Die Geheimnisse von Paris. Эжен Сю

Die Geheimnisse von Paris - Эжен Сю


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oder Wirklichkeit? So kurze Zeit er das Gesicht gesehen, so war es ihm doch gewesen, als wenn er darin gewisse charakteristische Züge wiedererkannt hätte: die grünen, unter starren Brauen funkelnden Augen, die Totenblässe, die schmale, an einen Adlerschnabel erinnernde Nase mit der eigentümlich ausgedehnten Nasenwand: dies alles erinnerte ihn frappant an einen gewissen Abbé namens Polidori, von dem schon zwischen Murph und Exzellenz Graun die Rede gewesen war. Nur eins weckte Zweifel in ihm: der Priester, den er in diesem Scharlatane wiederzuerkennen meinte, hatte kein so fuchsrotes, sondern tiefbraunes Haar gehabt. Im übrigen wunderte er sich keineswegs, daß der einem geweihten Stande angehörige Mensch, von dessen scharfem Verstande und bedeutendem Wissen er mehr denn eine Probe kannte, gesellschaftlich so tief gesunken war; daß der Mann moralisch verderbt war, die Menschheit verachtete und der Völlerei anhing, hatte er schon gewußt, als er zum ersten Male mit ihm in Beziehung gekommen war, also vor fünfzehn oder sechzehn Jahren.

      »Wohnt der Mann schon lange hier?« fragte er Pipelet. – »Seit etwa Jahresfrist. Im Januar ist er wohl eingezogen. Er zahlt, wie gesagt, pünktlich und hat mich von einem heillosen Reißen befreit. Bloß einen Fehler hat er: er zieht über alles im Leben her und schont keinen seiner Mitmenschen. Bei den Witzen, die er mitunter reißt, überläufts einen eiskalt«.

      Rudolf wurde hierdurch noch mehr bestärkt, sich Gewißheit über diesen Mann zu schaffen, denn wenn sich hinter ihm wirklich jener Polidori versteckte, so konnte ihm dessen Anwesenheit hier im Hause von unberechenbarem Nachteile werden. Von der Meinung immer stärker beherrscht, daß sich hinter dem schrillen Schmerzensschrei, den er vernommen, ein schlimmes Geheimnis verberge, folgte Rudolf dem Pförtner in das obere Stockwerk und betrat mit ihm das Zimmer, das er zu mieten in Aussicht genommen hatte, und das sein Licht durch zwei auf die Straße hinausgehende Fenster erhielt. Einen Moment dachte er, auf die Wohnung zu verzichten, hatte aber der Gründe zuviel, die ihn zum Gegenteil bestimmten, und so drückte er dem Pförtner hundert Sous in die Hand und sagte: »Mir gefällt die Stube recht gut. Ich werde morgen mein Mobiliar schicken und Ihnen unten Draufgeld geben. Daß ich mit Herrn Rotarm selbst rede, ist wohl nicht notwendig?« – »Durchaus nicht,« antwortete der Pförtner, die hundert Sous vergnügt in die Tasche schiebend, »er kommt immer nur her, wenn er mit Mutter Burette etwas zu reden hat. Mit den Mietern mache ich in der Regel alles ab. Aber Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt, Herr?« – »Rudolf.« – »Bloß Rudolf?« – »Jawohl, Herr Pipelet, bloß Rudolf!« versetzte Rudolf lächelnd. – »Na, ich frage ja nicht aus Neugierde, denn Sie wissen doch, Name und Wille sind frei, wie die Gedanken auch.« – »Eins noch, Herr Pipelet,« sagte Rudolf, »ich darf wohl morgen einmal zu Morels gehen, mich als Nachbar vorstellen und fragen, ob ich ihnen irgendwie nützlich sein kann?« – »Warum nicht?« antwortete Pipelet; »kann mir schon denken, worauf Sie hinauswollen. Sie möchten wohl auch bei der kleinen Nachbarin den netten Nachbar spielen? Unsre Lachtaube hat doch sicher schon gehört, daß sich jemand die Wohnung ansieht, und steht gewiß schon Posten, um Sie zu sehen, wenn Sie wieder hinuntergehen. Na, passen Sie nur auf! Ich werde die Tür stark ins Schloß fallen lassen, damit sie es hört, daß wir kommen.«

      Rudolf sah wirklich, daß die mit ein paar Amorettenfiguren bemalte Tür leicht angelehnt war, sah auch durch die schmale Spalte hindurch den Schatten von einem Näschen und ein großes schwarzes, lebhaftes und neugieriges Auge. Sobald er aber mit dem Schritt ein wenig anhielt, wurde die Tür schnell herangezogen. – »Na, was habe ich gesagt?« meinte der Pförtner, »aber – einen Moment! Ich will mich nun doch auf mein kleines Observatorium begeben.« – »Was nennen Sie so?« fragte Rudolf. – »Ueber der Leiter hier liegt ein Vorsaal, dahinter liegt Morels Stübchen, und hinter einer Tapete befindet sich ein kleines schwarzes Loch, durch das man sehen kann, und auch hören, genau so gut, wie wenn man mit in der Stube ist. Spionieren und horchen ist ja sonst meine Sache nicht; manchmal aber gehe ich doch hin, weil es mich prickelt, ein bißchen Elend mal in natura zu sehen, nicht bloß, wie man es sonst im Theater bloß sieht. Komme ich dann wieder in meine eigene Stube, so komme ich mir vor wie in einem Palaste.« – Pipelet stieg die Leiter hinauf, die zu der Dachwohnung führte, und sagte zu Rudolf, er möchte inzwischen hinuntergehen, er würde gleich wieder bei ihm sein.

