Fränkisches Pesto. Susanne Reiche
Der zugehörige Ehemann hat sich vor sechs Monaten auf die Kanarischen Inseln abgesetzt und zahlt keinen Unterhalt.
Nicht eben die feine englische Art, dachte Kastner.
Frau Lindemann hatte ihre Kursteilnehmer am Ostermontag wie geplant gegen neun Uhr morgens im Grünen Schwan abgeholt. Sie waren zu elft aufgebrochen – ein Ehepaar namens Mücke hatte sich mit einer akuten Grippe entschuldigt. Im Wengleinpark waren ihnen andere Naturfreunde und Wanderer begegnet: am Abzweig zum Salamanderweg ein Berufskollege von Frau Lindemann, der mit einer Gruppe aus einer inklusiven Kinderbetreuungseinrichtung unterwegs war; zwischen Hartmannshofer Hütte und Infohaus eine gemischte Wandergruppe mit einem großen, schwarzen Hund; am Malerwinkel zwei junge Frauen, die nach dem Weg gefragt hatten – sie wollten nach Vorra, ins Pegnitztal hinunter. Alle waren auf dem Weg bergab, hatte KK Bauer notiert.
Zwischen elf Uhr dreißig und elf Uhr fünfundfünfzig hatten die Kräuterfreunde an der Luisenhütte eine Mittagsrast gemacht. Imthal war zu dieser Zeit noch wohlauf gewesen und hatte mit den anderen gevespert und geplaudert – einige erinnerten sich, dass er mit seinem Smartphone fotografiert hatte.
Kastner unterstrich gedanklich das Wort Smartphone.
Nach der Rast war Frau Lindemann an der Luisenhütte geblieben, die anderen waren ausgeschwärmt, um Kräuter zu bestimmen. Von da an verlor sich Imthals Spur im Ungewissen: Niemand konnte (oder wollte) sich erinnern, ob er allein oder in Begleitung aufgebrochen war oder welche Richtung er eingeschlagen hatte, und niemand wollte ihn nach der Rast noch einmal getroffen oder eine Nachricht von ihm erhalten haben. Bis, etwa um zwölf Uhr dreißig, eine Nadja Lipinski – siebenunddreißig, ledig, Heilpraktikerin und wohnhaft in Fürth/Bayern – seinen leblosen Körper bemerkte.
Kastner las Nadja Lipinskis Aussage. Offenbar hatte die Frau einen Schock erlitten, als ihr nach einigen Minuten klar wurde, dass der Mann am Wegkreuz sowohl tot als auch ein Kurskollege war. Auf Bauers Frage, ob sie sich über den Toten gebeugt oder ihn berührt habe und ob ihr sein Rucksack aufgefallen sei, hatte sie geantwortet: Ich weiß es leider nicht, das ist alles wie hinter einer schwarzen Wand. Ich glaube, ich habe zuerst laut geschrien, und dann ist mir schlecht geworden. Irgendwann war Jörg da und hat versucht, mich zu beruhigen.
Er blätterte weiter und überflog die Aussage von Jörg Ott, einem achtundvierzigjährigen Einzelhandelskaufmann aus Nürnberg: Die arme Nadja sei nahezu hysterisch gewesen, als er sie etwa zwei, drei Minuten nach ihrem lauten Schrei am Wegkreuz gefunden habe. Sie habe gezittert wie Espenlaub. Ja, er habe sich die Leiche aus der Nähe angesehen und auch den zerfledderten Rucksack bemerkt, und nein, er habe nichts angefasst …
Aha, dachte Kastner. Er nippte an der Kaffeetasse und verzog den Mund – der Cappuccino hatte inzwischen zum Eiskaffee umgeschult.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte jemand und nahm, ohne eine Antwort abzuwarten, auf der Bierbank gegenüber Platz. »Wir haben uns gestern im Wengleinpark getroffen, bei dem Absperrband – Sie erinnern sich?«
Kastner erinnerte sich natürlich – der Walrossbart war unverkennbar, obwohl der Senior heute einen grauen Trachtenjanker über dem rot karierten Hemd trug.
»Hermann Dennerlein«, stellte der Mann sich vor und lüpfte einen imaginären Hut. Sein Blick streifte Kastners Kuchenteller, ehe er sich neugierig an der Ermittlungsakte festsog.
Kastner schlug die Akte zu und legte sie mit der Rückseite nach oben beiseite – auf der Vorderseite standen die mit schwarzem Filzstift geschriebenen und einer verdeckten Ermittlung nicht eben zuträglichen Worte Todesfall Imthal/Wengleinpark.
Dennerleins Blick wanderte geschmeidig zurück auf Kastners Teller. »Der Kuchen sieht sehr lecker aus … Sie machen hier Urlaub? Ein paar freie Tage mit Frau und Kindern, Ausflüge, den Frühling genießen?« Er ließ seine Worte in der Luft hängen und sah sich in dem menschenleeren Biergarten um, als hoffe er, Kastners Familie unter einem der Tische versteckt zu entdecken – offenbar gab es ihm zu denken, dass er Kastner nun schon zum zweiten Mal alleine antraf.
