Fränkisches Pesto. Susanne Reiche

Fränkisches Pesto - Susanne Reiche


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dem Familienkind die Ohren zu.

      »Können wir jetzt bitte gehen, Mario?«, zischte sie ihren Mann an. »Wie oft willst du dir das noch anhören?«

      »Ich hab dem armen Julius den Puls gefühlt«, ergänzte der Walrossbart im Plauderton. »Man will sich ja nicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Obwohl es an seinem Tod eigentlich keinen Zweifel gab – überall Blut und Knochensplitter.«

      »Das ist ja krank«, sagte die Frau angewidert. Ihr Kind, ein etwa sechsjähriger Junge, versuchte vergeblich, seine Ohren aus ihrem Klammergriff zu befreien.

      »Wie recht Sie haben!«, stimmte der Senior jovial zu. »Die zunehmende Verrohung der Gesellschaft gibt einem wirklich zu denken …«

      »Ja, früher war alles besser!«, schnappte die Frau. »Hexenverbrennungen, Pest, Kolonialismus, zwei Weltkriege – das reine Idyll. Ich schätze, in der guten alten Zeit wären Sie auch nicht hier herumgestanden und hätten vor den Ohren eines Kindes sensationslüstern die blutigen Details eines Verbrechens erörtert?«

      Mario räusperte sich. »Sie müssen Cordula entschuldigen«, sagte er, »sie hat gerade ihre … sie hat heute einen schlechten Tag.«

      Der Sprecher der Seniorengruppe nickte verständnisvoll.

      Mario zückte sein Handy, stellte sich auf die Zehenspitzen und fotografierte einen der Kriminaltechniker oben am Hang. »Schade, dass man die Leiche von hier aus nicht sehen kann.«

      »Haben Sie Bluetooth?«, fragte der Walrossbart. »Ich habe ein paar Fotos gemacht – wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Daten übertragen.«

      Mario strahlte ihn an. »Wow – das wäre echt nett!«

      »Das glaub ich jetzt nicht«, fauchte Cordula. »Du empörst dich doch immer lautstark über die Gaffer, die die Rettungskräfte behindern, wenn es auf der Autobahn gekracht hat …«

      »Das ist ganz was anderes«, belehrte Mario seine Gattin. »Ich behindere hier ja niemanden!«

      »Ach? Solange man niemanden behindert, ist Gaffen und Fotografieren okay? Gut, dass wir darüber gesprochen haben.« Cordula packte das Kind an der Hand, drehte Mario den Rücken zu und machte sich an den Abstieg ins Tal.

      Mario hielt sein Handy neben das des Walrossbarts. »So dramatisch wirkt das gar nicht«, sagte er, als die Fotos der Leiche angekommen waren. »Der sieht ganz friedlich aus.«

      »Ja, nicht wahr? Aber wenn Sie reinzoomen, sehen Sie das Blut auf dem Kopf – den armen Kerl hat einer erschlagen. Und es kann nicht lange her gewesen sein, denn die Leiche war noch ganz warm, als wir sie gefunden haben …«

      *

      Die Sonne versank im Westen.

      Die Senioren in ihren knielangen Wanderhosen begannen zu frösteln und wünschten einen guten Abend, und endlich verschwand auch Mario in den Schatten der anbrechenden Nacht.

      Kastner schlüpfte unter dem Absperrband hindurch. Inzwischen war es so finster, dass der schmale Pfad kaum noch zu erkennen war. Von den Kriminaltechnikern war nichts mehr zu sehen – womöglich hatten sie längst ihre Schutzanzüge ausgezogen, ihre Ausrüstung in Alukoffern verstaut und die Heimreise angetreten.

      Kastners Herz setzte einen Schlag aus, als etwas über seinen Kopf strich und mit einem schaurig klagenden Schrei zwischen den Bäumen verschwand. Ein Nachtvogel, sagte er sich, ein Uhu oder eine Eule auf Mäusejagd; aber sein Puls beruhigte sich nur langsam. Er war ein Kind der Großstadt, einer menschengemachten Welt aus Lärm und Licht, die der Ratio huldigte – es war eine neue Erfahrung für ihn, dass Vernunft und Logik in einem nachtdunklen Wald wenig Autorität besaßen. Der Einfall, undercover zu ermitteln, erschien ihm hier und jetzt deutlich weniger brillant als am frühen Nachmittag in dem sonnigen Biergarten.

      Unvermittelt fiel grelles Kunstlicht durch die Bäume und trieb mit den Schatten jede Mystik aus dem Wald. Im Schein mehrerer LED-Scheinwerfer erkannte Kastner, keine zwanzig Meter bergauf, das Wegkreuz. Er atmete auf: Dort stand Martina Götz und plauderte mit einigen Mitarbeitern, die ihre Hände an dampfenden Bechern wärmten. Eine Thermoskanne ging herum, Zigarettenrauch stieg in den Abendhimmel.

