Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld
den Sarg aber nicht bergen, er besteht aus massivem Blei. Und zwar zugelötet. Wir müssen ihn aufschneiden. Das ist viel zu gefährlich vor Ort. Da ist auch noch irgendeine Flüssigkeit drin, von der wir noch nicht wissen, um was es sich handelt. Wir rücken morgen mit schwerem Gerät und einer Mannschaft in Schutzkleidung an.“
„Und wo wollt ihr mit Sarg und Leiche hin?“, fragte Thomsen.
„Wir sind noch dabei, ein provisorisches Isolierlabor der Stufe vier drüben im Anbau einzurichten, in das wir den Sarg über den Parkplatz reinbringen können“, sagte Winter. „Allein der Transport ist ein logistischer Albtraum. Wir werden eine Polizeieskorte benötigen, aber dürfen andererseits nicht zu viel Aufsehen erregen. Wenn bekannt wird, was wir da befördern, bricht eine Panik aus. Hunderttausende Hamburger werden versuchen, aus der Stadt zu fliehen.“
Thomsen schüttelte den Kopf. „Wenn ich von einer so potenten Chimäre höre, dann tippe ich sofort auf Biowaffenlabore in Russland, China, den USA oder Nordkorea. Ihr sagt, dieses Ding stammt aus einem Sarg aus dem Dreißigjährigen Krieg? Dann ist es erst recht nicht möglich. Egal ob Bakterium oder Virus – nach der langen Zeit ist alles tot. Der Wirtskörper, also die Leiche, ist ja längst zerfallen.“
„Dieser Archäologe, der den Sarg untersucht und uns alarmiert hat, erzählte mir da eine merkwürdige Geschichte von einer Lady aus China“, warf Winter ein. „Einer Leiche, die angeblich nach über zweitausend Jahren noch frisch war. Vielleicht wollte er mit seinem archäologischen Seemannsgarn ein wenig angeben.“
Dahan nickte nachdenklich. „Nein, nein. Das ist keine Schauergeschichte, Sarah. Ich kenne den Fall. Die sogenannte Marquise von Dai. Eine Adlige, die im Alter von etwa fünfzig Jahren starb – im 2. Jahrhundert vor Christus. Hatte sich wohl totgefressen, wie die Obduktion ergab. Und die Leiche sah bei der Exhumierung nach über zweitausend Jahren aus, als hätte man sie erst am Vortag beerdigt. Frag diesen Archäologen doch mal nach Einzelheiten. Das könnte für diesen Fall hier interessant sein. Vielleicht gibt es ja ein paar verrückte Parallelen.“
Lindberg setzte sich in seiner karg eingerichteten Isolierzelle auf. Der Raum ähnelte einem Krankenzimmer, allerdings befand sich derzeit nur ein einziges Bett darin. An der Wand gab es Anschlüsse für Sauerstoff und Strom. Alle Oberflächen waren aus einem speziellen, leicht zu desinfizierenden Kunststoff. Er hörte, wie sich Schritte näherten, dann vernahm er das Zischen der Luftschleuse. Eine schlanke Frau mit honigblonden, zu einem Zopf geflochtenen Haaren betrat die Zelle. Lindberg erkannte die smaragdgrünen Augen sofort wieder.
„Oha! Diesmal ganz ohne Strampelanzug?“, fragte er. „Und auch ohne Nadeln! Ich hätte Sie fast nicht wiedererkannt. Na, das heißt ja wohl, dass ich dieses Luxusetablissement verlassen kann.“ Er erhob sich.
„Ja. Sie sind gesund“, sagte Sarah Winter kühl. „Sie haben verdammtes Glück gehabt.“
„Ich sagte Ihnen doch: Ich habe weder die Leiche noch das Wasser berührt und war höchstens fünf Minuten in der Gruft. Da kann ich mich ja wohl nicht angesteckt haben.“
„Es sei denn, das Virus kann durch die Luft übertragen werden“, konterte Winter. „Was wir übrigens nicht ausschließen können.“ „Hören Sie, ich bin kein Experte, aber ich habe noch nie von einem hämorrhagischen Fieber gehört, das aerogen übertragen wird“, entgegnete Lindberg. „Das wäre ja auch ein Albtraum.“
„Nun, ich bin Expertin und ich habe bisher auch noch nie davon gehört. Und Sie haben völlig recht: Das wäre in der Tat ein Albtraum. Kommen Sie, ich wollte Sie noch etwas fragen, bevor Sie uns verlassen.“
Der Archäologe folgte der Virologin durch die ovale Luftschleuse. Er warf die weiße Kleidung, die man ihm gegeben hatte, in eine Art Müllschlucker und erhielt dafür neue.
