Wyatt Earp 220 – Western. William Mark D.
vielleicht die Möglichkeit geboten hätte, sich zu entfernen. Nun aber, wo Monk allein dastand, herrschte tiefe Stille auf dem Hof, und er musste jedes Geräusch vernehmen.
Die Frau bewegte sich langsam rückwärts davon und trat plötzlich auf einen weichen Gegenstand.
Es war ihre Tasche. Sie hob sie auf und ging leise auf Zehenspitzen weiter. Wäre der Mörder Monk weniger mit seinen Gedanken des Hasses beschäftigt gewesen, so hätte er den Schritt der Frau hören müssen. Aber er hörte ihn nicht. Und so kam es, dass Ruth Capucine unbemerkt den Hof verlassen konnte.
Sie holte den Apfelschimmel hinter dem Haus des Reverenden hervor, spannte ihn vor den Buggy und stieg auf.
Unbemerkt kam sie aus der Stadt und preschte mit dem Wagen auf der Straße nach Apache davon.
Wären Wyatt Earp und Doc Holliday nur etwa zwanzig Minuten später von der Farm des Deutschen gekommen, so hätten sie den Wagen bemerkt, zumindest aber das Geräusch vernommen, das er verursachte.
*
Wyatt Earp und Doc Holliday hatten die Stadt an ihrem Ostrand erreicht und brachten die Pferde in das Dunkel einer Scheunenwand, wo sie sie zurückließen.
Hier standen Büsche und Bretterstapel herum, sodass die Tiere nicht so leicht entdeckt werden konnten.
Und die beiden Dodger wussten, dass sie sich auf ihre Tiere verlassen konnten. – Sowohl der Falbe als auch der schwarze Hengst würden still stehen bleiben, bis ihre Herren zurückkamen.
Die Vermutung des Marshals, dass Billoc, Monk und die anderen längst in die Stadt zurückgekommen waren, war ja richtig, und schon nach wenigen Minuten entdeckte der Missourier einen Mann, der auf einem Vorbau Posten stand und ein Gewehr in der Hand hatte. Gleich darauf entdeckte er einen zweiten, der drüben über einer Ballustrade im Obergeschoss lehnte und die Straße nach Westen hin ebenfalls im Auge behielt.
Der Marshal schob sich durch einen Häuserschacht zurück und traf Doc Holliday, der auf einem hölzernen Geländer eines Brunnens saß und mit den Beinen baumelte.
»Na, wartet das Empfangskomitee schon?«, kam es spöttisch von den Lippen des Spielers.
»Leider ja«, entgegnete der Marshal. »Ich schätze, dass es ausgeschlossen sein wird, über die Main Street hinüberzukommen. Unsere Freunde haben ihre Leute zu beiden Seiten der Straße postiert.«
»Na also«, entgegnete Holliday gelassen, »dann wissen wir das wenigstens.«
Sie blieben hinter den Häusern, passierten auch den Hof der Heuler-Bar, und plötzlich blieb der Missourier stehen.
Aus einem der nächsten Höfe war ein Geräusch gedrungen, das sein scharfes Ohr vernommen hatte.
Es war das Weinen eines Kindes.
Jetzt hatte es auch Holliday gehört.
»Ist das nicht der Hof des Post-Offices?«, flüsterte er.
Wyatt nickte.
Dann schlich er auf die hintere Pforte des Hofes zu und stellte fest, dass sie nur angelehnt war.
Er hob sie etwas an, um das Knirschen der Angeln zu vermeiden, was ihm jedoch nicht ganz gelang. Er blieb stehen und lauschte.
Das Weinen des Kindes war immer noch zu hören. Es musste drüben aus einem der Anbauten des Posthauses kommen.
Der Missourier hatte den Hof betreten, blieb im Dunkel der Fenz, und schließlich ging er auf den Anbau zu.
Unten stand die Tür offen, und eine Treppe führte hinauf.
Wyatt, der sich jetzt genau gegenüber von dem Anbau befand, sah im Mondlicht, das eben durch eine Wolkenlücke brach, einen kleinen Jungen auf der untersten Treppenstufe sitzen, den Kopf in die Hände gestützt und leise vor sich hinweinend.
