Sturm auf Essen. Hans Marchwitza

Sturm auf Essen - Hans Marchwitza


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etwas scheue Wirrwa ein. „Dann sitzen wir alle drin. Oder es kommt ganz gewiß zu Schießereien!“

      „Es kommt zu nichts!“ beruhigte Kramm, „nachts schlafen die Herrschaften alle. Sie fühlen sich, scheint’s, vor uns sicher. Und der Pförtner wird schon das Maul halten. Kurz und gut, wir gehen heute los!“

      Franz Kreusat, der keinen Einwand zu machen wagte, ging unter einem Herzdruck nach Hause. „Verdammt, verdammt! Jetzt wird es Ernst!“

      Aber bald hatte er sich wieder gesammelt und sagte sich: „Wenn die anderen mitmachen, dann muß ich auch mit, selbstverständlich!“ Ja, etwas wie Freude ergriff ihn, da es jetzt Ernst wurde. Der Novembertag fiel ihm wieder ein, an dem sie unter den wehenden roten Fahnen marschiert, nein, geeilt waren nach der Kaserne und nach dem Zuchthaus, um die Gefangenen zu befreien.

      Unterwegs fiel ihm ein, daß der nächste Abend der Weihnachtsabend sei; eine Weile beschäftigten ihn die Erinnerungen an seine Knabenzeit, wie er sich an diesem Tag an Kuchen und Nüssen satt stopfte. Dafür sparte die Mutter monatelang, um die Feiertage schön zu machen. Ein Bäumchen müßte man diesmal wieder haben, dachte er. Dann besann er sich aber auf die Leere, auf den Hunger, der hinter jeder Tür heulte; er wußte, daß auch seine Mutter diesmal kaum die Kartoffeln beschaffen konnte. Geheul und Zähneknirschen wird es morgen geben, dachte er. Ein Baum ...? Er sah flammende Krater auf brechen. Soldaten, dreckig und kaum noch Menschen, wühlten sich in Todesangst in die bebende Erde – tiefer, tiefer, Mensch ... und der verfluchte Himmel spie Granaten und Gas und schleuderte zerrissene Muschkotenglieder im blutigen Hagel herunter. Weihnachten – Verdun. Und es gab keinen Herrgott mehr, der diesen verfluchten Himmel beschwichtigte, der diese Hölle Himmel in Frieden verwandelte ... Ein Bäumchen ... brennende Kerzen ... Geschenke, frohe, lachende Kinder, das gibt es nicht mehr. Nicht mehr. Doch, alles kommt, es kommt! Wir müssen die Gewehre wegschaffen. Es kann nicht zu Ende sein. Es geht weiter ... Weiter ...!

      Er stand an seiner alten Ecke.

      Raup hatte ihm schon einige Male gesagt, er solle sein Büchlein mitbringen, damit er es umschreiben lassen kann. Das Buch lag, nur mit einer Marke, in der Kommode, wo er es am ersten Tage hineingeworfen hatte. Er hatte sich die ganze Zeit nicht darum gekümmert, jetzt sagte er sich: Ich muß es morgen mitnehmen.

      In der Nacht gingen sie mit einem Dutzend Genossen nach der Zeche. Renteleit schob den Pförtner, der sie aufhalten wollte, beiseite und ging ins Verwaltungsgebäude, wo sie in einem Raum die zwanzig Gewehre fanden. Er reichte die Gewehre und die Munition den anderen: „Wenn sich einer herwagt und Lärm macht, dann haltet ihm eine Knarre vor die Nase; es kann höchstens ein Feind oder ein Dummkopf sein!“ sagte er.

      Der Pförtner stand scheu und verwirrt in seiner Bude, während die Kumpels die Gewehre abschleppten. „Aber Leute, ich darf das doch nicht zulassen. Ihr bringt mich ja um mein Brot, Leute. Wenn das der Kranzmann erfährt, bin ich ein verlorener Mann!“

      „Das bist du schon immer gewesen!“ antwortete Renteleit knurrend, „du warst stets ihr stummer Knecht!“

      Als Franz auf dem Nachhauseweg an Herrn Kleinemanns Wohnung vorbeikam, schimmerten durch die Ritzen der Fensterläden die Lichter eines Weihnachtsbaumes. Es interessierte ihn aber diesmal wenig, er war noch immer mit der Sorge beschäftigt, es müsse nach ihrem Streich jeden Augenblick die Sirene brüllen oder sich sonstwas regen. Es regte sich aber nichts; und auch die ganze Nacht über nicht, die er schlaflos verbrachte.

      An diesem Abend hatte Therese vergeblich auf ihn gewartet.

      Herr Kleinemann hatte für den Weihnachtsabend einen Baum beschafft. Es kostete Geld, aber ein Weihnachtsabend ohne ein Bäumchen war kein Weihnachtsabend. Sie hatten auch in der schlimmen Zeit im Kriegsgefangenenlager als Wachmannschaft jedesmal einen Baum gehabt und auch Kerzen unter der Hand besorgt. Der nötige Trunk wurde ebenfalls herangeschafft und ein Stück Kuchen. Weihnachten müssen nach Weihnachten aussehen.

