Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld

Der bleierne Sarg - Thomas Frankenfeld


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die Kiste zurücksetzen.“

      „Warte mal, ich komme“, rief Breckwoldt.

      Gerade wollte er die Stufen aus Profilblech hinabsteigen, als sich der L 200 RT unter Knarzen und Poltern schlagartig einen halben Meter zur Seite legte. Breckwoldt wurde hart gegen den stählernen Ausleger geschleudert, stürzte auf den Asphalt und blieb stöhnend liegen. Waller konnte sich noch mit einem Sprung zur Seite retten. Der ganze Wagen sackte nun auf der linken Vorderseite krachend bis zur Achse weg und prallte mit dem Ausleger dumpf gegen das Kirchengemäuer. In einem Hagel aus Glas- und Holzsplittern zerbarst eines der hohen Fenster unter dem wuchtigen Schlag. Ein paar Scherben trafen Breckwoldt, der schützend die Arme über den Kopf hochriss.

      Einen Moment lang starrte Tim Waller verblüfft auf die bizarre Szenerie. Das linke Vorderrad des L 200 RT drehte sich langsam im Leeren. Es hing über einer tiefen Grube, die nun zwischen der Kirchenmauer und dem Fahrzeug gähnte. Waller trat näher heran, kniete sich hin und starrte in die Tiefe. Er kniff die Augen zusammen. Dort unten konnte er etwas Kantiges, grünlich Schimmerndes erkennen. Aber was war das um Gottes Willen für ein unheimliches Ding? Ein Sarg?

      2

       Brodersby

      Diese verdammte Hitze. Der gleißende Glutball der Mittagssonne hing sengend über der steinigen Wüste, warf kurze Schatten hinter die ärmlichen Wellblechhütten mit ihren Viehgattern aus Dornengestrüpp und dörrte alles Leben aus. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, zwischen seinen Zähnen knirschte der allgegenwärtige gelbe Staub. Er spürte – irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Er fühlte Panik in sich aufsteigen, warf sich nach vorn und wollte loslaufen. Er ahnte, dass es um Sekunden ging.

      Aber er kam nur mühsam und schleppend voran, bewegte sich schwerfällig wie eine Fliege in zähem Sirup. Seine Füße schienen Tonnen zu wiegen.

      Urplötzlich flammten riesige Augen direkt vor ihm auf. Sie brannten gnadenlos wie schwarze Sonnen in einem kleinen, konturenlosen Gesicht. Entsetzen ergriff ihn, er wollte schreien, doch es kam kein Ton aus seiner krächzend würgenden, ausgetrockneten Kehle. Dann ein blendend weißer Blitz. Ein Moment der Schwerelosigkeit. Und das Schreien begann.

      Mit einem unartikulierten Laut fuhr Tristan Lindberg empor und zerrte hastig an der Bettdecke, die sich wie eine Würgeschlange um seine Beine gewunden hatte. Sein Herz raste, er keuchte und rang verzweifelt nach Luft. Er war schweißnass. Er setzte sich auf und zwang sich unter Aufbietung aller Willenskraft, ruhiger zu atmen, zählte beim Einatmen langsam bis sechs, hielt sechs Sekunden lang die Luft an und atmete sechs Sekunden lang wieder aus. Eine alte, bewährte Yoga-Technik. Mühsam widerstand er der in ihm aufwallenden Versuchung, einfach aufzuspringen und aus dem Haus zu rennen, immer weiter und weiter, bis ihn die Erschöpfung zu Boden werfen würde. Stattdessen streckte er einen Arm aus, eine Bewegung so langsam wie bei einem Faultier, und schaltete die Nachttischlampe ein. Lindberg rieb sich die Augen, sein Gesichtsfeld schien an den Rändern seltsam unscharf. Einatmen, Luft anhalten, Ausatmen …

      Lindberg blickte zum Nachttisch. Darauf lag eine Packung Sertralin. Das Medikament wurde gegen schwere Depressionen und Angststörungen eingesetzt, hatte aber eine Reihe von Nebenwirkungen. Er streckte eine Hand danach aus. Dann ließ er den Arm wieder sinken. Nein, er musste es ohne Chemie schaffen.

      Allmählich ebbte die Attacke ab. Lindberg erhob sich ächzend, ging in die Küche hinunter und leerte ein großes Glas Wasser in einem Zug. Und dann noch eins. Sein T-Shirt klebte an seinem schweißnassen Rücken. Er warf einen Blick zur grün blinkenden Anzeige der Herduhr hinüber und stöhnte. Fünf Uhr dreißig. Die Nacht war mal wieder gelaufen.

      Lindberg stieg die Treppe wieder hinauf, ging ins Badezimmer hinüber und drehte die Dusche auf. Schlafen würde er jetzt ohnehin nicht mehr können. Er stöhnte wonnevoll, als das heiße Wasser seine Verspannungen in Schultern und Rücken lockerte. Doch am Ende drehte er das Wasser für ein paar Sekunden auf eiskalt – seine tägliche Übung zum Wachwerden.

