Sturm auf Essen. Hans Marchwitza
an ihm der Schweiß herunter. Er erschrak vor dem Knallen der Kohlenlagen und dem Donner der Sprengschüsse. Aber nach und nach gewöhnte er sich wieder an den kleinen Lichtschein und an die Qualmwolken, an den Schweiß und die Schreie, die aus dem Dunkel des langen Feldes zu ihm drangen. Er schlug und schaufelte sicherer: er war wieder Bergmann, Kohlenhauer.
Über ihm arbeitete der Heinrich Gutschnick, ein immer düsterer, schweigsamer Mensch. Gutschnick hatte draußen seinen Hauptmann erschossen, „einen Schinder“, wie er Franz während der kurzen Pausen in seiner Wortkargheit erzählte. „Einen Hund, der sich hervortun wollte und die Kumpels immerzu in das Totenfeld hinausjagte, wo schon die halbe Kompanie faulte.“ Das Kriegsgericht hatte Gutschnick zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Es reichte nicht zum Todesurteil, weil nicht genügend Beweise für eine „vorsätzliche Tat“ Vorlagen. Aber er hatte es bewußt getan. Das war neunzehnhundertsechzehn geschehen, aber man hatte ihn vergessen und erst zwei Monate nach der Revolution entlassen; deshalb haßte Gutschnick alles, was jetzt wieder oben saß. Wie gesagt, sie kamen nur selten miteinander ins Gespräch, die meiste Zeit brütete Gutschnick dumpf und in einem stillen Haß für sich. Gelegentlich hörte Franz ihn in seinem Ort allein reden: „Man hätte sie alle totschlagen oder binden und dahin verfrachten sollen, wo ich gesessen habe, dann wären wir sie jetzt los“ – und er schlug heftiger in die Kohle: „Schinder, verfluchte!“
Gutschnick war in der USPD, er war aber noch voller Argwohn, „ob da drin auch die richtigen Geister bestimmten“.
Er beobachtete trotz seiner Verschlossenheit alles mit Argusaugen und sah manches, was anderen entging; er sah auch den dauernden Zwiespalt unter den Unabhängigen. „Ich seh’ doch“, sagte er, „ich hab’ meine Augen. Der Miller scheint noch nicht zu wissen, wo er hinsteuern will. Er hört zuviel auf den wankelmütigen Teichmann, den sie auch lieber ganz woanders hätten hinsetzen sollen, aber nicht als Sekretär einer solchen Partei. Diese Leute leben ja nur halb mit der Revolution. Wenn man sich der Schinder nicht mit Gewalt entledigt, dann werden sie uns allen wieder rücksichtslos das Joch umhängen! Wir müssen uns in der eigenen Partei einigen, dann können wir von den anderen eine Einigkeit erwarten! Wenn sich die Unabhängigen verzetteln, dann haben die neuen Schinder oben ihre Freude dran. Ich bin hineingegangen“, meinte er, „weil ich mir sage, daß man hier helfen müsse, damit sich nicht auch darunter das Geröll mischt. Und ich hab’ auch noch eine Rechnung mit den Schindern zu begleichen.“
Während der Pause lag er in der Förderstrecke auf einigen Hölzern und starrte nachdenklich und mit düsterem Blick nach der Decke. „Weißt du“, begann er dann nach längerem Grübeln, „ich frag’ mich manchmal: Was ist doch der Mensch für ein merkwürdiges Geschöpf. Da trägt einer dasselbe Gesicht wie du und ich und ist doch nichts wie eine Bestie. Alle werden doch nicht gleich als Canaille geboren, sondern als Menschen; da macht das bessere Bett oder das abgelumpte oder seidene Hemd der Mutter nichts aus. Sie müssen sich alle gleich quälen; das Kleine kommt wie jeder andere Mensch nackt und dumm, es schreit wie alle nach Fraß und unterscheidet noch gar nicht, ob es ein Herr Krupp oder ein armer Teufel ist, ob es später von anderen gepeinigt werden soll oder selbst peinigen wird. Aber dann kommt die Zweiteilung, eben der Herr Krupp und der Lump und Schlepper Kreusat, der Herr Hauptmann von und zu oder der Muschkot Gutschnick. Dem einen fallt alles zu, dem anderen nichts, der eine frißt gut und kommandiert, der andere hungert und schleppt und muß für den Herrn Krupp und Von und Zu verrecken, weil es eben eine solche Ordnung ist. Und hat sich daran etwas geändert? Nein! Siehst du, wir hatten eine Revolution, aber ich mußte trotzdem noch monatelang in der Zelle sitzen. Ja, so ist es. Und jeder will ein Mensch sein – wirklich merkwürdig!“
So philosophierte der schwerfällige Mensch jede Schicht; aber Franz hörte ihm gerne zu, denn Gutschnick war ein gerader, wahrhafter Mensch, der sich mit keiner oberflächlichen Redensart zufrieden gab, und der immer, wenn es ihm noch so viel Qualen machte, tief auf den Grund des verdammten Lebens zu dringen versuchte und alles untersuchen und erkennen wollte.
