jüngeren Frauen vorzog.
Diese Überlegungen und zwei weitere Martinis erfüllten ihn mit neuem Optimismus. Das einzige Problem an der Sache war, dass sich Amelia um all das gar nicht zu kümmern schien. Ihre festen, sonnengebräunten Schenkel, die sie soeben anmutig übereinandergeschlagen hatte, sprachen obendrein gegen Tomás’ Gedankenspiele.
»Ich will ganz offen mit dir sprechen«, kündigte Amelia an. »Die Dosantos-Geschichte ist ein Kratzer im Ansehen der neuen Regierung, und den müssen wir ausnutzen. Wir müssen dafür sorgen, dass aus dem Kratzer ein ausgewachsener Riss wird. Wir müssen die Wunde öffnen und vor aller Augen untersuchen, bevor das System sie unbemerkt wieder verschließt.«
Offensichtlich machte sich Amelia mehr Gedanken über ihre politische Agenda als über den hormonellen Alterungsprozess, dem sie biologisch unterworfen war.
»In Ordnung«, willigte Tomás ein, nachdem er sich wieder gesammelt hatte. »Ich würde gerne mehr über den Mord an Pamela Dosantos herausfinden, nicht in erster Linie, um darüber zu schreiben, sondern weil wir den Stand der polizeilichen Ermittlungen kennen müssen, wenn wir die Sache ausschlachten wollen. Immerhin wissen wir noch gar nichts über ihre mögliche Verbindung zu Salazar oder die Motive, die jemand gehabt haben könnte, sie aus dem Weg zu räumen.«
»Du hast recht, das wäre sonst selbstmörderisch«, gab Amelia zu und betrachtete ihren Freund zum ersten Mal an diesem Abend mit Respekt. »Das Schlimmste, was passieren könnte, ist, dass sich alles als großer Bluff entpuppt. Wir sollten das Terrain kennen, das wir betreten.«
»Ich habe ein paar Kontakte zur Polizei der Stadt, das