      Der freche Bengel hatte es zwar nicht verdient, daß man sich darum abschund, aber an so einem Tag vergißt man es und hält Frieden. Herr Kleinemann hatte eine Fahrt zu den befreundeten Bauern gemacht, und er brachte wieder einige Kisten mit Eiern und auch Speck mit. Ein Teil der Sachen ging in die Beamtenkolonie, weil man auch die anderen Tage leben wollte. Ohne Geld gab es keine Ware. Ein Teil blieb im Haus – ein Weihnachtsabend muß nach Weihnachtsabend aussehen.

      Damit das Licht nicht nach außen drang, machte Herr Kleinemann die Fensterläden zu. Er wollte nicht den Neid der Hungrigen erregen – Neid ist ein schreckliches Übel. „Die Läden sind zu, also können wir jetzt essen“, sagte er zu der apathisch umhergehenden Frau. Ihr Gesicht allein konnte ihm die gute Stimmung verderben. Doch wollte er sich am heutigen Tage nicht ärgern, also übersah Herr Kleinemann die böse Miene seiner Frau. Oft schien ihr apathisches Gesicht boshaft zu lachen, und er glaubte zu wissen, was sie sich dabei dachte: Beschwindle dich nur selber weiter, dachte sie bestimmt, das dicke Ende kommt doch nach! Ja, das dachte sie. Nun, mochte sie lachen und denken, was sie wollte. „Wenn es nicht auf normalem Wege geht, sich wieder aufzukratzen, dann geht es eben auf anderem Wege“, sagte er sich. „Jeder, der sich retten will, der schaut heut nicht auf Anständigkeit, er schaut, wie er sich wieder aus dem Dreck herausbuddeln kann. Ich tue nichts anderes, als was jeder kluge Geschäftsmann tut.“

      „Bring das Essen, Mutter!“ Mutter! sagte er an diesem Abend sogar, was er seit mehreren Jahren nicht mehr gesagt hatte, seit sie dieses Gesicht angenommen hatte, das ihn jedesmal, wenn er es ansah, aufregen konnte.

      Sie kam mit dem Essen. Herr Kleinemann prüfte ihre Miene. Sie haßte ihn, das spürte er; warum sie ihn haßte, das wußte er sich nicht zu sagen, aber der Blick, mit dem sie die Teller hinstellte, ließ es ihn fühlen – das Weib verachtete ihn.

      „Kommt der Bengel nicht?“ fragte er, nur noch mit halber Freude.

      „Der ist schon da!“ meldete sich der Sohn und kam aus der guten Stube hervor. Herr Kleinemann blickte ihn mißmutig an; gegen seinen Willen packte ihn wieder die Wut. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen. Auch der Bengel hatte dieses heimtückische Lachen an sich.

      „Nun, hast dich wieder mal schön durchgewunden?“ bemerkte der Sohn, als er das gute Futter betrachtet hatte. Kein Dank; Frechheit, das war alles.

      Herr Kleinemann hatte früher immer vorher beten lassen, heute ließ er es sein. Er spürte Galle im Mund, und mit dieser Stimmung machte er sich über das Essen.

      Der Baum wurde nach dem Essen angezündet. Früher hatte ihm so ein brennender Baum Freude gemacht, heute blieb alles nüchtern. In jedem Winkel der Stube schien ein Gespenst zu atmen. „Das sind nun Weihnachten“, sagte der Krämer bitter. „Da jagt man und schafft man das Zeug unter Gefahren ran, und dann hört man kein Wort einer Anerkennung oder eines Dankes. Wahrhaftig, man sollte einfach den leeren Laden anstarren!“

      Mutter und Sohn sahen sich an. Herr Kleinemann glaubte wieder den gehaßten Blick aufgefangen zu haben, mit dem sich die beiden immer Verständigten. Er stand auf und zog den Rock an. „Ich will noch auf einen Sprung zu Werners. Hier bleibt ja alles kalt und nüchtern.“

      Er ging.

      Dia Kirchenglocken läuteten. Herr Kleinemann fühlte, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er wischte sie nicht ab. Er wünschte sich jetzt, andere würden es sehen, daß er noch ein anständiger Mensch war. Nur anständige Menschen haben solche Gefühle, wenn die Weihnachtsglocken läuten.

      Er erinnerte sich, daß er an solchen Tagen im Lager manchmal vergaß, daß die Kriegsgefangenen Feinde waren, und er hatte dem und jenem an der Tür lungernden und bettelnden Kerl eine Scheibe Brot oder einen Zigarrenstummel hinausgereicht. Ein anständiger Deutscher tat so was nicht, aber es war Weihnacht, und man drückte schon ein Auge zu.

      Herr Kleinemann fühlte seine Rührung weichen. Er sah zwei Männer mit Gewehren auf der Straße daherkommen.

      Sie steigen noch immer umher, dachte er ingrimmig. Man hatte dem Soldatenrat zugetragen, daß er die Beamtenhäuser mit Schwarzware versorge, und einige dieser Wächter der Revolution hatten in seinem Laden umhergesucht. Als sie an ihm vorbeikamen, grüßte er zwar höflich: „Na, kein Weihnachtsabend


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