      Martina kam Kastner ein paar Schritte entgegen. »Du kommst reichlich spät«, sagte sie zur Begrüßung.

      »Tut mir leid. Es gab Verzögerungen.«

      Die Chefin der Spusi zwinkerte ihm zu und machte eine einladende Handbewegung. »Willst du dir den Leichenfundort ansehen?«

      Kastner zögerte.

      »Die Leiche ist allerdings bereits auf dem Weg ins Rechtsmedizinische Institut, und sonst gibt es auch nicht mehr viel zu sehen«, sagte Martina. »Wir haben schon alles eingetütet, was da herumlag. Wer zu spät kommt …«

      »… den bestraft das Leben«, schloss Kastner, obwohl er eher erleichtert war. Er war ein alter Hase in seinem Metier, aber der Anblick gewaltsam ums Leben gekommener Menschen deprimierte ihn nach wie vor.

      Er folgte Martina zum Wegkreuz, bereute es aber bald: Auch ohne Leiche war ein Leichenfundort kein x-beliebiger Platz, sondern die Kulisse einer Tragödie. Ein mit Leuchtfarbe markierter Umriss abstrahierte den Körper eines ehemals atmenden und fühlenden menschlichen Wesens auf nahezu groteske Weise. Zwischen zerdrückten Gräsern und losen Steinbrocken standen Pappschilder, die das Sterben in nüchterne Ziffern und Pfeilsymbole fassten. Zwei Fledermäuse zogen ihre Kreise um das Holzkreuz und jagten die Insekten, die das Scheinwerferlicht anlockte.

      »Wismeth hat gesagt, der Tote war Politiker?«

      Martina nickte. »Julius Imthal, Jurist, Gemeinderat, EU-Kandidat der neoliberalen Partei Vorfahrt! und Besitzer einer Geflügelmästerei; dazu ein hohes Tier im Bauernverband und Mitglied diverser Aufsichtsräte. Letzteres muss man sich fachübergreifend denken: ein bisschen Agrochemie, ein, zwei Banken, ein Landgerätehersteller …«

      »Woher weißt du das alles?«, fragte Kastner verblüfft.

      Martina nickte zur Runde ihrer rauchenden und Kaffee trinkenden Untergebenen hinunter. »Mein Mitarbeiter Rudi wohnt in Hersbruck und ist bei der Bürgerinitiative Pegnitztalbrücken aktiv. Er kannte Imthal von einer Podiumsdiskussion im Veldener Gemeindezentrum.«

      »Bürgerinitiative Pegnitztalbrücken?«, echote Kastner.

      »Die Bahn will die Eisenbahnbrücken im Pegnitztal abreißen und die Strecke elektrifizieren«, erklärte Martina. »Unser Mordopfer hat dieses Ansinnen vorbehaltlos unterstützt. Die BI und der Denkmalschutz vertreten eine andere Meinung: In ihren Augen ist das Stahlfachwerk der vorhandenen Brücken historisch wertvoll und erhaltenswert, und sie verweisen auf die negativen Umweltauswirkungen durch den geplanten Abriss und den Neubau von Tunneln und Betonbauten …«

      »Aha«, unterbrach Kastner. »Und woran ist Imthal gestorben? Meine Quellen sprechen von einer Schädelverletzung … Kann es ein Unfall gewesen sein?«

      »Du meinst, Imthal ist unglücklich gestürzt und hat sich mit letzter Kraft zum Wegkreuz geschleppt, um seinen Leib dort malerisch zu drapieren?« Sie schüttelte den Kopf. »Die Kopfwunde liegt oberhalb der Hutkrempenlinie – das heißt, jemand hat dem Mann einen kräftigen Schlag verpasst.«

      »Womit?«

      »Wir haben etwa fünf Meter hangabwärts einen faustgroßen Steinbrocken mit Blutspuren und Gewebeanhaftungen gefunden …«

      »Eine im wahrsten Sinne des Wortes naheliegende Waffe in dieser steinigen Umgebung«, nickte Kastner. »Das spricht für eine Tat im Affekt. Ist der Leichenfundort auch der Tatort?«

      »Ja, mehr oder weniger.« Martina deutete auf einen Felsbuckel etwa einen Meter unterhalb des Wegkreuzes. »Aus der Verteilung der Blutspritzer schließen wir, dass Imthal dort erschlagen wurde. Anschließend hat jemand seinen leblosen Körper zum Wegkreuz gezerrt und mit dem Rücken dagegengelehnt.«

      »Warum wohl?«, überlegte Kastner laut. »Warum riskiert man, Spuren auf der Leiche zu hinterlassen oder entdeckt zu werden, anstatt sich möglichst schnell aus dem


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