Fränkisches Pesto. Susanne Reiche
Kind war Bella ein zierliches, elfengleiches Wesen gewesen; und während die Pubertät ihren Mitschülerinnen üppige Dekolletés und begehrliche Blicke beschert hatte, war sie nur in die Länge geschossen – eine Bohnenstange, nichts als Haut und Knochen. Erst die Schwangerschaft legte in ihrem Körper irgendeinen Schalter um. Nach der Geburt der Zwillinge ging sie auf wie gärender Hefeteig: langsam, aber stetig und in alle Richtungen. Sie durchbrach die achtzig Kilo, verharrte eine gnädige Weile bei neunzig, stieg dann auf hundert und hundertzehn. Ihre Augen zogen sich in schmale Sehschlitze zurück, ihr Kinn schwabbelte wie das einer Masttruthenne, und sie hüllte sich, notgedrungen, in wallende Gewänder. Sie versuchte es mit allen Arten von Diäten ohne Erfolg. Anfangs versicherte Thorsten ihr treuherzig, sie ihrer inneren Werte wegen und, wie versprochen, für immer zu lieben; doch tatsächlich verebbte sein Interesse an ihren Gedanken und Gefühlen ebenso schnell wie sein Verlangen nach ehelichem Beischlaf. Was sie auch sagte oder tat – oder nicht sagte und nicht tat –, schien ihm plötzlich auf die Nerven zu gehen; und beim geringsten Anlass brach er einen Streit vom Zaun.
Bella suchte ärztlichen Rat. Ein Spezialist diagnostizierte eine Stoffwechselstörung. Mit der nüchternen Distanz des Chirurgen schlug er vor, ein Stück aus ihrem Darm herauszuschneiden und ihren Magen zusammenzunähen – als wäre sie kein fühlendes menschliches Wesen, sondern ein bloßer Fleischsack, den es ästhetisch zu optimieren galt.
Bella hatte fluchtartig die Praxis verlassen …
»Hey, Bella – ist das Waldmeister?«, fragte jemand. Ein Mädchen in pinkfarbenem Top und geblümter Latzhose – braune Rehaugen, fransig geschnittene, kurze dunkle Haare, ein Piercing im Nasenflügel – hielt ihr eine Handvoll Pflanzen hin. Die vierkantigen Stängel und quirlig angeordneten Blätter waren unverkennbar.
»Ja, das ist Galium odoratum, das Wohlriechende Labkraut«, bestätigte Bella. »Nimm dir ruhig ein paar Büschel mit, wenn du magst – jetzt, vor der Blüte, enthält er das meiste Aroma. Auf meiner Homepage findest du ein Rezept für eine leckere Maibowle.«
»Cool.« Die junge Frau – sie hieß Liliane, ließ sich aber Lila nennen – strich sich betont unaffektiert den Pony aus der Stirn und stopfte den Waldmeister in ihre Umhängetasche aus upgecycelter Lastwagenplane.
Bella lächelte mütterlich, obwohl sie gute Lust hatte, die Göre zu ohrfeigen. Über ihre Beweggründe machte sie sich keinerlei Illusionen: Sie missgönnte Lila den grazilen Körper, der sich so mühelos und geschmeidig bewegte; sie neidete ihr die Blauäugigkeit der Jugend und den zuversichtlichen Glauben, dass sie ihr Schicksal selbst bestimmte und einer rosigen Zukunft entgegenging. Wenn die junge Frau eines Tages begreifen würde, dass das verheißungsvoll glitzernde Geschenkpapier des Lebens nur einen Karton lauwarmer Luft umgab, wäre Bella selbst schon eine verhärmte alte Schachtel, die dem Sozialsystem zur Last fallen würde …
Ein schriller Schrei flog durch den Wald; ein abgehackter, menschlicher Schreckenslaut, dem wie ein tierisches Echo das aufgeregte Keckern eines Eichelhähers folgte.
Das Rehlein mit der Recyclingtasche zuckte zusammen. »Was war denn das?«, fragte sie.
»Da hat wohl jemand die Erfahrung gemacht, dass die Natur nicht zwangsläufig des Menschen sanfter Freund ist.«
Lila legte die hübsche Stirn in verständnislose Falten, und Bella schob nach: »Vermutlich hat sich jemand in einen Ameisenhaufen gesetzt. Oder sich an einer Brombeerranke die Haut aufgerissen …«
Etwa zehn Minuten später waren vom Wengleinweg her erregte Stimmen zu hören. Jörg, an der orangefarbenen Jacke leicht zu erkennen, trat aus dem lichten Schatten der frühlingsgrünen Bäume und schob die Blondine vor sich her, der er schon seit Kursbeginn nachstellte wie jagdbarem Wild. Sie war einen Kopf größer, zehn Jahre jünger und deutlich attraktiver als er; was ihn ebenso wenig schreckte wie ihre höflichen Versuche, ihn auf Abstand zu halten. Dem ungleichen Paar folgten zwei ältere Kursteilnehmer in beigen Wanderhosen und rot karierten Hemden auf dem Fuß – Hermann und Johanna Dennerlein.