      Als sein Handy um halb acht klingelte, saß Lindberg im Auto auf dem Weg zum Herrenhaus Annettenhöh, der Hauptdienststelle seines Arbeitgebers, des Archäologischen Landesamtes in Schleswig. Das hellgelb gestrichene Gebäude, das ein Freiherr von Brockdorff im Jahr 1864 erbauen ließ, war seit 1985 im Besitz des Landes Schleswig-Holstein.

      Lindberg griff zu seinem betagten Blackberry und blickte auf die Nummer.

      „Nanu? Hanni? Was willst du denn schon so früh von mir?“, fragte er etwas zu schroff.

      „Ich wünsche dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Tristan“, sagte eine penetrant gut gelaunte Stimme. Sie schnurrte geradezu.

      „Fein. Mein Morgen ist allerdings etwas beschädigt. Also, was gibt es nun?“, knurrte Lindberg.

      „Du musst gleich mal nach Wedel runterfahren. Ausdrücklicher Wunsch vom Chef.“

      Hannah Winkler war die berüchtigt effektive Vorzimmerdame von Dr. Rüdiger Stettner, dem Leiter des Archäologischen Landesamtes.

      „Wedel?“, fragte Lindberg ungläubig. „Was soll ich da denn? Haben sie einen zweiten Roland gefunden?“

      „Sehr lustig und nur knapp daneben. Roland stimmt nämlich schon mal“, lachte Hannah. „Unter der Kirche am Roland ist nämlich eine Gruft mit Särgen gefunden worden.“

      „Na und? Darunter befinden sich doch überall uralte Grüfte“, brummte Lindberg. „Das wissen wir doch. Die haben seit über dreihundert Jahren da ihre Leute beerdigt, Pastoren vor allem. Ist doch nichts Besonderes. Da gehen wir doch gar nicht ran. Das weiß Stettner aber auch.“

      „Kann schon sein, Tristan, aber guck es dir trotzdem mal an.“

      „Okay. Weil du es bist“, brummte Lindberg. „Bin schon unterwegs.“

       Wedel in Holstein

      Gut neunzig Minuten später lenkte Lindberg seinen alten Saab auf den kleinen Parkplatz der Wedeler Kirche. Er stieg aus und ging den schmalen, von Büschen und Bäumen gesäumten Pfad zum Gotteshaus hinüber. Die mit rotweißem Trassierband abgesperrte Einbruchstelle an der Kirchenmauer war unübersehbar. Davor wartete eine schlanke Frau mit kurzem, grauen Haar. Lindberg vermutete, dass es sich um die Pfarrerin handelte, die er von unterwegs aus angerufen hatte. Statt Talar und Beffchen trug sie Jeans und eine Windjacke.

      „Dr. Lindberg?“, fragte sie und musterte ihn einen Moment mit kühlen grauen Augen. Vor ihr stand ein jugendlich wirkender Enddreißiger mit breiten Schultern, müden braunen Augen und leicht zerzausten Haaren. Lindberg schüttelte ihre ausgestreckte Hand.

      „Sabine Paulsen, angenehm“, sagte die Frau. „Ich bin die Pfarrerin der Kirche hier. Sie sind der Archäologe aus Schleswig?“

      „Archäologe, ja. Und Anthropologe“, nickte Lindberg zerstreut.

      Neugierig trat er näher an die Grube heran, die direkt an der Kirchenwand gähnte. Sie maß gut eineinhalb Meter im Durchmesser und war offensichtlich mehrere Meter tief.

      „Ja, genau, darum geht es. Wir hatten einen Schaden am Dach, und die Dachdecker sind mit ihrem schweren Hubfahrzeug hier eingebrochen. Sieht aus wie eine Gruft da unten. Wenn Sie genau hinsehen, können Sie die Ecke eines Sarges erkennen“, sagte die Pfarrerin.

      „Ja, ich kann es sehen“, bestätigte Lindberg. „Sie sind doch nicht etwa da runtergeklettert?“

      Die Pfarrerin schüttelte lächelnd den Kopf. „In eine uralte Gruft? Allein? Ganz sicher nicht! Naja, obwohl – interessieren würde mich das schon; ist ja sozusagen meine Kirche hier. Aber ich wollte doch erstmal auf die Profis warten. Ach ja, einer der Dachdecker hat sich da unten schon mal umgesehen. Er wollte mal sehen, was für einen Schaden er mit seinem Fahrzeug angerichtet hat. Und er sagte, da unten stehe ein massiver Bleisarg. Er sei aber durch herabfallende Steine beschädigt worden. Oben an einer Ecke sei ein großes Loch. Außerdem sei jede Menge trübes Wasser rausgeflossen. Er hat sogar darin herumgetastet und sagte, da liege wohl tatsächlich noch eine Leiche drin.“

      „Wie


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