Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld
es, krank zu sein, und er spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Das alles hatte erst vor zwanzig Minuten schlagartig eingesetzt. Mit solchen Symptomen begann doch nicht einmal eine Grippe! Was war denn nur mit ihm los? Er hatte gerade das Schlafzimmer erreicht, als ein wahnsinniger Schmerz sengend durch seinen Kopf fuhr. Aufstöhnend fiel er auf die Knie; er sah plötzlich nichts mehr, rang nach Luft, versuchte, sich am Bett festzuhalten und sackte dann schwer zur Seite.
Helen Waller stand in der Küche und wollte gerade einen Erkältungstee aufgießen, als sie oben einen dumpfen Schlag hörte. Alarmiert lief sie in den Flur.
„Tim?“, rief sie die Treppe hinauf, und als sie keine Antwort erhielt, noch einmal: „Tim? Was ist mit dir?“
Oben blieb es vollkommen still. Sie runzelte die Stirn, dann lief sie die Stufen hinauf und eilte zum Schlafzimmer hinüber. Sie starrte in den Raum, unfähig zu akzeptieren, was sie dort sah. Ihr Mann lag halb auf dem Rücken vor dem Bett. Sein Mund war wie zu einem stummen Schrei geöffnet, aus Nase, Augen und Mund strömte Blut und bildete bereits eine dunkle Lache um seinen Körper herum. Helen Waller schrie.
Fünfzehn Minuten später bog ein Rettungswagen mit rotierendem Blaulicht und gellendem Martinshorn in den Heideweg ein. Der diensthabende Notarzt, Dr. Joachim Guthmann, war Oberarzt in einer nahen Klinik, ein erfahrener Mediziner, der in jüngeren Jahren als Mitglied von „Ärzte ohne Grenzen“ auch in mehreren Ländern Afrikas Dienst getan hatte. Bezüglich Unfällen und Krankheiten gab es sehr wenig, das er noch nicht gesehen hatte. Was ihn hier erwarten würde, wusste er nicht so recht; aus dem Gestammel der verstörten Frau hatte die Leitstelle sich keinen Reim machen können. Vermutlich ein Schlaganfall.
Als der Sechzigjährige die Treppe zum Schlafzimmer der Wallers hinaufstieg, erfuhr er von der hemmungslos weinenden Helen Waller, die ihm hinterherkam, dass sich ihr Mann schlecht gefühlt, Symptome einer Grippe aufgewiesen habe und oben in einer Blutlache zusammengebrochen sei.
Im Schlafzimmer angekommen, sah Guthmann mit einem Blick, dass Tim Waller nicht mehr zu helfen war. Er drehte sich zu der Frau um und schickte sie mit ruhigen, aber bestimmten Worten ins Erdgeschoss zurück. Angesichts des vielen Blutes zog er Schutzhandschuhe an, bevor er den Tod des Mannes feststellte. Dabei bemerkte der Arzt, dass dieses Blut offenbar auch aus Wallers Augen gelaufen war. In Guthmann keimte ein furchtbarer Verdacht auf – er erinnerte sich an die entsetzlichen hämorrhagischen Fieber, die er in Westafrika gesehen hatte wie Marburg, Lassa oder das berüchtigte Ebola. In diesen Fällen kam es meist zu Blutungen aus allen Schleimhäuten, auch aus den Augen. Doch konnte es tatsächlich sein, dass hier, im ländlichen Westen von Hamburg, eine dieser tödlichen viralen Infektionskrankheiten ausgebrochen war? Und bei wem konnte sich Waller angesteckt haben? Oder waren die Blutungen doch Symptome einer ganz anderen Erkrankung?
Guthmann entschied sich, kein Risiko einzugehen. Er stürmte die Treppe hinunter, wies Helen Waller und ihre Kinder an, das Haus keinesfalls zu verlassen, eilte zum Rettungswagen hinaus und gab Anweisungen. Sanitäter und Fahrer hüllten sich umgehend in Schutzanzüge samt Kopfhaube, legten Schutzmaske, Vollsichtbrille und Handschuhe an. Auch Guthmann zog die komplette Schutzausrüstung an; er wusste, dass er sich möglicherweise infiziert hatte. In seinem Fall sollte der Anzug die Erreger nicht draußen, sondern drinnen halten. Er zückte sein Handy und informierte nacheinander das Gesundheitsamt, den Ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes des Kreises Pinneberg sowie die Leitstelle der Polizei. Spätestens in einer halben Stunde würde hier der Teufel los sein. Man würde das ganze Gebiet absperren und alle möglicherweise Betroffenen in Quarantäne nehmen.
Der Notarzt beschloss, nach Helen Waller zu sehen und ihr vielleicht noch ein paar Fragen zu stellen. Wo hatte ihr Mann zuletzt gearbeitet? War er vielleicht vor Kurzem von einem Afrika-Aufenthalt zurückgekehrt? Guthmann kehrte ins Haus zurück und ging in die Küche hinüber.