»Meine Lebensgefährtin macht mit den Kindern eine Radtour«, verteidigte sich Kastner reflexhaft.
Dennerlein winkte dem Kellner und bestellte sich ebenfalls einen Apfelkuchen, dann deutete er auf die Ermittlungsakte. »Und Sie haben sich ein bisschen Arbeit aus dem Büro mitgenommen?«
»So ist es.«
Dennerlein lächelte. »Das kenne ich – ich habe mehr als dreißig Jahre als Ingenieur bei der KWU in Erlangen gearbeitet, und zwar in einer recht verantwortungsvollen Position. Ich musste mir auch gelegentlich Arbeit mit in den Urlaub nehmen.«
Kastner kramte in seiner Erinnerung. »KWU – Kraftwerk Union? War das nicht ein gemeinsames Tochterunternehmen von Siemens und AEG, das Kernkraftwerke gebaut hat?«
Dennerlein nickte. »Tschernobyl und Fukushima haben die Atomenergie ja etwas in Verruf gebracht«, gab er zu. »Aber wie will man dem Klimawandel begegnen, aus der Kohle aussteigen und CO2-neutral Energie gewinnen, ohne die Kernkraft zu nutzen? Das mag in Deutschland gerade noch funktionieren, aber europaweit ist das reine Illusion.«
»Sie glauben, man braucht den Teufel, um den Beelzebub auszutreiben?«, fragte Kastner. Etwas in Verruf gebracht schien ihm ein witziger Ausdruck. Genauso gut konnte man sagen, dass radioaktiver Müll relativ lang eine eher ungesunde Strahlung absonderte oder dass seine Lagerung ein paar Probleme aufwarf. Vor den Folgen eines Super-GAUs hatten die Kernkraftkritiker schon lange vor Tschernobyl oder Fukushima gewarnt, und von sicherer Endlagerung sprach niemand mehr laut, seit die Schachtanlage Asse voll Wasser gelaufen war und für mindestens fünf Milliarden Euro Steuergelder saniert werden musste. Auch vierunddreißig Jahre nach Tschernobyl tickte noch der Geigerzähler, wenn man sich einen Wildschweinbraten mit Waldpilzen bestellte – im Vergleich zu den toten, an Krebs erkrankten oder heimatlos gewordenen Menschen sicher ein kleines Übel, aber schon für sich genommen ein K.-o.-Argument gegen die Nutzung der Kernkraft, wie Kastner fand.
»Ich fürchte, da geht es um Fakten, nicht um den Glauben«, behauptete der Senior. Dann nahm er die Ermittlungsakte wieder ins Visier und fragte: »Was hatten Sie gesagt, machen Sie beruflich?«
Dazu hatte Kastner bisher nichts gesagt, wie Dennerlein vermutlich sehr gut wusste. In der Tat brachten ihn erst die zudringlichen Fragen des ehemaligen KWU-Ingenieurs darauf, dass er sich als verdeckter Ermittler längst eine stimmige Legende hätte zurechtlegen müssen.
»Ich bin Beamter«, erklärte er vage.
»Beamter? Das ist gut. Und Ihre Partnerin hat Verständnis dafür, dass Sie sich Arbeit mit in den Urlaub nehmen?«, fragte Dennerlein und deutete einmal mehr auf die Ermittlungsakte. »Meine Ilse – Gott hab sie selig – hatte leider keins. Das liegt wohl daran, dass Frauen naturgemäß andere Prioritäten setzen.«
Der Kellner brachte Dennerleins Apfelkuchen.
»Das kommt vermutlich auf die Frau an«, sagte Kastner. »Meine Lebensgefährtin ist selbst berufstätig – mit Sachzwängen kennt sie sich ebenso gut aus wie ich.«
»Ach«, seufzte Dennerlein, »ja, ja, das ist der Geist der Moderne. Heutzutage verdienen die Frauen ihr eigenes Geld und lassen sich keine Vorschriften mehr machen.« Er nickte nachdenklich und fügte an: »Mir tun nur die Kinder leid. Die armen Würmer werden in Kitas, Horte und Ganztagsschulen abgeschoben, und dann wundert man sich, wenn sie drogenabhängig und kriminell werden und Egoismus mit einer Wertvorstellung verwechseln.« Er hackte ein Stück von seinem Kuchen ab und schob es sich in den Mund. Sein Walrossbart vibrierte, während er kaute. »Ich verstehe durchaus, dass sich die Frau von heute nach Ausbildung oder Studium nicht mehr an den heimischen Herd verbannen lässt«, gab er preis, nachdem er hinuntergeschluckt hatte, »aber die Bindung zwischen Mutter und Kind ist eine starke natürliche Kraft, die man nicht ungestraft negieren kann.«
Die Frau von heute löste bei Kastner Assoziationen mit adrett ondulierten Damen in gestärkten Haushaltsschürzen aus, die ihren Ernährern mit Tränen in den Augen für die Anschaffung eines Kühlschranks dankten. Wäre Mirjam hier gewesen, sie hätte längst die Augenbrauen gehoben und Dennerlein nach der Rolle der Väter gefragt, die ihre