„Darf ich fragen, wo meine eigenen Sachen sind?“
„Die sind längst in Rauch aufgegangen, wir konnten kein Risiko eingehen.“
„Na, das ist ja toll!“, entfuhr es Lindberg. „Meine Sachen sind verbrannt und ich laufe jetzt herum wie ein Bäckergeselle. Ich hoffe, meinen Autoschlüssel und meine Brieftasche haben Sie nicht gleich mit eingeäschert?“
„Was wir desinfizieren konnten, liegt drüben im Besprechungsraum. Ich glaube, Ihr Autoschlüssel ist dabei.“
Der Besprechungsraum bot den Charme eines zahnärztlichen Wartezimmers, aber Lindberg störte das nicht. Er wollte die Fragen der Virologin rasch beantworten und dann endlich nach Hause fahren, duschen, ein Bier trinken und schlafen. Dankbar nahm er den heißen Tee entgegen, den Winter ihm reichte.
„Zucker?“
Lindberg nickte. „Zwei Stück bitte.“
Die Virologin goss sich auch einen Tee ein und setzte sich ihm gegenüber.
„Im Krankenwagen haben Sie mir eine Geschichte von einer zweitausendjährigen Mumie aus China erzählt.“
„Ja. Ich erinnere mich. Ich erwähnte das, weil sie perfekt erhalten war. Und der Tote in der Gruft möglicherweise auch. Jedenfalls war das der Eindruck dieses armen Teufels, der ihn angefasst hat.“
Winter trank einen Schluck Tee. Mit der linken Hand griff sie in ihr Haar und drehte eine Strähne um ihren Finger. Lindberg fand die Geste ganz reizend.
„Ja. Genau diese Geschichte meine ich. Erzählen Sie mir bitte mehr davon“, bat sie.
Lindberg lehnte sich vorsichtig in dem geradezu filigranen Bistrostuhl zurück, der unter seinen achtzig Kilogramm bedrohlich knarrte.
„Ihr Name war Xin Zhui“, begann er. „Sie war eine Adelige und Gattin des Kanzlers von Changsha. Das ist heute die Hauptstadt der Provinz Hunan und protzt mit der größten Mao-Statue der Welt. Damals aber, im 2. Jahrhundert vor Christus, war Changsha ein eigenständiger Staat.“
Er nahm einen Schluck von dem süßen Tee. Der Blick aus Winters grünen Augen ruhte erwartungsvoll auf ihm.
„Und?“
Lindberg riss sich vom Bann der Katzenaugen los.
„Xin Zhui starb um das Jahr 160 vor Christus und erhielt ein sehr ungewöhnliches Grabmal in Form einer auf dem Kopf stehenden Pyramide. Die Grabkammer fand man 1971 in zwölf Metern Tiefe. Die Volksbefreiungsarmee wollte damals ein unterirdisches Lazarett ausheben – und plötzlich gab die Erde nach. Man fand mehrere Gräber mit Mumien, darunter auch das der Marquise von Dai.“ Er lehnte sich vor. „Stellen Sie sich das mal vor: Das Grab war von einer dicken Schicht Tonerde und fünf Tonnen Holzkohle umgeben. Oben schloss ein fünfzehn Meter hoher Erdhügel das Grabmal ab.“
„Hm. Holzkohle …“, sagte Winter nachdenklich. „Ein hervorragendes Filterelement.“
„Ganz genau!“, bestätigte Lindberg. „Aber das ist noch nicht alles. Die Leiche selbst war fest in mehrere Bahnen feinste Seide eingewickelt, in vier lackierte, ineinander passende Särge gebettet und zusätzlich von einer dicken Wand aus Holz geschützt. Der Lack erwies sich als absolut wasserdicht. Eine Meisterleistung dieser Zeit.“
Lindberg hob einen Finger und senkte ihn schnell wieder, weil er merkte, dass dies etwas oberlehrerhaft wirkte.
„Aber der Clou war, dass die Dame in achtzig Litern einer Flüssigkeit schwamm, mit dem der innere Sarg gefüllt war.“
„Was war das für eine Flüssigkeit?“, wollte Winter wissen. „Weiß man, woraus sie bestand?“
Der Archäologe zuckte mit den Schultern. „Das wissen wir leider nicht genau. Entweder hat man es tatsächlich nie herausgefunden oder die Chinesen halten die Rezeptur bis heute geheim. Die uralte chinesische Kultur, eine der ältesten der Welt, vielleicht sogar die älteste, hat zahlreiche Mumien hinterlassen. Sie stehen den Ägyptern in nichts nach. Manche sind ebenfalls Tausende Jahre alt. Und wir dürfen annehmen, dass diese geheimnisvolle Flüssigkeit zu dem unfassbar guten Erhaltungszustand der Leiche von Changsha ganz wesentlich beigetragen hat.“
„Wie gut war denn dieser Zustand nun genau?“