Die anderen Hauer waren weniger mitteilsam oder Gutschnick zu leichtfertig und geschwätzig.
Aber in den letzten Tagen gingen die Wogen der Erregung im Schacht wieder hoch. Die Debatten drehten sich um die Sechsstundenschicht, die den Bergleuten versprochen worden war.
„Es gibt wieder neue Stürme!“ hoffte Christian glücklich. Er hoffte immer. „Die reaktionäre Gesellschaft hat zwar bei den Wahlen gesiegt, weil ihr alle, auch unsere Sozialdemokraten, die Schafe zugetrieben haben, aber wir haben die stärkeren Fäuste und den Mut, um unser lieben zu kämpfen“, redete er eifrig. „Das Geröll sondert sich jetzt ab, das unter uns geschwemmt wurde und uns gelähmt und behindert hatte. Unsere guten Kumpels stehen fest. Wir haben Hoffnung, Fränzchen!“
Es ist Februar.
Der Schacht ruht. Die Bergleute streiken. Sie verlangen die versprochene Sechsstundenschicht. Die Verbandsführer verhandeln mit der Regierung, mit den gebliebenen Zechenbesitzern.
Sie verhandeln wieder.
In den Versammlungen tobt man und schreit: „Verrat! Man verhandelt und verkauft uns mit Haut und Haar!“
Verbandsbücher werden zerrissen, die Union der Kopf- und Handarbeiter wird gegründet.
Auch Franz und Christian wurden von dem neuen Sturmwind mitgerissen; sie traten der Union bei und schrien jedem radikalen Redner Beifall. Sie stellten sich freiwillig als Streikposten hin oder jagten mit den Flug blättern der Union in die Häuser.
Franz wunderte sich nur – bei Miller verstand er es –, daß auch Raup plötzlich gegen diesen neuen Wechsel war. „Warum machst du nicht mit?“ fragte er Fritz Raup enttäuscht. „Du warst doch sonst immer gegen die Politik der Verbandsführer und hast auf die Verräter geschimpft, und jetzt hältst du dich zurück ...“
„Das verstehst du nicht“, antwortete Raup. „Es ist doch purer Unsinn, der jetzt angestellt wird. Wir können uns doch nicht völlig zerreißen. Die Gründung dieser neuen Gewerkschaft ist ein Unglück.“
„Ach, du Unglücksprophet!“ wehrte sich Franz gegen diese Redensarten, die er in diesen Tagen öfters hörte. „Was wollt ihr denn noch mit euerm alten, vermoderten Verband, wir kommen ja gar nicht mehr von der Stelle!“
Fritz Raup antwortete: „Es ist Unsinn! Es ist ein Unglück! Mit zersplitterten Kräften kommen wir erst recht keinen Schritt vorwärts.“
Raup hatte Franz mit seinen Einwänden wieder verwirrt. Er überlegte, ob er sich nicht verrannt habe; er schwankte, Raup wisse doch gewiß etwas mehr als er. Raup war seit zwanzig Jahren Verbändler, er was Unabhängiger, er war nie für Kompromisse gewesen, nie für Verständigung, wo Verständigung nicht angebracht war; und hier wurde wieder gehandelt, verhandelt mit der abtrünnigen Regierung, mit Krupp, mit Stinnes, mit den gebliebenen Schindern und Mördern. Franz begriff nicht, warum der Kumpel dieses Mal nicht mitmachte.
Er stieß, während er wieder Flugblätter der Union verteilte, mit Miller zusammen. Im ersten Moment schlug Franz vor Millers Blick die Augen nieder.
„Du entwickelst dich schön!“ sagte Miller vorwurfsvoll. „Früher konnte man dich kaum zu etwas bewegen, und jetzt geht es dir nicht eilig genug.“ Franz sah ihn an. Voller Groll stand Miller da, voller Verachtung. „Wirrköpfe“, sagte er. „Und von diesem neuen Haufen Elend erhofft ihr etwas? Jetzt geht die Spaltung immer weiter, und wir können die letzte Hoffnung begraben!“
„Ich glaube, noch nicht!“ verteidigte sich Franz und fand es sinnlos. „Ich versteh nicht, warum ihr so dagegen seid, fast alle anderen sind dafür.“
„Weil sie verrückt geredet wurden!“ entgegnete Miller streng. „Weil sie alle nicht mehr nachdenken.“
Er ließ Franz in seiner Verwirrung stehen und ging.
Franz wußte nicht, ob er die Flugblätter weiter verteilen sollte, und stand längere Zeit ohne Entschluß vor dem Haus.
Mit dem Streik schienen aber Miller und Raup einverstanden zu sein, denn in den Versammlungen sprachen sie wie alle Redner für die Einführung der Sechsstundenschicht, und das gab Franz wieder Mut. Er sagte sich: „Ich bin