Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld

Der bleierne Sarg - Thomas Frankenfeld


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dämmerige Diele hinein. Sie wusste, wie auf vielen anderen Höfen gab es auch in diesem Haus geheime Winkel, in denen sich Menschen vor den Hunden des Krieges verbergen konnten.

      „Freder …?“, rief sie halblaut, und dann noch einmal.

      Im Haus blieb es jedoch ruhig, geradezu totenstill. Vorsichtig warf sie einen Blick zur Tür hinaus. Ihre Verfolger waren noch nicht zu sehen. Doch aufgegeben hatten sie gewiss nicht, dieser Illusion gab Gesche sich nicht hin. Sie tat ein paar Schritte in den stillen Raum hinein – und erstarrte. Diesen widerlich süßlichen Geruch kannte sie nur zu gut. Jeder in diesen unmenschlichen Zeiten kannte den Hauch des Todes.

      Die junge Magd schritt eilig über den Boden aus gebrannten Ziegelsteinen hinweg, vorbei an der gemauerten Herdstelle, in der ein paar Scheite glommen, bis sie einen hölzernen Torbogen erreichte, der einen weiteren Raum mithilfe eines groben Wollvorhangs abtrennte.

      „Freder? Janne?“, rief sie leise und schob dann zögernd den Stoff ein Stück beiseite.

      Entsetzt keuchte sie auf bei dem Anblick, der sich ihr bot, und stolperte einen Schritt zurück. Als sie sich zur Flucht wandte, prallte sie hart gegen einen Menschen. Sie schrie. Eine Hand packte ihren Hals mit grobem Griff, erstickte gurgelnd ihren Schrei.

      „Da haben wir das Täubchen ja endlich. Nun, nach einer guten Jagd schmeckt die Beute gleich noch viel besser“, grinste der Söldner, der sich mit seinen Kameraden lautlos in die Diele geschoben hatte.

      Sein Atem stank nach verrotteten Zähnen und billigem Wein, in der rechten Hand hielt er einen Dolch. Er trug ein schwarzes Lederwams mit eisernen Nieten und an seinem Gürtel hing ein abgenutzter Katzbalger, das kurze Schwert der Landsknechte. Gesche starrte mit geweiteten Augen auf die schartige, aber scharf geschliffene Klinge, die sich ihrer Kehle näherte. Eisige Kälte breitete sich in ihr aus. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, den vier Männern zu entkommen. Es sei denn, sie handelte jetzt sehr entschlossen.

      „Ihr habt mich also gefunden“, presste sie heraus. „Und den Tod noch gleich dazu.“

      Der Söldner runzelte verwirrt die Stirn, als sie ganz dicht an ihn herantrat. Die Spitze des Dolchs ritzte ihre Haut; sie spürte, wie ein dünnes Rinnsal Blut an ihrer Kehle herablief. Die junge Frau lächelte, hob die Arme und legte sie um den Hals des Mannes. Er starrte sie an, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, als er ihren Rock befingerte. Das Grinsen erlosch jedoch jäh, als sie sich kraftvoll nach hinten warf und dabei zur Seite drehte. Der überrumpelte Mann geriet aus dem Gleichgewicht und wurde durch den Vorhang auf die dahinterliegende breite Bettstatt katapultiert. Mit einem rüden Fluch auf den Lippen schnellte er sogleich wieder in die Höhe.

      „Bei allen Dämonen – das ist ja die Teufelspest!“

      Die anderen Söldner blickten an ihm vorbei auf die Bettstatt. Dann prallten sie mit gutturalen Lauten zurück und stürmten, sich gegenseitig roh aus dem Weg stoßend, aus der Tür. Ihr Kamerad im schwarzen Wams starrte einen Herzschlag lang seine Hände an, mit denen er sich auf der Bettstatt abgestützt hatte. Dann hob er den Blick zu Gesche Carstens, in dem Hass und blanke Angst standen. Er sah sich nach seinem Dolch um, aber der lag nun auf dem Bett. Der Schwarze wich rückwärts vor der jungen Frau zurück, dann wandte er sich ruckartig um und floh mit wilden Sätzen aus dem Haus, wie von Furien gehetzt.

      Gesche stand ein paar Sekunden wie gelähmt da. Schließlich drehte sie sich um und zwang sich dazu, noch einmal auf das Bett hinunterzublicken. Dort lagen sie – Freder, Janne und ihre vier Kinder. Der alte Gerolf, Freders Vater, hing halb von seinem schlichten, strohbedeckten Lager an der gegenüberliegenden Wand herunter. Gesche begann, vor Entsetzen am ganzen Leib zu zittern. Doch sie konnte den Blick lange nicht abwenden: von den Blutlachen, in denen die sieben Menschen lagen. Von den im Todeskampf aufgerissenen Mündern in den schwärzlich angelaufenen Gesichtern mit ihren blutigen Augäpfeln.

