Sturm auf Essen. Hans Marchwitza

Sturm auf Essen - Hans Marchwitza


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dem übrigen Volk eine Last nach der anderen aufgebürdet wird. Wir müssen es einsehn, daß wir nicht auch noch eine solche Last werden.“

      Da schrie Kramm: „Hör mit deinen salbungsvollen Reden auf! Ihr habt unseren Kampf in Berlin erwürgt und wollt jetzt auch uns hier erwürgen. Geh hin, wo du hergekommen bist.“

      Ein Tumult erhob sich: „Hör mit deinen guten Ratschlägen auf! Du hast den wenigsten Grund, dich über den heutigen Zustand aufzuregen. Ihr habt die Revolution dem General Lüttwitz und Noske-Söldnern überlassen und wollt auch uns anderen das Grab schaufeln.“

      „Wahnsinnig seid ihr!“ schrie Schigalski außer sich. Er starrte noch eine Minute in den Tumult und ging mit empörtem Gesicht auf seinen Platz zurück. „Mit diesen Wahnsinnigen kann doch kein Mensch reden.“

      Der Bürgermeister schien zusammengeschrumpft. Er saß mit geneigtem Kopf. Steiger Schulte lächelte.

      Der Bürgermeister bimmelte mit der Schelle. Im Saal tobte das Für und Wider. Die Schwankenden und schon immer hin und her Erwägenden, ältere Leute zumeist, empörten sich gegen den Lärm der Widersetzlichen. „Nu laßt sie doch reden. Einiges ist schon daran wahr, das Volk schaut uns schon lange mit schiefen Blicken an. Und auch die Weiber sehen vielleicht besser als unsereiner ... Laßt sie doch oben ausreden.“

      Der Bürgermeister bimmelte mit der Schelle. Niemand hörte darauf. Unten in der Menge tobte die lange verhaltene Wut. Mehrere der aufgeregten Männer gingen nacheinander auf die kleine Bühne, um zu vermitteln, um irgendeinen anderen Vorschlag zu machen. Niemand hörte auf sie, niemand auf die zeternd bimmelnde Schelle. Sie stolperten verwirrt und betäubt wieder herunter.

      „Jetzt fehlt tatsächlich eine handfeste Polizei“, sagte Steiger Schulte voller Verachtung zu Schigalski. Er hatte den Vorschlägen der Bürgermeistereisitzung eingebracht, er hatte ihn von der Direktion erhalten, die auf einer beschleunigten Entwaffnung bestand. Schigalski nickte in dem gleichen Zorn. Es hieß, von neuem beraten, bei den willfährigen Parteien anzuregen, den Beschluß einfach gegen den Willen der Wehrleute durchzuführen. Aua der Mitte des mit Tabakrauch vollgequalmten Saales kam mit schwerem Schritt Zermack in seinem abgewetzten Kanonieranzug.

      „Der Zermack!“

      „Still, der Zermack will sprechen!“ schrien mehrere in den Lärm. Und es wurde dieses Mal plötzlich wieder still.

      „Der Jupp Zermack ...“

      Der Bürgermeister bimmelte dieses Mal nicht mit der Schelle. Er drehte den weißen Kopf mit dem müden Gesicht, das so alt und überlebt wirkte wie seine Zeit. Er sagte zu dem böse darein starrenden Schulte: „Der Plan ist gescheitert. Wenn der Zermack dagegenredet, dann können wir uns jede weitere Mühe sparen.“

      Zermack bestieg die Bühne. Er sah erst eine Weile auf die Vertreter der Bürgermeisterei-Versammlung und warf einen Blick des Unmuts auf den schweigsam und mit gesenktem Kopf dabeisitzenden Miller. Er sagte zu dem noch empörten Schigalski: „Du hörst die Meinung der Kumpels und kannst sie deiner Partei mitteilen. Ihr verursacht den Zwiespalt.“ Und er sah Schulte an, der, um seinen Haß zu verbergen, die Augen einen Moment niederschlug.

      „Wir wissen, Genosse Schulte, wo Sie diesen Vorschlag herhaben. Aber sagen Sie den guten Herren, die auf die Entwaffnung drängen, wir gehen nicht auf solche Vorschläge ein. Wir haben die Gewehre nicht von den Herrschaften geschenkt bekommen.“ Darauf drehte er sich nach den Kumpels um, die atemlos still dasaßen, und sagte: „Die Herren wittern wieder Morgenluft. Wir haben zwar eine Republik, und man spricht von Demokratie, aber Hindenburg sitzt wieder oben, und Krupp ist auch schön dageblieben. Auch Herr Stinnes ist geblieben.“ Er drehte sich zu Schigalski um: „Eure Beauftragten-Regierung duldet es, daß die Schinder alle bleiben. Aber wir sind mit ihnen noch nicht fertig – deshalb behalten wir die Gewehre. Wir behalten sie, und wenn man uns mit noch schöneren Reden kommt.“ Er sagte zu den Wehrleuten: „Wir gehen.“

