Fränkisches Pesto. Susanne Reiche
könnte er es hinterher bereut haben«, spann Kastner seinen Gedanken weiter. »Womöglich hat das Opfer noch gelebt, und er wollte es ihm etwas bequemer machen? Oder ganz im Gegenteil – er wollte ein Ausrufezeichen hinter seine Tat setzen und uns mit dieser Inszenierung irgendeine Botschaft übermitteln?«
»Erwartest du, dass ich diese wilden Spekulationen kommentiere?«, erkundigte sich Martina.
»Natürlich nicht«, sagte Kastner. »Bleiben wir bei den Fakten: Gab es einen Kampf? Hat das Opfer sich gewehrt?«
»Auf den ersten Blick sieht es nicht danach aus. Allerdings war der Inhalt von Imthals Rucksack teilweise herausgezerrt und verstreut – ob das vor oder nach seinem Tod passiert ist, kann ich dir eventuell nach der Laboruntersuchung sagen.«
»Ein Raubmord?«
»Falls ja, ging es nicht um Geld«, erklärte Martina. »Imthals Geldbörse war noch da, inklusive Kreditkarten und Bargeld. Wir haben jedoch kein Handy gefunden.«
»Vielleicht hatte er keins dabei?«
»Ich bin sicher, du wirst es herausfinden!«
»Hm«, machte Kastner. »Was habt ihr sonst eingesammelt?«
»Kronkorken, Kippen, Kaugummis, Bonbonpapierchen und Schokoriegelverpackungen, dazu drei Apfelbutzen, eine leere Energydrinkdose sowie einen Haufen Erbrochenes. Man könnte meinen, die Parkverwaltung hätte den Mord begangen, damit hier endlich mal wieder jemand richtig sauber macht. Wir haben Gipsabgüsse von Fußspuren der Größen achtzehn bis fünfundvierzig und den Reifenabdrücken diverser Mountainbikes genommen und einen Perlenohrring, ein Medaillon mit dem Konterfei des heiligen Antonius und einen Angelhaken eingetütet …«
»Einen Angelhaken? Hier oben auf dem Berg?«
»Es handelt sich um einen Drillingshaken aus Kohlenstoffstahl in Größe acht, geeignet für Raubfische wie Hecht und Forelle«, führte Martina aus und fügte grinsend an: »Meine Mitarbeiter haben viele Talente – Rudi zum Beispiel ist nicht nur ein Freund der Pegnitztalbrücken, sondern auch passionierter Angler.«
»Du erwähnst diesen Rudi auffallend oft«, schoss Kastner ins Blaue. »Seit ihr näher bekannt?«
»Wir haben schon mal ein Feierabendbier zusammen getrunken«, gab Martina ungerührt zurück.
Martina Götz aus der Reserve zu locken war ein schwieriges Unterfangen. Kastner kabbelte sich beruflich seit vielen Jahren mit ihr, aber über ihr Privatleben wusste er kaum etwas. Durch die Flure des Polizeipräsidiums in Nürnberg geisterten Gerüchte, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Die einen waren überzeugt, Martina pflege seit Jahren ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann in hoher Position (im Gespräch war sogar der Polizeipräsident höchstselbst); andere behaupteten, sie lebe aus Gründen, die nichts mit dem schwesterlichen Teilen von Lebenshaltungskosten zu tun hatten, mit einer Frau zusammen. Mangels fundierter Informationen hatte Kastner keine eigene Meinung zu dem Thema, aber er bewunderte Martina für die Grandezza, mit der sie all das müßige Getuschel von sich abperlen ließ.
Über dem nachtdunklen Wald schimmerten die Sterne, es war inzwischen eisig kalt. Kastner zog den Wollpulli aus seinem Rucksack und schlüpfte hinein. Obwohl sein Magen laut knurrte, ließ er die Äpfel und die Schokolade links liegen – es gab einen Grad an Hunger, den man nicht mit artigen Nippes stillen konnte. Vor seinem geistigen Auge erschien ein saftiger Spanferkelbraten mit Kloß und Soß, aber er hätte sich inzwischen auch mit vier fränkischen Bratwürsten und einer Portion Sauerkraut zufriedengegeben. Ein Blick auf sein Handy belehrte ihn eines Schlechteren: Es war nach zweiundzwanzig Uhr. Er konnte von Glück sagen, wenn die Küchenperlen im Grünen Schwan ihm aus reinem Mitleid noch ein Wurstbrot servieren würden.
»Kann ich mit euch runter ins Tal fahren?«, fragte er Martina.