»Ameisenhaufen?« Lila schnalzte zweifelnd mit der Zunge. »Für mich sehen die aus, als hätte der Teufel sie um ihre Seelen angeschnorrt …«
Sie sollte recht behalten. Was sie, in Bellas Augen, kein bisschen sympathischer machte.
*
Unweit der Luisenhütte markierte auf vierhundertfünfundachtzig Metern über Normalnull ein im alpenländischen Stil gehaltenes Wegkreuz den höchsten Punkt des Wengleinwegs. An christlichen Feiertagen wurden hier gelegentlich Freiluftgottesdienste zelebriert; ansonsten war das hölzerne Kruzifix ein beliebtes Hintergrundmotiv für die Selfies diverser Natur- und Wanderfreunde. Schon von Weitem bemerkte Bella den Mann, der seinen schmalen Rücken an die vertikale Strebe des Kreuzes lehnte – er wirkte so friedlich, als sei er während einer Rast kurz eingenickt.
Aus der Nähe betrachtet sah die Sache anders aus.
Der Tote war einer ihrer Kursteilnehmer – Julius Imthal, Gemeinderat im aufstrebenden, nur wenige Kilometer entfernt im Pegnitztal gelegenen Mittelzentrum Velden. Imthal war eher ein Freund der Wirtschaft als der Natur; und wann immer das Wochenblatt über die Ausweisung neuer Wohn- und Gewerbegebiete, erste Spatenstiche oder Grundsteinlegungen berichtete, gab es dazu ein zweispaltiges Farbfoto von ihm: stets lächelnd, adrett gekämmt und in fescher Tracht. Aber hier und jetzt, im Angesicht des eigenen Todes, formten seine dünnen Lippen ein verkniffenes, nach unten offenes Oval über einem fleckigen T-Shirt und einer abgewetzten Cordhose. Seine runden Äuglein starrten über den Rand seines verrutschten Markenzeichens, einer altmodischen Hornbrille, überrascht ins Leere; sein dünnes Blondhaar war zerzaust und blutverschmiert. Einen Schritt hangabwärts lag sein Wanderrucksack, aus dessen offener Deckelklappe die Habseligkeiten quollen wie Eingeweide aus einem ausgeweideten Tier.
»Das ist Julius. Er ist tot«, erklärte Jörg überflüssigerweise.
Bella holte ihr Handy aus der Umhängetasche und wählte den Notruf.
*
Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis vom Forstweg westlich des Wengleinparks ein Martinshorn zu hören war. Das Geräusch schwoll an und verstummte, Autotüren schlugen. Der Wind trug abgehackte Fetzen menschlicher Stimmen durch den Wald – wer keinen Geländewagen besaß, musste die letzten hundert Meter vom Forstweg bis zum Wegkreuz notgedrungen zu Fuß zurücklegen.
Bellas Osterkurs hatte sich inzwischen vollständig um den Toten versammelt und sah dem Trupp, der wenig später zwischen den Bäumen auftauchte, gespannt entgegen. Zwei Streifenbeamte – ein leptosomes Bübchen, dem die Uniform drei Nummern zu groß war, und ein dralles, rotwangiges, Kaugummi kauendes Mädel – verwiesen Bella und ihre Kursteilnehmer energisch auf weit von der Leiche entfernte Plätze und nahmen anschließend ihre Personalien auf. Zwei Sanitäter beugten sich über den Toten, überließen ihre Plätze aber bald einem grau melierten Herrn mit Froschaugen hinter einer randlosen Brille – dem Arzt, wie Bella vermutete. Ein Mittdreißiger in Zivil stellte sich als Kriminalkommissar Karlheinz Bauer von der Polizeiinspektion Hersbruck vor.
»Gehören Sie zusammen?«, fragte er in die Runde. »Kennen Sie den Toten?«
So gut sein Name und sein Oberpfälzer Bellen zum Klischee eines Provinzkommissars passten, so wenig tat es seine Physiognomie: Er maß athletisch durchtrainierte zwei Meter und trug unterhalb des glatt rasierten Schädels buschige Augenbrauen und einen schwarzen Vollbart an der Grenze dessen, was die Allgemeine Polizeidienstrichtlinie zum erwünschten Erscheinungsbild deutscher Beamter hergab. Aus dem Ausschnitt seines tannengrünen T-Shirts lugte der Arm einer Krake – offensichtlich Teil eines bunten Tattoos, dessen Mittelpunkt Bella in der Nähe des Bauchnabels vermutete. Ehe sie sich eine Antwort auf seine Frage überlegen konnte – was hieß schon zusammengehören, wenn sogar ein Eheversprechen schneller aufgelöst werden konnte als ein Mobilfunkvertrag? –, räusperte sich die rotwangige Streifenbeamtin, spuckte ihren Kaugummi aus und trat an Bauers Seite. »Das sind so Naturfreaks«, erklärte sie ihm hinter vorgehaltener Hand und mit einer Stimme, die sie wohl für ein Flüstern hielt. »Die haben sich über die Osterferien im Grünen Schwan in Eschenbach einquartiert und machen hier, Achtung, Originalzitat, eine