Fränkisches Pesto. Susanne Reiche
zwei Gästezimmer in einem Gast- und Tagungshaus namens Grüner Schwan gebucht, das alles bot, was man sich wünschen konnte: eine angenehm schlichte Gemütlichkeit, einen lauschigen Biergarten, freundliches Personal und, last, but not least, gutes Landbier und regionale Küche. Nach Kastners Ansicht gab es keinen Grund, sich von diesem Hort der Gastlichkeit weiter als fünfhundert Meter zu entfernen – für einen kleinen Verdauungsspaziergang etwa –, aber Mirjam sah die Sache offensichtlich anders.
»Na gut, Hase«, seufzte er. »Wir können ja nach dem Frühstück einen Plan machen.«
»Ich habe bereits einen Plan!«, lächelte Mirjam.
Während Kastner mittels zweier Rühreier mit Speck und einer mit fränkischen Wurstspezialitäten belegten Semmel den ärgsten Hunger stillte, mietete Mirjam telefonisch einen Kanadier mitsamt Ausrüstung, buchte Zubringer- und Rückholtaxi, studierte auf ihrem Smartphone die aktuellen Wasserstände der Pegnitz und die geltende Kanuverordnung zum Schutz von Natur und Umwelt und fuhr die geplante Route vorab auf einer virtuellen Karte ab. Das bloße Zusehen und Zuhören erschöpfte Kastner derart, dass er sich ohne Weiteres bis zum Mittagessen wieder ins Bett hätte legen können.
Mirjam kannte kein Pardon. »Und los«, rief sie, kaum dass er sein Frühstücksbesteck aus der Hand gelegt hatte.
*
»Juhu«, johlte Jannik, als das Boot eine Stromschnelle hinunterschoss, und fuchtelte mit seinem Paddel herum. Kastner zog den Kopf ein, um einen offenen Nasenbeinbruch zu vermeiden.
»Hör mit dem Gehampel auf, du Affe«, wies Sofie ihren kleinen Bruder zurecht. »Wenn wir umkippen, ertrinkst du als Erster, weil du nämlich nicht schwimmen kannst.« Die Dreizehnjährige thronte mit der Haltung einer höheren Tochter im Kajak: den Rücken kerzengerade, das Kinn erhoben, den Arm mit dem Paddel elegant abgewinkelt.
»Gar nicht wahr!«, schrie Jannik empört. »Ich hab den Freischwimmer! Und eine Schwimmweste!«
»Das nützt nix«, erklärte Sofie. »Die fiese Strömung packt dich wie eine Schnappfalle einen fetten Biber und zieht dich immer weiter hinunter; und dann läuft dir das Wasser mitsamt den ganzen ekligen Algen und Würmern in die Nase und in den Mund …«
»Ist ja gut jetzt«, schnaubte Mirjam von hinten. »Wir werden nicht kentern. Aber wir müssen weiter nacht rechts … Rechts, Kastner! Das andere Rechts! Du musst schon mitpaddeln, ich kann nicht alles alleine machen!«
Kastner tat pflichtschuldig, wie ihm geheißen. Obwohl es ein lauer Apriltag war, lief ihm der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter. Er verfügte durchaus über nautische Erfahrung – während seiner Gymnasialzeit hatte er mit seiner Jugendliebe Yvonne aus der Parallelklasse eine Tretbootfahrt über den Nürnberger Dutzendteich unternommen –, aber dies hier war definitiv etwas anderes: Lediglich eine dünne Gummiwand trennte seinen Körper von dem reißenden Strom, seine Beine waren blutstauend angewinkelt, und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Dazu musste er noch den zappeligen Jannik und die superschlaue Sofie im Auge behalten und die Anweisungen befolgen, die Mirjam von hinten gab – für beschauliche Naturbetrachtung blieb da wenig Zeit.
Und jetzt vibrierte auch noch sein Handy.
Das konnte eigentlich nur Claudia sein. Sie hatte seit gestern schon zweimal angerufen, vermutlich, weil sie seinen pädagogischen Fähigkeiten nicht recht traute.
»Claudia?«, schrie er gegen den tosenden Strom an, nachdem es ihm gelungen war, das Mobiltelefon aus dem Plastikbeutel zu pfriemeln, in den er es vorsorglich eingeschlagen hatte. »Hier ist alles in Ordnung, den Kindern geht es gut. Kann ich dich später zurückrufen? Wir rasen gerade in einem Gummiboot die Niagarafälle runter!«
»Kastner? Es tut mir wirklich leid, Sie im Urlaub stören zu müssen«, sagte eine Stimme, die ganz sicher nicht die von Claudia war. »Aber, nun ja, wir haben da im Pegnitztal eine Leiche, die vermutlich keines natürlichen Todes gestorben ist …«
»Muss das jetzt sein, Kastner?«, rief Mirjam von hinten. »Wenn das Claudia ist, dann ruf sie doch bitte später zurück – da vorne kommt wieder eine Stromschnelle!«
Jannik beugte sich weit über den Bootsrand und krähte: »Boah, Leute, schaut mal! Da ist ein voll fetter Fisch! Das ist bestimmt ein Walfisch!«
»Wale sind keine Fische!«, schnaubte Sofie. Wie immer hatte sie recht und verfehlte mit ihrer Argumentation dennoch knapp den Punkt: Selbst wenn Wale Fische gewesen wären, hätten sie sich die Bäuche wohl kaum im flachen Süßwasserflussbett der Pegnitz aufgeschürft.
