Fränkisches Pesto. Susanne Reiche
die rechtsmedizinischen und kriminaltechnischen Ergebnisse vorliegen, sollten wir uns wieder zusammensetzen und das weitere Vorgehen besprechen … Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit!« Er meinte, was er sagte – KK Bauer schien ihm ein wacher Kopf zu sein, und er fand ihn recht sympathisch. An der Tür hielt er noch einmal inne. »Wollen wir du sagen?«, schlug er vor.
»Karlheinz«, sagte Bauer.
»Kastner«, sagte Kastner.
*
»Mir graut vor der Prüfung«, sagte Claudia. »Ich sitze von früh bis spät über den Unterlagen und kaue mir die Fingernägel wund.«
»Du schaffst das!«, sprach Kastner seiner Kollegin am Telefon Mut zu. »Ich weiß, dass du es schaffst.«
»Ich fürchte, Kriminal- und Rechtstheorie sind nicht so mein Ding. Ich bin wohl eher praktisch veranlagt. Felix dagegen ist voll in seinem Element – er plant schon seine weitere Karriere zum Hauptkommissar und anschließend zum Polizeidirektor.«
Kriminalhauptmeister Felix Wernreuther, wie Claudia bisher im Streifendienst tätig und im Bedarfsfall zu Kastners Unterstützung abkommandiert, nahm ebenfalls an der modularen Schulung teil. Was Ehrgeiz und Selbstbewusstsein anging, überflügelte er seine Kollegin locker; in allen anderen Bereichen hatte er, nach Kastners Einschätzung, einige Defizite.
»Du wirst Felix in allen prüfungsrelevanten Disziplinen deklassieren«, gab er seiner Hoffnung Ausdruck.
»Man kann die Prüfung nur bestehen oder nicht bestehen«, stellte Claudia nüchtern fest. »Und wie läuft’s bei euch? Rufst du aus einem bestimmten Grund an? Ist mit den Kids alles in Ordnung?«
»Alles bestens«, erklärte Kastner. »Mirjam und die Kinder haben sich Fahrräder ausgeliehen und sind entlang der Pegnitz nach Vorra geradelt. Soviel ich weiß, wollen sie in einer Pizzeria Spaghetti essen, danach eine kleine Wanderung machen und nachmittags mit der Pegnitztalbahn zurück nach Hohenstadt fahren – das ist hier der nächstgelegene Bahnhof. Später sind wir zu einer Runde Uno verabredet.« Lassen deine Ermittlungen das zu?, hatte Mirjam beim Frühstück gefragt, ehe er mit ihrem klapprigen Toyota zur Polizeidienststelle Hersbruck aufgebrochen war, um mit Bauer zu sprechen. Aber natürlich!, hatte er beteuert. Was könnte meinem Inkognito zuträglicher sein, als den frühen Abend mit harmlosen Gesellschaftsspielen im Kreise meiner Lieben zu verbringen?
»Ach. Und was machst du so?«, fragte Claudia.
»Oh, tja …« Kastner war versucht, seiner Kollegin von dem Leichenfund im Wengleinpark zu erzählen und sie nach ihrer Meinung zu fragen – bestimmt wäre ihr etwas dazu eingefallen. Aber er verkniff es sich. Claudia sollte sich voll und ganz auf die Prüfung konzentrieren. Die Vorstellung, sie könnte aus einem banalen Grund wie Prüfungsangst scheitern, während Wernreuther mit Wichtigtuerei und kurzfristig angelesenem Wissen alle beeindruckte, war ihm mehr als zuwider. Wernreuthers Ego würde sich zu einem Roten Riesen der Selbstgefälligkeit aufblähen; und Carsten Wismeth, dem sich der junge Beamte bei jeder Gelegenheit andiente, würde ihm mit Sicherheit eine Stelle im Dezernat Eins beschaffen. Direkt an Kastners Seite …
»Ich hatte heute Morgen das Gefühl, es könnte eine Erkältung im Anflug sein«, flunkerte er, »deshalb bin ich nicht mitgefahren. Aber jetzt geht es schon wieder.«
»Hm«, machte Claudia. »Sind Sofie und Jannik halbwegs brav?«
»So fromm wie neugeborene Lämmer«, behauptete Kastner.
Claudia lachte, dann wurde sie ernst. »Sag mal – reicht das Geld, das ich euch für die beiden mitgegeben habe? Ich meine, ich weiß, wie das ist – hier noch ein Eisbecher, da noch eine Cola …«
»Alles gut«, unterbrach Kastner. Claudia war einige Gehaltsstufen unter ihm eingruppiert und als Alleinerziehende immer knapp am Limit. Trotzdem – oder wohl eher deshalb – wollte sie sich nichts schenken lassen.
