Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld

Der bleierne Sarg - Thomas Frankenfeld


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bewachen, und das auch noch die ganze Nacht hindurch – das hatte Menso Sievers gerade noch gefehlt. Für diese beneidenswerte Aufgabe musste der junge Polizeiobermeister eine extra Nachtschicht einlegen. Damit hatte sich auch der Kinoabend mit seiner neuen Flamme erledigt. Na toll. Begeistert war Helene nicht gerade gewesen. Nun konnte er zusehen, wie er das wiedergutmachte. Außerdem ging sie ja auch noch mit diesem gegelten Laffen aus der Werbebranche aus, der mit seinem siebenhundert PS starken Tesla angab wie eine Tüte Mücken. Helene so kurzfristig abzusagen, würde seine Chancen bei ihr nicht gerade erhöhen.

      Missmutig starrte Sievers aus dem Fenster des Streifenwagens ins Dunkle, zur Wedeler Kirche hinüber. Sein Kollege Berndt Mahlmann lief gerade eine Runde um das Gotteshaus. Mindestens zum fünften Mal in dieser Nacht. Viel hatte man ihnen nicht über diesen Auftrag erzählt. Nur so viel, dass von dem uralten Sarg in der Gruft eine Gefahr ausgehen könnte. Die Rede war von alten Pesterregern, die aus irgendeinem Grund noch aktiv sein sollten. Die beiden Beamten hatten nun dafür zu sorgen, dass sich niemand der Grabkammer näherte, bevor man die dort gefundene Leiche fachmännisch geborgen und abtransportiert hatte.

      Der Bereich um das Loch im Asphalt neben der Kirchenwand war nicht nur unübersehbar mit Trassierband und Warnschildern abgesperrt, die Seuchenexperten vom Bernhard-Nocht-Institut hatten außerdem den Bleisarg unten in der Gruft in eine Kunststoffplane luftdicht eingeschweißt und auch den Einstieg an der Oberfläche mit einer Plane versiegelt. Es war eine vorläufige Schutzmaßnahme nur für diese Nacht, am Morgen sollte der Leichnam aus der Gruft gehoben und ins Institut an der Elbe überführt werden. Die Experten hatten allerdings bereits unter Vollschutz und mit einer Sonde ein paar Gewebeproben aus dem Körper entnommen. Sie sollten noch in der Nacht untersucht werden.

      Sievers fragte sich, ob eine jahrhundertealte Leiche tatsächlich noch ansteckend sein konnte. Gewiss, er war kein Experte, aber die alten Friedhöfe in Norddeutschland waren doch voller Gebeine von Pestleichen. Überlebt hatte noch nie ein Erreger diese lange Zeit. Jedenfalls hatte Sievers noch nie davon gehört. Trotzdem war dieser Auftrag irgendwie gruselig.

      Der junge Polizeibeamte ließ das Autofenster herunter, um besser sehen zu können. Mahlmann hätte eigentlich längst wieder auftauchen müssen, so groß war die Kirche nun auch nicht und Mahlmanns kahler Schädel leuchtete selbst im Dunkeln.

      „Berndt?“, rief er halblaut.

      Keine Antwort. Hatte sein Kollege auf der anderen Seite vielleicht etwas Ungewöhnliches entdeckt? Sievers stieg aus dem Wagen, schloss die Tür und schaltete seine Nitecore TM 03 an. Diese kompakte LED-Taschenlampe konnte auf der höchsten Stufe notfalls für eine ganze Viertelstunde mit zweitausendachthundert Lumen leuchten, das reichte beinahe für einen Fußballplatz und ganz sicher für den kleinen Kirchhof.

      Der Beamte ging um die erste Kirchenecke herum; das abgedeckte Loch lag nun direkt vor ihm. Alles schien unverändert zu sein. Von Mahlmann war allerdings noch immer nichts zu sehen.

      „Berndt?“, rief er noch einmal.

      Allmählich wurde ihm die Sache unheimlich. Falls Mahlmann ihm einen Streich spielen wollte, war das nicht komisch. Er würde ihm in den Hintern treten. Sievers zog das Funkgerät aus der Tasche und rief Mahlmann noch einmal. Als Antwort erhielt er nur ein statisches Rauschen.

      Sievers runzelte die Stirn und lief nun um die nächste Kirchenecke. Er erschrak, als der Strahl der Lampe direkt vor ihm einen großen Nachtvogel aufschreckte, der mit lautem Flügelschlagen aus der Krone einer Eiche floh. Der gepflasterte Weg lag leer vor ihm. Der Strahl zuckte geisterhaft hin und her. Sievers wurde plötzlich bewusst, dass der Boden, auf dem er stand, früher einmal ein Friedhof gewesen war. Direkt unter seinen Füßen mochten sich noch Gräber aus uralten Zeiten befinden. Nur ein paar Meter entfernt lag eine alte Leiche. Ausgerechnet jetzt drängten sich beängstigende Bilder aus Horrorfilmen in sein Hirn, in denen Knochenarme aus dem Boden wuchsen und nach Lebenden griffen. Passenderweise schlug es gerade Mitternacht. Geisterstunde also. Sievers fluchte leise, sein Mund wurde trocken.

