Sturm auf Essen. Hans Marchwitza
der Krämer die Schenke betrat, hörte er im oberen Zimmer eine Frau singen ... „Ave Maria – Jungfrau mild ...“ Eine schöne Stimme war es, die jemand auf einem Klavier begleitete. – Ave Maria ...
„Das ist von Schubert“, sagte die graue Frau Werner. „Meine Tochter singt!“
„Schubert ...“, nickte Herr Kleinemann, der wieder die Rührung hinunterschluckte. Er wußte nicht, wer dieser Schubert war, aber er nickte. Einen Schubert hatte es auch im Lager gegeben; es war ein Metzger gewesen, dem war aber so was nicht zuzutrauen. Herr Kleinemann nickte. Er hatte einen Blick in das dicke Gesicht des jungen Werner geworfen. Er wußte, daß ihn dieser Kerl für ein dummes Schwein hielt, und darum war ihm auch dieses Gesicht unangenehm.
Herr Kleinemann trank seinen Schnaps aus und bestellte noch einen frischen. Die Tochter der Wirtin sang wieder. Herr Kleinemann schielte nach dem dicken Willi. Seine Galle wollte an diesem Abend nicht weichen. Er trank den Schnaps und sagte: „Ich geh’, ich hab’ daheim ein Bäumchen, und die Frau wartet mit dem Jungen.“ Er ging. „Der dicke Kerl grinst. Ich werde euch noch allen beweisen, wer Kleinemann ist“, murmelte er in einer furchtbaren Wut gegen das eingebildete Pack.
Da kamen wieder die beiden von der Soldatenwehr. Er wandte sich diesmal ab. Man sollte sie alle erschießen, auch den grinsenden Kerl da drin. Er ging eilig, die Glocken schlugen wieder an und begannen laut zu läuten. Herr Kleinemann drohte zurück: „Ich zeig’ euch noch einmal allen, wer Kleinemann ist ... Allen!“
Tanten war in den letzten Tagen zugänglicher geworden. Es schien, als fühle er sich in irgendeiner Schuld. „Ich weiß nicht“, hörte man ihn zuweilen brummen, „man findet sich bald nicht mehr ein und aus.“
An einem Morgen – es war der 15. Januar – stieß Franz Kreusat auf der Wache auf ein beklemmendes Schweigen. Die Kulis saßen wie versteint. Kramm schien geheult zu haben.
Franz fragte erschrocken: „Was ist denn los mit euch!“
„Die Noske-Offiziere haben Karl und Rosa erschlagen“, erzählte ihm Christian Wolny unter Tränen. „Mensch, Mensch!“ heulte auch er. „Verflucht, und wir sitzen hier und lassen uns von jedem Spekulanten leithammeln!“
Tauten schwieg.
Herr Loew kam, er war nur wieder dienstlich, er sagte nichts, aber Franz sah in das volle, graue Mönchsgesicht und wußte, daß der Wachtmeister sich heimlich freute. Und es freuten sich viele seiner Art. „Der Tod der beiden in Berlin läßt sie hoffen, daß bald ein anderer Wind weht, daß der Novemberschrecken für sie zu Ende ist, daß wir bald nicht mehr zu fürchten sind!“ lachte Kramm bitter. „Aber sie täuschen sich!“ sagte er mit einem Haßblick auf Loew.
Herr Loew behielt sein gemessenes Dienstgesicht. Er sagte, als hätte er Kramms Blick gemerkt: „Ich mische mich in keine Politik, ich führe nur meine Pflicht aus.“ Er fügte hinzu: „Übrigens sollen nächstens die Berichte über Ihre Wachgänge ins Wachbuch eingetragen werden.“
Franz kramte zu Hause das lange begrabene Büchlein aus der Kommode hervor und begab sich zu Fritz Raup. Er legte es ihm auf den Tisch.
„Hier hast es. Schreibe mich um.“
Sie hatten demonstriert. Die Stadt war voll von roten Fahnen und Arbeiterzügen. Es schien wieder ein Novembertag zu sein. Hoffnung – Hoffnung!
„Wacht auf, Verdammte dieser Erde ...!“
Franz sang, schrie; er brannte, berauscht von dem Schrei der vielen. Aber sie hatten nicht die Geier und Wölfe aus ihren Höhlen und Schlupfwinkeln geholt; die Tausende gingen friedlich nach Hause.
In Berlin wurden die Spartakusleute gehetzt. Die Söldner hatten freie Hand, jeden, der eine rote Kokarde trug, festzunehmen und totzuschlagen.