»Klar«, sagte die Chefin der KTU. »Ach ja, ehe ich es vergesse …« Sie kramte in ihrer Jackentasche und zog ein Handy heraus. »Das ist dein neues Mobiltelefon. Mit allen relevanten Nummern und einem schönen Gruß von Carsten Wismeth.«
Tag 2/Dienstag/Brothers in Frankenwein
»Eine verdeckte Ermittlung?« Karlheinz Bauer, der Hersbrucker Kommissar, der das Tötungsdelikt aufgenommen und vernünftigerweise sofort das Polizeipräsidium Mittelfranken eingeschalten hatte, richtete seine kohlschwarzen Augen auf einen Punkt knapp hinter Kastners linker Schulter und strich sich mit kräftigen Fingern nachdenklich durch den krausen Bart. Er hatte die langen Beine übereinandergeschlagen und versuchte ebenso geübt wie vergeblich, sie unter dem Normschreibtisch zu verstauen, der einem Beamten seiner Gehaltsklasse zustand. »Unter uns gesagt: Das klingt irgendwie nach einem schlechten Tatort.«
Das hatte Kastner nun schon öfter gehört, bislang allerdings noch nicht aus dem Mund eines Mannes, den ein Krimiproduzent mit Kusshand als Außendienstmitarbeiter eines mafiös strukturierten arabischen Familienclans besetzt hätte. Er verkniff sich ein Schmunzeln und legte dem Kollegen die Vorteile dar, die sich seiner Meinung nach daraus ergaben.
Bauer hörte geduldig zu und zuckte dann die Achseln: »Wie dem auch sei, ich bin froh, dass Sie den Fall übernehmen. Mit Einbruchdiebstahl, Körperverletzung und Unfallflucht kenne ich mich aus, aber Mord ist definitiv nicht mein Fachgebiet.«
»Wir werden wohl eher zusammenarbeiten«, stellte Kastner klar. »Ich bleibe inkognito, Sie bleiben der leitende Ermittler. Sonst funktioniert die Sache ja nicht.«
Bauer nickte. »Die Teilnehmer des Kräuterkurses sind dringend tatverdächtig, nehme ich an? Sie kannten das Opfer, waren zur Tatzeit am Tatort …«
»Bessere Verdächtige kann man sich kaum wünschen«, stimmte Kastner zu, erfreut darüber, dass hier jemand mitdachte.
Bauer strich sich einmal mehr durch den Bart, holte einen Schnellhefter aus der Schreibtischschublade und schob ihn zu Kastner hinüber. »Das ist eine Kopie der Ermittlungsakte. Viel haben wir noch nicht, aber wir haben die Kräuterfreunde heute Vormittag befragt. Sie haben einen recht harmlosen Eindruck auf mich gemacht – sie waren kooperativ, haben freiwillig ihre Fingerabdrücke und eine DNA-Probe abgegeben und ihre Wanderschuhe für einen Profilabgleich zur Verfügung gestellt. Nun ja, mehr oder weniger freiwillig.« Bauer schmunzelte. »Einer von ihnen, ein junger Mann namens Tom Gellert, hat zunächst befürchtet, wir wären im Auftrag des Überwachungsstaates unterwegs, um den gläsernen Bürger noch besser auszuleuchten. Aber schließlich hat auch er sich überzeugen lassen. In den Aussagen der Kursteilnehmer gibt es weder Widersprüche noch Hinweise auf ein Motiv. Alle geben an, Imthal vor Kursbeginn nicht gekannt zu haben.«
Kastner widerstand der Versuchung, durch seinen eigenen Bart zu streichen. Normalerweise war er glatt rasiert – Polizeidirektor Wismeth legte Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild seiner Beamten. Übers Wochenende oder im Urlaub ließ Kastner den Rasierapparat jedoch gerne mal in der Schublade liegen, und deshalb spross zurzeit etwas auf seinen Wangen, das Mirjam despektierlich ein Fünftagesgestrüpp nannte. Obwohl sie einen gepflegten Vollbart an Kinohelden oder Fußballspielern nach eigener Aussage ziemlich sexy fand, beschwerte sie sich bei Kastner umgehend über piksende Stoppeln und drohende Verwahrlosung, sobald er diesen Vorbildern auch nur annähernd nahekam. Er hatte es seit Langem aufgegeben, seine Lebensgefährtin auf die Folgewidrigkeit ihrer Botschaften hinzuweisen – launenhafte Inkonsequenz war vermutlich schon seit Jahrmillionen ein Vorrecht des weiblichen Geschlechts und musste wohl irgendeine evolutionäre Relevanz für das Überleben der menschlichen Spezies haben.
»Ich bin offen für andere Ermittlungsansätze«, sagte er. »Falls Sie in Imthals privatem oder politischem Umfeld jemanden mit einem schlüssigen Motiv finden, der es geschafft hat, zur Tatzeit an diesem entlegenen Tatort zu sein und von dort wieder zu verschwinden, ohne von den anderen Kursteilnehmern bemerkt zu werden, soll es mir recht sein. Ich halte nur eines für unwahrscheinlich: dass Imthal mitten im Wald zum Zufallsopfer irgendeines Psychopathen geworden ist.« Er tippte auf die Ermittlungsakte. »Darf ich mir das mitnehmen?«
»Natürlich«, nickte Bauer. »Die Aussagen der Kräuterfreunde kann ich Ihnen auch als Audiodatei zukommen lassen, wenn Sie möchten.«