      Er ging den Weg ein paar Meter weiter entlang. Der Strahl seiner Lampe glitt voraus und zur Seite. Mal links, mal rechts. Die krummen Äste der Rhododendronbüsche zauberten bizarre, zitternde Schemen auf den Weg. Sievers blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Ihm war etwas Seltsames unter einem Gebüsch auf der Seite des Weges aufgefallen, gut zehn Meter von ihm entfernt. Langsam schritt er näher. Das grelle Licht der LED-Lampe verharrte auf zwei länglichen Objekten, die direkt aus dem Boden zu wachsen schienen. Als Sievers schließlich begriff, was er dort sah, rannte er hin und zog im Laufen hastig seine Dienstpistole aus dem Holster. Eine manuelle Sicherung kannte diese Waffe nicht, sie war sofort schussbereit. Der junge Beamte bog die Zweige des Gebüschs beiseite. Und erschrak.

      Stundenlang hatte der Mann im Dunkeln gewartet, ein Schatten unter Schatten. Sein langes hartes Training hatte ihm die Geduld einer Katze und zudem eine verminderte Schmerzempfindlichkeit eingetragen. Er hatte gehofft, die Polizeibeamten würden sich am späten Abend zurückziehen. Doch sie saßen noch immer in ihrem Wagen und gingen hin und wieder eine Runde um die alte Kirche. Das sah nach einer Bewachung bis zum Morgen aus. Er musste seinen Auftrag unbedingt heute Nacht erfüllen, bei Sonnenaufgang würde es zu spät sein. Man würde die Leiche aus der Gruft abholen. Gut, dann eben auf die bewährte blutige Weise. Skrupel kannte die Gestalt im Schatten nicht, sie zog es lediglich vor, so wenig Aufsehen wie möglich bei ihrer Arbeit zu erregen.

      Der eine Polizeibeamte bog gerade wieder um die Ecke und leuchtete mit seiner Handlampe den gepflasterten Weg vor ihm aus. Er wirkte entspannt, gelangweilt und wenig wachsam. Warum sollte er auch angespannt sein – von der tödlichen Gefahr wenige Meter neben ihm konnte er nichts ahnen.

      Als Berndt Mahlmann an einem dichten Gebüsch am Rande des Weges vorüberging, erhob sich der Schatten in einer lautlosen, fließenden Bewegung. Der vollständig in Schwarz gekleidete Mann trat mit einem Schritt hinter ihn, seine weichen Vibram-Sohlen erzeugten kein Geräusch auf dem Pflaster. Seine rechte Faust hatte sich um eine seltsame Waffe geschlossen. Ursprünglich war es ein Drehmomentschlüssel für Golfschläger gewesen, doch statt der üblichen Werkzeugspitze trug der halbmondförmige Griff nun die aufgeschweißte lange dreikantige Nadel eines Troikarts, ein chirurgisches Instrument zum Punktieren. Die geschliffene Nadel ragte rund zehn Zentimeter zwischen Zeige- und Mittelfinger heraus. Eine kraftvolle Hüftdrehung katapultierte die Faust blitzartig nach vorn – ein klassischer Karatestoß. Die lange Nadel drang mühelos an der Schädelbasis in Mahlmanns Gehirn ein und durchstieß die Medulla oblongata, die Schaltzentrale im Hirnstamm, die unter anderem Atmung und Kreislauf steuert. Mahlmann stieß ein kurzes Ächzen aus und fiel dann in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte. Innerhalb von Sekunden kam seine Atmung zum Stillstand. Sein Mörder schleifte ihn hinter das Gebüsch und legte sich wieder auf die Lauer.

      Sievers keuchte entsetzt auf, als er seinen Kollegen unter dem Gebüsch liegen sah. Der Lampenschein glitzerte auf seinen halbgeöffneten, starren Augen. Gerade wollte der Beamte nach dem Funkgerät an seinem Gürtel greifen, als sich seine Nackenhaare hochstellten, ein Gefahrenreflex aus Urzeiten. Ein winziges Geräusch, das leise Scharren eines Fußes, ein Wispern von Stoff auf Stoff – direkt hinter ihm. Doch bevor er mit der Waffe in der Hand herumwirbeln konnte, traf ihn ein wuchtiger Schlag gegen den Hinterkopf, verbunden mit einem scharfen Schmerz. Sievers torkelte nach vorn, seiner Kehle entrang sich ein Stöhnen. Die Pistole fiel ihm aus der kraftlosen Hand. Der Beamte brach in die Knie und verharrte ein paar Herzschläge lang in einer fast betenden Körperhaltung. Als sein Kopf zur Seite sackte, nahm er für einen Sekundenbruchteil eine schwarze Gestalt schräg hinter sich wahr. Dann wurde es dunkel um ihn. Dass er mit dem Gesicht auf den Körper seines toten Kollegen fiel, merkte Sievers nicht mehr.

      6

       Hamburg

      Von außen glich das trutzige Gebäude am Elbhang einem Hochsicherheitsgefängnis. In den kantigen, kastenartigen Bau aus rötlichen Steinen waren keine großzügigen Fenster, sondern nur Bänder schmaler, verglaster Schlitze eingelassen, die waagerechten Schießscharten ähnelten. Ins Innere des Gebäudes drang entsprechend wenig Tageslicht – was durch ein raffiniertes, von Bewegungsmeldern gesteuertes Beleuchtungssystem ausgeglichen


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