Mirjam schrie: »Nach links, Kastner! Links!«
»Kastner?«, fragte die Stimme aus dem Telefon. »Was rauscht denn da so? Hören Sie mich?«
Der Kanadier trudelte in die Stromschnelle, verhakte sich an einem unsichtbaren Hindernis und drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achse. Sofie kreischte hysterisch, Mirjam fluchte wie ein Bierkutscher. Jannik beugte sich noch ein Stück weiter vor und spähte angestrengt ins Wasser. »Das ist ein Killerwal!«, stellte er fest und holte mit dem Paddel aus, um die Bestie zu erlegen.
Ehe Kastner nach ihm greifen konnte, kippte der Junge wie ein Stein über Bord.
*
Ein Grüppchen junger Kajakfahrer in neonbunter Kleidung applaudierte im Vorbeifahren ironisch, als Kastner mit Jannik unter dem Arm ins Trockene kletterte. Vom Ufer aus betrachtet stellte sich die Situation wenig dramatisch dar, wie Kastner zugeben musste: Die Pegnitz plätscherte gemütlich durch ihre breite, von frischgrünen Erlen und Weiden gesäumte Aue, und die Stromschnellen waren nicht mehr als kurze Abschnitte mit geringfügig muntererer Strömung. Als er in den Fluss gesprungen war, um Jannik vor dem Ertrinken zu retten, hatte er sich wie Indiana Jones gefühlt – aber das Wasser war dem Jungen nur bis zur Hüfte gegangen.
»Postpubertäre Ignoranten«, schimpfte Mirjam den Kajakfahrern hinterher, während sie den Kanadier an Land zog. Dann küsste sie Kastner auf den Mund. »Das war sehr tapfer von dir.«
Sofie hielt ihrem pitschnassen Bruder eine routinemäßige Standpauke, die Jannik ebenso routinemäßig von sich abgleiten ließ.
»Wenn Kastner den Killerwal nicht mit seiner Arschbombe verscheucht hätte, dann hätte ich den gefangen«, beharrte er.
Unterdessen telefonierte Mirjam mit dem Bootsverleih. »Wir hatten einen direkteren Kontakt zum nassen Element, als uns lieb war«, erklärte sie eloquent, führte die noch kühlen Außentemperaturen und die Verantwortung für fremde Kinder ins Feld und übermittelte ihre aktuellen GPS-Daten. Eine Viertelstunde später kam das Rückholtaxi und brachte sie zurück in den Grünen Schwan, wo Mirjam den zähneklappernden Jannik mit einer Wärmflasche ins Bett packte. Sofie zog sich ebenfalls zurück, um ihren Freundinnen per WhatsApp mitzuteilen, wie knapp ihr Bruder dem Tod entronnen war. Vermutlich unter dem Titel Mein schönstes Ferienerlebnis.
Kastner nahm zuerst eine heiße Dusche, dann ein kühles Landbier und anschließend einen Schmorbraten vom regional aufgewachsenen Biorind.
»Jetzt stell dir mal vor, das wäre schiefgegangen«, sagte Mirjam, die sich für eine Salatplatte mit Frühlingskräutern entschieden hatte, schaudernd. »Wenn Jannik ertrunken wäre, hätte Claudia dir vermutlich bei lebendigem Leib die Gedärme aus der Bauchhöhle entfernt.«
»Davon gehe ich aus«, stimmte Kastner mit vollem Mund zu. Das Biorind wurde von einer sämigen Rotweinsauce mit dezentem Rosmarinaroma, gedämpftem Brokkoli und hausgemachten Spätzle begleitet – eine recht stimmige Kombination.
»Zumal sie ja quasi live dabei war«, sagte Mirjam.
»Live dabei?«, echote Kastner verständnislos.
Mirjam hob die Augenbrauen. »Du hast doch mit ihr telefoniert, als Jannik ins Wasser gefallen ist?«
»Ach du liebe Güte – nein«, erklärte Kastner. »Nein, das war nicht Claudia. Das war Carsten Wismeth.«
Mirjam hob die Augenbrauen noch ein wenig höher und brachte es fertig, gleichzeitig die Stirn zu runzeln. »Dein