      Die meisten Wehrleute erhoben sich, ergriffen ihre Gewehre und gingen aus dem Saal. – „Gott sei Dank!“

      „Die können sich ihren Beschluß an den Hut stecken!“

      „Der Zermack hat wieder die Situation gerettet!“

      „Auf den Miller ist kein Verlaß, der schwankt auch immer hin und her!“

      Miller hatte sich in der Versammlung nicht gemeldet. Der Grund seines Schweigens war sein Zugeständnis, das er halb und halb den anderen Bürgermeisterei-Vertretern – unter der Bedingung der Auszahlung einer angemessenen Abfindung – gegeben hatte. Ein Teil der USPD-Fraktion war geneigt, der Auflösung zuzustimmen, und Miller, der in letzter Zeit mit sich merklich verfahren und durch den Wahlsieg der bürgerlichen Parteien anscheinend entmutigt war, neigte immer wieder zu Verhandlungen auch mit Schigalski.

      Am nächsten Tag kam Miller auf die Wache. Er war mit dem Ausgang der Versammlung und mit Zermacks Aufforderung, die Gewehre zu behalten, unzufrieden. „Was macht ihr für unsinnige Geschichten!“ warf er Zermack streng vor. „Gestern hatten die Leute noch die gute Chance, mit der angebotenen Entschädigung abzugehen, jetzt werden sie wohl ohne Geld gehen müssen, oder es kostet uns wieder neue Reden und Kämpfe, daß man das Geld auszahlt. Ich wollte euch nur“, sagte er verdrossen, „auf euern unsinnigen Widerstand aufmerksam machen, denn es ist eine oben fest beschlossene Tatsache, daß ein Teil der Leute gehen muß. Das wollte ich euch nur sagen und euch ermahnen, euern Widerstand aufzugeben!“

      „Zum Teufel“, schrie Kramm, der dieser Unterhaltung beigewohnt hatte, „die sind jetzt alle irrsinnig geworden.“

      Auch die anderen Kulis saßen verstimmt und ratlos da. „Das ist das Ende!“

      Der Arbeiter und Soldatenrat hatte wieder eine lange Sitzung abgehalten. Nach langwierigem Widerstreit war, gegen Zermacks und Raups Stimmen, der Beschluß gefaßt worden, die Hälfte der Wehr an ihre alte Arbeit zu schicken. Unter diesen Entlassenen waren auch Franz Kreusat, Kramm und Christian Wolny. Raup und Kahlstein erklärten mißmutig, sie gingen auch.

      Es war wie ein Trauertag, als sie das letzte Mal die Wache verließen.

      „Aus!“ sagte sogar Kramm.

      „Es ist noch nichts aus!“ beruhigte Raup. „Ich denke, wir müssen uns tatsächlich einmal wieder in der Grube umsehn!“ sagte er. „Die Kumpels brauchen Hilfe, oder sie verfallen ganz der Hetze.“ Sie schwiegen. Ein Trauertag.

      Franz Kreusat begab sich nach der Zeche, um sich für die Arbeit zu melden. Er traf Zermack, der im Betriebsrat war. „Nun laßt jetzt nicht gleich alle die Köpfe hängen“, sagte Zermack, „wir haben mit der Wehr noch nichts aufgegeben. Laßt euch nicht niederdrücken, wir werden der Gesellschaft schon wieder unseren Willen zeigen. Geh, hol dir deine Lampe und sorge unten vor, daß die Feindseligkeiten nicht die Kumpels anfressen. Diese Schultes nagen hier wie die Ratten.“

      Franz Kreusat fuhr nach fast vier Jahren wieder in die Grube. Hier unten hatte er sechzehnjährig als Pferdetreiber angefangen, Gedingeschlepper war er, als er in den Krieg ging. Jetzt fuhr er als Lehrhauer in die ihm fremdgewordene Nachtwelt ein. Würde er sich wieder hineinleben in diese Kohlenfinsternis, oder warf er schon nach der ersten Schicht wieder die Hacke hin?

      „He, da kommt er!“ begrüßte ihn einer spöttisch.

      „Komm nur mit runter!“ rief ein anderer. „Hier wirst du mal wieder zurechtgesotten! Wir müssen wieder gehörig Staub machen.“

      Edy Koschewa und Bruno Freising kamen: „Mensch, gut, daß du wieder da bist! Hier muß vieles eingerenkt werden,“

      Sie waren jetzt wieder viel freundlicher.

      Er hörte noch mehr solcher Willkommensgrüße. Nein, es war nichts zu Ende. Hier begann seine neue Arbeit.

      Als sie im Förderkorb hockten, erzählte ihm Christian Wolny: „Ich hab’ noch ein Gewehr mitgenommen!“ und fragte: „Du hast wohl deins abgegeben?“

      Franz nickte.

      „Dummkopf!“ schalt Christian. „Man hätte es brauchen können! Mensch! Mensch!“


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