Da richtete sich der Missourier auf und ging langsam vorwärts.
Der Junge bemerkte ihn erst, als er vor ihm stand. Aber er hob nur kurz den Kopf und weinte dann nur umso lauter weiter.
Da ließ Wyatt sich neben ihm nieder und legte den Arm um seine Schultern.
»Na, Tommy, was haben wir denn?«
Der Junge schüttelte den Kopf und weinte nur noch heftiger.
»Aber, Tommy, ich denke, dass es vielleicht besser ist, wenn du mir sagst, was los ist. Vielleicht kann ich dir ja helfen.«
»Nein, niemand kann mir helfen«, stammelte der Junge. »Onkel Bill und Tante Mary sind tot. Niemand kann mir helfen.«
Der Missourier zog die Brauen zusammen.
»Hör mal, Tom, ich bin ein Sheriff. Siehst du, hier ist mein Stern.« Er nahm seinen großen fünfzackigen Stern im Wappenkranz aus der Tasche und hielt ihn dem Jungen hin.
Der unterbrach sein Schluchzen und blickte mit großen Augen auf den Stern. Dann sagte er, während er den Mann, der neben ihm saß, anblickte:
»Woher weißt du, dass ich Tom heiße?«
»Ich wusste es nicht, ich habe es nur so gesagt. Manchmal nenne ich kleine Jungen Billy, aber ich dachte, dass du Tommy heißen könntest.«
»Ich heiße so. Ich bin Tom Cumberland, und wie heißt du?«
»Wyatt Earp.«
Der Junge wich zurück, stand auf, presste beide Hände an die Flurwand und hatte den linken Fuß noch auf einer Treppenstufe sitzen.
»Wyatt Earp? Das ist nicht wahr! Du lügst mich an!«
Der Missourier erhob sich, schüttelte den Kopf und entgegnete mit seiner beruhigenden dunklen Stimme:
»Du tust mir Unrecht, Tommy.«
»Sie wollen Wyatt Earp sein? Der große Sheriff aus Dodge City?«
Da riss der Missourier ein Zündholz an und hielt es vor den Stern.
Tom starrte auf das blinkende Abzeichen.
»Marshal – Dodge City«, las er verblüfft.
Dann hatte der Missourier den Stern umgedreht, und der kleine Tom Cumberland starrte auf den eingravierten Namen.
»Wyatt Earp«, hauchte er fast andächtig. Dann hob er den Kopf, und plötzlich schossen die Tränen wieder in seine Augen. Er machte zwei Schritte vorwärts und presste seinen Kopf gegen den großen Mann, der da vor ihm stand.
Wyatt legte beide Hände auf die Schultern des Jungen und sagte beruhigend:
»Ja, Tom, weine nur ruhig, aber dann sagst du mir, was passiert ist.«
Wenige Minuten später wusste er alles.
Tom Cumberland war ein Junge, der oben aus dem mittleren Kansas stammte und dessen Eltern auf der Ranch eines Bruders umgekommen waren. Der Junge war zu einer Tante nach Caprun geschickt worden und hatte hier ein Jahr bei ihr gelebt. Dann war diese Tante plötzlich gestorben.
Die Frau des Postmasters, deren beide Kinder einer Epidemie zum Opfer gefallen waren, hatte den netten Jungen zu sich genommen. Und der kleine Tom, der hier bei den Postmasterleuten lebte, hatte am Abend erleben müssen, wie zwei Banditen durch den Hof ins Haus gedrungen waren und den Postmaster sowie seine Frau erschossen.
Wyatt, der sich gleich darauf von der Wahrheit dieser Worte überzeugen musste, als er die beiden Leichen im Küchenraum des Hauses vorfand, kam wieder heraus und fand Holliday bei dem Jungen.
»Hast du keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«
»Doch«, entgegnete der Junge. »Ich weiß es genau, der eine von ihnen heißt Keeton und der andere war Larry Food.«
Die beiden Dodger wechselten einen kurzen Blick miteinander.
Cassius Keeton und sein Freund Larry Food hatten bei dem Revolvergefecht auf der Billoc-Ranch den Tod gefunden, beide. Damit hatten sie sich der irdischen Gerechtigkeit entzogen.
Der