      Endlich konnte die junge Frau die Lähmung des Schocks abschütteln. Hastig trat sie ein paar Schritte zurück. Ein Gedanke brannte in ihrem Kopf wie ein loderndes Feuer: Hatte sie sich angesteckt? Das würde den sicheren Tod bedeuten! Es hieß doch, diese entsetzliche Pest könne sogar die Luft selbst mit ihrem todbringenden Miasma vergiften. Der Pastor! Wenn einer ihr noch helfen konnte, dann der Pastor! Sagte man nicht von ihm, er hätte sich selbst von der Pest geheilt? Und sogar Tollwütige von der tödlichen Krankheit befreit? Hoffentlich war er noch nicht geflohen wie so viele andere. Gesche Carstens sprang zur Tür hinaus und rannte. Sie rannte um ihr Leben.

      1

       2019, Wedel in Holstein

      Abgerissene Zweige knirschten unter seinen schweren Arbeitsschuhen, als Dachdeckermeister Walter Breckwoldt um die alte Kirche schritt. Er starrte zum Dach empor, wo ein dicker, borkiger Ast aus den grauen Schieferplatten ragte wie ein halb verwester Arm aus einem Grab. Der wütende Orkan letzte Nacht mit Sturmböen der Stärke zwölf hatte den Ast von einer der alten Eichen gerissen, die den bescheidenen Kirchhof umstanden, und ihn wie einen Speer in das Dach gerammt. Einige der grauen Platten waren hinabgestürzt und am Boden zerschellt. Die Pastorin hatte bereits dafür gesorgt, dass das Areal unterhalb des Schadens mit Trassierband abgesperrt wurde.

      Breckwoldt wandte sich um und nickte seinem Gesellen Tim Waller zu. Waller startete den Hubwagen, den sich die kleine Firma für diesen Auftrag geliehen hatte. Das orangerote Fahrzeug vom Typ L 200 RT, dessen Arbeitskorb bis auf zwanzig Meter hinaufgefahren werden konnte, war ideal für diese Aufgabe. Breckwoldt wollte sich zunächst einen Überblick über das Ausmaß des Schadens am Dach der Kirche verschaffen, bevor er entschied, wie weiter vorgegangen werden sollte. Der kräftig gebaute Endfünfziger mit dem ergrauten Haarkranz stieg seit einem schweren Arbeitsunfall vor einigen Jahren, der ihm ein leichtes Hinken eingetragen hatte, nicht mehr selbst hohe Leitern auf die Dächer hinauf.

      Vorsichtig lenkte Waller den Wagen von der schmalen Zufahrtsstraße auf den kleinen Kirchhof. Der L 200 RT wog zwar nur dreieinhalb Tonnen, aber bereits dieses Gewicht konnte ausreichen, um den dünnen Asphalt des Hofes zu beschädigen oder auf dem Rasenstreifen tief einzusinken. Waller manövrierte den Wagen geschickt um die kleine Grüninsel mit dem bronzenen Denkmal für Johann Rist herum, den berühmten Pastor und Heimatdichter aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Er suchte eine geeignete Position an der Seite der Kirche, um den Teleskopausleger für die Dacharbeiten optimal ausfahren zu können.

      Der bärtige Mittdreißiger war seit vier Jahren bei Breckwoldt angestellt und hoffte, eines Tages selbst seinen Meister machen zu können. Vielleicht würde er dann gar die Firma übernehmen; Breckwoldt sprach in letzter Zeit öfter vom vorgezogenen Ruhestand. Verdient hatte der Alte ihn, und er konnte auch nicht mehr so kräftig anpacken wie früher. Mehr Geld würde Waller sehr gut gebrauchen können, er war Alleinverdiener. Seine Frau hatte ihren Beruf als Physiotherapeutin aufgegeben, um sich um die Kinder zu kümmern. Sarah war zwölf und Gregor gerade zehn Jahre alt geworden. Möglicherweise galt Sarah als hochbegabt, ihre Ausbildung würde entsprechend viel Geld verschlingen.

      Waller gab behutsam Gas und der L 200 RT schob sich, von Breckwoldt durch Handzeichen eingewiesen, langsam näher an das Gebäude heran, wo er schließlich direkt neben der austrassierten Stelle zum Stehen kam. Waller stellte den Motor ab und ging zu Breckwoldt hinüber.

      „Das müsste so gehen, Chef“, sagte er.

      Breckwoldt blickte noch einmal zum Dach hinauf, dann nickte er. „Ich denke auch. Fahr schon mal die Stützen aus, ich gucke mir das da oben mal an. Vielleicht sind da noch mehr Schieferplatten beschädigt.“

      Der Dachdeckermeister stieg die drei Stufen aus verzinktem Stahlblech am Heck des Wagens hinauf, wobei er das verletzte Bein ein wenig nachzog, und schickte sich an, in den engen Arbeitskorb zu klettern. Gerade wollte Waller die vier Stützen herunterlassen, die den L 200 RT bei ausgefahrenem Teleskopausleger stabilisieren sollten, als plötzlich ein dumpfes Knirschen ertönte und sich der Wagen ein paar Zentimeter Richtung Kirche neigte.

      „Verdammt noch mal, Tim! Was machst du denn da?“, brüllte Breckwoldt und klammerte sich an das Gitter des Arbeitskorbes.

      „Ich war das nicht,


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