      Rudolf warf einen letzten Blick nach der Tür, hinter der die Jungfer Lachtaube weilte, und wollte eben hinuntergehen, als er im untenliegenden Stockwerk jemand durch die Tür treten hörte. Er erkannte den leichten Tritt eines weiblichen Wesens, unterschied auch das Rauschen eines Seidenkleides. Da er nicht neugierig erscheinen mochte, blieb er einen Augenblick stehen, ging jedoch, sobald er nichts mehr hörte, ebenfalls hinunter. Als er ins zweite Stockwerk gelangte, sah er ein Taschentuch auf den Steinfliesen liegen; er bückte sich danach: es gehörte sicher der Dame, die eben aus der Wohnung des Scharlatans getreten war; als er es näher ansah, bemerkte er in dem einen Zipfel ein L. und N. mit einer Herzogskrone darüber. Das Tuch war naß, doch sicher von Tränen. Ohne es zu wollen, war er also auf die Spur eines jedenfalls höchst traurigen Erlebnisses gekommen. Unten angelangt, fragte er die Pförtnersfrau, ob eben eine Dame vorbeigegangen sei?« – »Jawohl,« antwortete die Frau, »groß und schlank, und schwarzverschleiert. Sie kam von Herrn Bradamanti herunter. Der kleine lahme Strick mußte ihr einen Fiaker holen. Sie stieg ein. Mich hat es bloß gewundert, daß der Junge sich hintenaufschwang. Doch gewiß, um zu sehen, wohin die Fahrt ging, denn der Kerl ist neugierig wie eine Elster und flink wie ein Wiesel, trotz seinem lahmen Beine.«

      Rudolf dachte bei sich, auf diese Weise käme sicher der Scharlatan erst hinter den Namen der Dame, und machte sich nun selbst auf den Weg, zufrieden mit den Resultaten dieses Ausflugs.

      Viertes Kapitel. Tom und Sarah.

      Sarah Seyton, verwitwete Gräfin Mac Gregor und etwa 37 bis 38 Jahre alt, war die Tochter eines vornehmen schottischen Landedelmannes, von vollendeter Schönheit, aber stolz und ehrgeizig fast bis zum Wahnsinn, seitdem ihr durch eine alte Frau aus dem Hochlande, die sie eine Zeitlang bedient hatte, der Besitz eines Thrones verheißen worden war. Ihr Bruder Tom war nicht minder abergläubisch wie sie, bestärkte sie in ihren Hoffnungen und lebte fast nur noch der Verwirklichung dieses Phantoms, war jedoch keineswegs so verblendet, nur auf einen Thron ersten Ranges zu spekulieren, sondern in seinem Sinne auch zufrieden mit dem eines Reiches von sekundärer Bedeutung, wenn es nicht anders ging, auch eines Fürstentums, möglichst freilich eines von souveränem Range. Nun hatte Deutschland damals eine recht große Menge von jungen präsumptiven Thronerben. Sarah war protestantischen Glaubens, und Tom war es recht gut bekannt, daß es deutschen Fürsten keine große Schererei machte, eine Ehe zur linken Hand einzugehen. Der Entschluß, nach Deutschland zu gehen, war mithin schnell gefaßt, und da Sarah mit Schönheit und Eleganz die mannigfachsten Talente vereinte, über einen gewandten, lebhaften Geist und eine große Gabe, sich zu verstellen, verfügte, so fiel es dem Geschwisterpaare nicht schwer, nach einem etwa sechsmonatigen Aufenthalt in Paris, wo sie manches von ihrer britischen Zugeknüpftheit verlernten, die Bekanntschaft des alten Marquis von Harville machten, der in England mit ihrem Vater bekannt geworden war, und sich des Wohlwollens der Gemahlin des englischen Gesandten versichern konnten, in Deutschland Fuß zu fassen. Das erste Ländchen, das im Reiseplane des Geschwisterpaares vermerkt worden war, war das Großherzogtum Gerolstein, wohin es sehr gute Empfehlungsschreiben besah, und dessen mutmaßlicher Thronfolger Gustav Rudolf kaum achtzehn Jahre zählte. Die Ankunft der jungen schottischen Edeldame an dem stillen, ernsten, streng patriarchalischen Hofe war halb und halb ein Ereignis. Der Großherzog war seinem Ländchen ein weiser Regent, und man hätte sich ein glücklicheres Leben, als dort herrschte, kaum denken können. Gegen den alten Marquis von Harville fühlte er Liebe und Dankbarkeit im Herzen, seit ihm dieser im Jahre 1815 bedeutende Dienste geleistet hatte, und da Tom und Sarah von ihm ein warmes Empfehlungsschreiben mitbrachten, wurden sie begreiflicherweise am Gerolsteiner Hofe mit offenen Armen aufgenommen. Schnell hatte Sarah den festen, loyalen Sinn des Herrschers erkannt, und ehe sie sich um den Sohn bemühte, der ihr sicher zu sein schien, hielt sie es für richtiger, sich das Wohlwollen des Herrn Papa zu erwerben. Sehr bald aber sollte sie sich überzeugen, daß dieser, mit so großer Liebe er auch an dem Sohne hing, von gewissen Grundsätzen über Fürstenpflicht und Dynastie-Gesetzen unter keinen Umständen abweichen werde. Schon trug sie sich mit der Absicht, von ihren Plänen Abstand zu nehmen, da machte ihr Bruder geltend, daß


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