»Dass ihr euch um meine Kinder kümmert, ist freundlich genug«, sagte Claudia. »Ich will nicht, dass ihr sie auch noch durchfüttert.«
»Das würde uns nicht im Traum einfallen«, log Kastner. »Falls das Geld knapp wird, setze ich Jannik und Sofie einfach auf Butterbrot und Leitungswasser. Da bin ich knallhart.«
»Ich meine es ernst, Kastner«, sagte Claudia.
»Ich auch«, behauptete Kastner.
*
Nach dem Telefonat mit Claudia griff Kastner nach der Ermittlungsakte und setzte sich in den Biergarten. Bis auf zwei rauchende Küchenhilfen, die unter dem Dachvorsprung mit gedämpften Stimmen ein gestenreiches Gespräch führten, war der Biergarten leer. Die meisten Feriengäste des Grünen Schwans waren Pärchen oder Familien, die tagsüber Ausflüge unternahmen; und die wenigen älteren Herrschaften waren vermutlich zu einem Spaziergang ins Café Jakobsklause aufgebrochen und vor dem auffrischenden Wind in die Gaststube geflohen – am Himmel waren graue Wolken aufgezogen. Kastner bestellte sich einen Cappuccino und einen gedeckten Apfelkuchen und schlug die Akte auf.
Zuvorderst gab es ein kurzes Porträt des Opfers: Julius Imthal, geschieden und kinderlos, war nur fünfundvierzig Jahre alt geworden. Er war gebürtiger Hersbrucker und lebte seit seinem fünften Lebensjahr in Velden an der Pegnitz, zwischen 2007 und 2013 war er mit Zweitwohnsitz in München gemeldet gewesen – er hatte eine Legislaturperiode lang im Bayerischen Landtag gesessen. Als nächste Angehörige war eine Tante mütterlicherseits vermerkt, eine achtzigjährige Dame namens Doris Rittmann, welche die Leiche ihres Neffen im rechtsmedizinischen Institut in Erlangen identifiziert hatte – ohne sonderliche Gemütsregung, wie jemand, vermutlich KK Bauer, handschriftlich mit blauem Kugelschreiber ergänzt hatte, dafür aber mit großem Interesse an der Frage, ob der Freistaat Bayern ihr die Auslagen für die Anreise erstatten würde. Die Handschrift des Hersbrucker Kommissars war markant: Die Großbuchstaben standen aufrecht wie Soldaten beim Appell, die kleinen drängten sich aneinander wie frierende Pinguine bei starkem Westwind.
Kastner blätterte um, fand aber nur noch die grobkörnige Kopie eines Fotos, das vermutlich aus Imthals Personalausweis herausvergrößert worden war – die Frontalansicht eines blassen, für einen Mittvierziger recht kindlich wirkenden Gesichts, an dem außer der professoralen Hornbrille nur auffiel, dass es absolut unauffällig aussah.
Da blieben viele Fragen offen, selbst wenn man, wie Kastner, durch das Insiderwissen von Martinas Mitarbeiter Rudi über einige ergänzende Informationen verfügte. Gab es eine Freundin oder Lebensgefährtin? Ärger mit der Exfrau? Enge Freunde oder erklärte Feinde? Irgendwelche politischen Skandale? Wie stand es um Imthals Finanzen?
Der Kellner brachte Kaffee und Kuchen.
Kastner bedankte sich, schlürfte den Milchschaum vom Cappuccino und überdachte seine Möglichkeiten. Claudia, die ihm ruck, zuck ein ausführliches Dossier über das Opfer erstellt hätte, wollte er nicht anrufen, und Kommissar Bauer schon am Tag nach dem Leichenfund mit Nachfragen zu nerven, erschien ihm auch keine gute Idee. Glücklicherweise entdeckte er auf seinem neuen Smartphone einen Button, der eine Verbindung mit dem World Wide Web verhieß – eine Institution, die vermutlich mehr über Imthal wusste als Kommissar Bauers Ermittlungsteam. Er tippte hoffnungsvoll mit dem Zeigefinger darauf. Das Handy verlangte umgehend und in recht strengem Ton nach einem drei Megabyte schweren Update, persönlichen Zugangsdaten und einer achtstelligen Identifikationsnummer.
Kastner schaltete das Gerät kopfschüttelnd aus. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz um die Weltherrschaft hatte in seinen Augen eine kritische Phase erreicht – wer hier die Hosen an und wer zu dienen hatte, war längst nicht mehr klar. Die banale mechanische Fähigkeit, der siliziumbasierten Denkkonkurrenz gelegentlich den Stecker zu ziehen, schien ihm eines der letzten Bollwerke menschlicher Überlegenheit zu sein. Vermutlich war es ein Kampf gegen Windmühlen, aber Kastner war entschlossen, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.
Er blätterte weiter durch die Ermittlungsakte und überflog die Personalien und Aussagen der Kräuterfreunde.
Die Kursleiterin – eine dreiundvierzigjährige Umweltpädagogin