„Frau Waller?“, rief er. „Es tut mir leid, Sie in dieser Situation behelligen zu müssen, aber könnten Sie mir noch ein paar Fragen beantworten? Es ist wirklich sehr wichtig.“
Als er vom Flur in die Küche bog, sah er, wie Helen Waller ihm entgegengetaumelt kam. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust, Blut lief aus Nase und Mund. Guthmann sprang nach vorn und konnte die Frau gerade noch auffangen, bevor sie in seinen Armen zusammenbrach.
4
Wedel in Holstein
„Dr. Lindberg, verstehe ich Sie richtig: Sie rufen mich zu Hause im wohlverdienten Feierabend an, weil Sie auf irgendeinem verwitterten Sarg in Wedel die Zahl Vier gesehen haben? Fühlen Sie sich ansonsten wohl? Ich wäre Ihnen wirklich für eine zügige Erklärung äußerst dankbar – ich habe nämlich das Haus voller Gäste.“
Dr. Rüdiger Stettner war Leiter des Archäologischen Landesamtes Schleswig-Holstein und damit Lindbergs Vorgesetzter. Gemessen an seinem ätzenden Tonfall schien er ziemlich verärgert zu sein und Lindberg erinnerte sich jetzt, dass Stettner etwas von dem fünfzigsten Geburtstag seiner Frau und einer lange vorbereiteten Familienfeier erwähnt hatte.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Dr. Stettner“, sagte Lindberg mühsam freundlich, „aber es könnte sehr wichtig sein. Ich habe den Verdacht, dass in diesem Bleisarg in Wedel ein Pesttoter liegt. Und zwar ein ziemlich intakter. Was uns vor Probleme stellen könnte. Die spiegelverkehrte Zahl Vier ist kein gutes Zeichen. Zudem wurden ein Dämonenzeichen und ein alchimistisches Symbol in das Metall eingeschnitten. Das verheißt nichts Gutes. Und es muss einen Grund dafür geben, dass man diesen Sarg damals sehr aufwendig zugelötet hat. Mir gefällt das nicht.“
„Was meinen Sie damit?“, unterbrach Stettner ihn.
„Wie Sie zweifellos wissen, grassierte in dieser Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg die Pest in Norddeutschland, und Pesttote gab es überall.“
„Jaja“, knurrte Stettner ungehalten. „Das weiß ich doch alles. Und?“ „Diese Toten wurden meist einfach verscharrt wie später auf dem ‚Pesthügel‘ zwischen Dammtor und Sternschanze in Hamburg. Warum also diese Mühe mit dem Bleisarg? Damit stimmt irgendetwas nicht – und ich hätte gern Ihre Erlaubnis, zunächst die zuständigen Behörden zu alarmieren.“
Stettner schwieg einen Moment und schien die Situation abzuwägen. Lindberg wusste, dass Rüdiger Stettner ein bestens vernetzter Mann war, der es sorgfältig vermied, höheren Ortes unangenehm aufzufallen. Er würde sich ungern mit einem harmlosen alten Sarg lächerlich machen. Andererseits konnte er sich beruflich noch erheblich mehr schaden, falls von diesem Sarg tatsächlich irgendeine Gefahr ausging und er es zu verantworten hatte, dass womöglich eine Pandemie ausbrach.
„Okay, machen Sie das, Lindberg“, sagte Stettner schließlich. „Rufen Sie meinetwegen das Amt für Gesundheit in Kiel an. Die sollen alles Weitere veranlassen. Ich glaube zwar, dass Sie Gespenster sehen, aber schaden kann es nicht, wenn wir uns als wachsam und besorgt um die Gesundheit der Öffentlichkeit zeigen. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Und Lindberg – halten Sie die Presse raus! Das ist ganz allein meine Sache, falls es denn überhaupt nötig werden sollte.“
Lindberg schluckte eine spöttische Bemerkung herunter und beendete das Gespräch. Dann rief er das Gesundheitsamt in der Landeshauptstadt an und berichtete von seinem Fund. Der zuständige Beamte reagierte erwartungsgemäß wenig enthusiastisch, versprach aber, sich um die Sache zu kümmern. Lindberg war überzeugt, nie wieder in dieser Sache etwas zu hören. Umso überraschter war er, als er kaum eine halbe Stunde später einen Anruf vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin erhielt. Der Archäologe wusste, dieses Institut war zuständig für alle hochinfektiösen Krankheiten. Wie zum Beispiel die Pest.
„Dr. Lindberg?“, fragte eine dunkle Frauenstimme. „Mein Name ist Dr. Sarah Winter. Ich bin Virologin und Bakteriologin hier am Institut. Sie haben heute in Wedel einen möglichen Pesttoten gefunden?“
„Das stimmt, ja“, sagte Lindberg überrascht. „Möglicherweise stammt die Leiche aus der Pestzeit. Wissen Sie das vom Gesundheitsamt? Ich habe nämlich gerade eben erst dort angerufen.“
„Dr. Lindberg, es ist sehr wichtig, dass Sie mir Ihren Verdacht