Der Schrei der mächtigen Demonstration hatte sich wieder in die alltägliche, eintönige Jammermelodie verwandelt: „Brot! – Brot! – Kartoffeln! – Fett! – Wärmere Lumpen!“ –
Die Wehrleute fühlen überall Feindseligkeit. Die heimlichen Feinde nagen an dem Vertrauen der Menge. Überall, auf der Zeche, auf der Straße und in den Schenken verlangen die Kumpels Abtreten des Arbeiter- und Soldatenrats und fluchen auf die „Faulenzer“, womit sie die Soldatenwehr meinen. Herr Loew kommt mit höher erhobener Stirn. „Meine Herren, die Einwohner beschweren sich, daß sich unsere Wachleute zu wenig um ihre Ställe bekümmern. Es sind wieder Kaninchen gestohlen worden ...!“
Die lange verachtete Grube zieht Franz mit einemmal wieder an. Die schwarze Hölle, in der er sich jetzt wohler zu fühlen glaubte, als in dem ausgeglühten Schlackenhaufen. Auch Kramm und Raup meinen: „Es ist vielleicht besser. Wir müssen wieder unten anfangen!“
Aber nein, es wäre ein beschämender, ein demütigender Abschied und keineswegs richtig, daß auch sie jetzt wegrannten. Er mußte bleiben.
Er geht mit dem Gewehr auf der Straße. Schulte hatte über das Verschwinden der Gewehre aus dem Verwaltungsgebäude noch kein Wort verlauten lassen. Aber die heimliche Hetze unter der Belegschaft wirkte lähmend. Die Blicke der von der Schicht heimkehrenden Bergleute waren finsterer. „Na“, schrie manchmal einer, „wollt ihr nicht bald die Flinte ablegen und die Kohlenhacke in die Hand nehmen! Es wär’ bald an der Zeit. Der Faulenzer haben wir wohl genug mitzufüttern!“
Es war gegen Ende Januar. Die Wahl zu der Nationalversammlung hatte stattgefunden.
Im Saal der Hoffroneschen Wirtschaft saßen die Männer der Stoppenberger Arbeiter- und Soldatenwehr. Sie waren mit ihren Gewehren gekommen.
Die Ursache dieser Versammlung bei Hoffrone war ein Vorschlag der Bürgermeistereivertretung, die Soldatenwehr mit einer angemessenen Entschädigung zu einer freiwilligen Auflösung zu bewegen. Man wollte den Familienvätern und den aus ihrer gewohnten Berufsarbeit ausgespannten Bergleuten die Gelegenheit geben, „sorgenlos“ an ihre alte Arbeit zurückkehren zu können.
Es war ein sehr klug eingeleitetes Manöver und von den Parteien der Rechten, auch von der Sozialdemokratischen Fraktion, unterstützter Beschluß, der den Wehrleuten mit überzeugenden Begründungen dargelegt wurde. Die Bürgermeisterei könne auf die Dauer keine solchen Ausgaben tragen, der Säckel sei leer, und bei den obwaltenden Verhältnissen bestehe fast keine Aussicht, an eine Anleihe oder sonstige Hilfe auch nur zu denken. Dagegen würde mit der Einstellung einer normalen Polizei, natürlich in weit geringerer Zahl, die Stadtverwaltung sich vielleicht zu einem gewissen Zuschuß entschließen ... und so weiter und so fort.
Zu Anfang der Versammlung hatte unter den Männern der Wehr eine fast drückende Stille geherrscht. Den Worten des Bürgermeisters folgte noch immer die Stille. Man hatte ihn wieder vorgeschickt, weil man hoffte, daß er „väterlich“ und als Respektsperson vielleicht etwas mehr erreichen würde, und weil er schon öfters solche peinlichen Beschlüsse ohne große Stürme durchzusetzen verstanden hatte.
Der alte Mann bat, sich den Vorschlag in aller Ruhe und Vernunft zu überlegen.
Der zweite Redner, Steiger Schulte, sprach. Ein solcher Entschluß würde auch die Zustimmung der verängstigten Frauen finden, sagte er vermittelnd. Und auch die Einwohner würden eine solche Entscheidung und Änderung der untragbaren Zustände begrüßen ...
Die Stille wich einem Murren. „Die Weiber ... natürlich, man versorgt sie ja stündlich mit allen infamen Gerüchten“, erhoben sich protestierende Stimmen im Saal. „Selbstredend heulen die Weiber einem die Ohren voll, man soll das Gewehr hinschmeißen und eine vernünftige Arbeit aufnehmen, aber wer kriegt dann die Gewehre in die Hände? Unsere Leute nicht!“
Den Einwohnern wurden täglich blutige Spartakistengeschichten erzählt. Natürlich wünschte deshalb mancher die Soldatenwehr zum Teufel. Das spürte und wußte man selber, aber einer solchen neuen Polizei, wie die sich diese Herren dachten, freiwillig zu weichen, dafür hatte man im November nicht sein Leben eingesetzt.
„Genossen!“ sprach der Parteisekretär Schigalski, der Redner der Sozialdemokratischen Fraktion, und man merkte dem dicken Mann mit dem faltigen, mürrischen Gesicht die Wut gegen „den murrenden