Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld

Der bleierne Sarg - Thomas Frankenfeld


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an einem Fundort herumstöberte und ihn damit veränderte oder sogar so kontaminierte, dass sichere Analysen kaum mehr möglich waren. „Hat der Trottel vielleicht auch noch irgendetwas mitgenommen von da unten?“

      Paulsen schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste, ich bin erst später hinzugekommen. Er sagte etwas sehr Merkwürdiges. Die Leiche da drin fühle sich ein bisschen glitschig an, aber vollkommen frisch – wie gestern gestorben. Er wirkte auch ziemlich mitgenommen. Damit hat er sicher nicht gerechnet.“

      Lindberg schüttelte den Kopf. „In diesen Grüften da unten liegen nur uralte Leichen. Und nach dreihundertfünfzig Jahren sind die ganz bestimmt nicht mehr frisch. Aber vielleicht ist es ja eine Wachsleiche.“

      Der Wissenschaftler bezog sich auf ein Phänomen, bei dem die Verwesung durch den Entzug von Sauerstoff abgebrochen wurde. Die Körperfette wurden dann zu einer wachsähnlichen Schutzschicht, den Adipociren, umgewandelt. Leichen konnten dann noch Jahrzehnte nach der Bestattung nahezu unversehrt wirken. Es waren meistens Wachsleichen, die hinter den Gruselgeschichten von Vampiren und Wiedergängern standen, die sich wankend aus den Gräbern erhoben.

      Die Pastorin zeigte zur Ecke der Kirche. „Sie können sich ja mal selbst da unten umsehen. Eine Leiter liegt dahinten.“

      Lindberg nickte, ging hinüber und holte sich die leichte Teleskopleiter aus Aluminium, die auseinandergeschoben etwa sechs Meter lang sein mochte.

      „Wie schätzen Sie den Fund hier ein?“, wollte die Pfarrerin wissen.

      Lindberg starrte hinab in die Schwärze und zuckte mit den Schultern. „Noch kann ich gar nichts sagen. Ich will Sie ja nicht enttäuschen, aber Sie wissen sicher auch, dass unter so alten Bauwerken häufig Grüfte aus verschiedenen Epochen liegen. Auch hier in Wedel, soweit ich weiß. Ist nichts Besonderes. In der Regel machen wir uns gar nicht die Mühe, die alle zu untersuchen. Es fehlt uns einfach das Geld dafür. Und das Personal sowieso.“

      Er zog die Leiter auseinander und stellte sie in die Grube. Sie guckte nur noch einen guten Meter heraus.

      „Aber Sie sagten, der Dachdecker hätte von einem Bleisarg gesprochen? Naja, das wäre auf jeden Fall schon mal interessant. Jedenfalls viel interessanter als einer aus halb verfaultem Holz. Bleisärge waren nämlich sehr teuer und sind als Funde entsprechend selten. Ich frage mich, für wen der angefertigt wurde.“

      „Wer weiß“, sagte Paulsen nachdenklich und starrte in die Tiefe, „am Ende stehen wir vor dem Grab von Johann Rist. Das ist ja bisher nie gefunden worden.“

      „Na, dann hätte sich meine Anreise aus Schleswig auf jeden Fall gelohnt“, lachte Lindberg, zog eine kleine Stirnlampe aus der Tasche und fing an, die Leiter hinunterzuklettern.

      Das Grab von Johann Rist – das wäre in der Tat ein Fund! Rist war eine Legende in Nordwestdeutschland. Der studierte Geistliche war protestantischer Pfarrer der Wedeler Kirche von 1635 bis 1667 gewesen, hatte also die Spätphase des Dreißigjährigen Kriegs mit ihren Gräueln und Verheerungen am eigenen Leib erlebt und dabei mehrfach seine ganze Habe verloren. Rist hatte außer wortgewaltigen Predigten auch Gedichte, Lieder und politische Zeitzeugnisse geschrieben; als Universalgelehrter hatte er sich auch mit Mathematik, Botanik, Heilkunst und Musik befasst. Johann Rist galt heute als einer der wichtigsten geistlichen Vertreter des Frühbarocks und war damals für seine Verdienste sogar vom Kaiser zum Hofpfalzgrafen ernannt worden.

      Lindberg schaltete die Stirnlampe ein, die er nun an einem elastischen Band um den Kopf trug, und stieg behutsam weiter hinab. Der grelle Halogenstrahl schnitt durch die Schwärze der Grube und huschte mit seinen Kopfbewegungen geisterhaft hin und her. Schließlich hatte der Archäologe den Boden aus grob gepflasterten Steinen erreicht und sah sich um. Die Gruft, in der er sich befand, hatte ein Ausmaß von rund drei mal vier Metern und war etwa zwei Meter hoch. Sie wies eine tonnenförmige Decke auf. Lindberg sah nun, dass die Decke und das darüberliegende Erdreich an einer Stelle durch Wasser unterspült worden waren. Er vermutete, dass ein von der Kirche führendes Regenrohr seit Langem gebrochen war.

      Mitten in der Gruft stand ein massiver Sarg. Lindberg zog Gummihandschuhe aus der Tasche, streifte sie über und trat neugierig näher. Der Sarg war schlicht gearbeitet und schien in der Tat aus massivem Blei zu bestehen. Er klopfte dagegen. Die Dicke des Materials war ungewöhnlich, die meisten sogenannten Bleisärge wiesen nur eine dünne Hülle aus dem Metall auf. Der Archäologe beugte sich interessiert hinunter und strich mit den Fingern über das kühle Metall. Seltsam – der Deckel lag nicht einfach auf dem Sarg oder war mit ihm verschraubt, sondern sorgfältig mit einer dicken Naht auf den unteren Teil gelötet worden. Warum sollte sich jemand diese Mühe gemacht haben? Aus Angst vor einem Wiedergänger? Das war durchaus möglich – der Glaube an Tote, die sich aus dem Sarg erheben und die Lebenden heimsuchen konnten, war in früheren Zeiten stark gewesen.

      Nachdenklich besah sich Lindberg den wuchtigen Kasten, der im Halogenlicht matt schimmerte. Er schätzte, dass diese Gruft aus dem 17. oder 18. Jahrhundert stammte. Wie die Pfarrerin gesagt hatte, wies der Sarg an einer Ecke eine Beschädigung auf. Ein großes Loch gähnte dort, und auf dem Boden lagen schwere Asphaltplacken, einige Stücke Blei, ein paar Erdklumpen sowie mehrere alte Pflastersteine. Lindberg rekonstruierte im Kopf: Das Wasser aus dem geborstenen Regenrohr hatte nach und nach den Untergrund unterspült, der schließlich nachgegeben hatte. Die schweren Pflastersteine waren auf die Ecke des Sarges gefallen und hatten das mürbe gewordene Blei zertrümmert. Lindberg schob sich dichter an das Loch heran, aus dem noch immer eine gelbliche Flüssigkeit tropfte, und wollte gerade hineinleuchten, als der Strahl der Lampe auf drei Symbole fiel, die, wie er rasch feststellte, offenbar auf alle Seiten des sonst ungeschmückten Sarges aufgebracht worden waren. Der Archäologe kniete sich vor den Sarg und sah genauer hin. Die in das Blei eingeschnittenen Zeichen waren bereits etwas verwittert und nicht mehr leicht erkennbar. Lindberg fuhr die Linien der Symbole mit dem Finger nach. Beim dritten Zeichen erstarrte er. Der Archäologe erhob sich hastig und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Zitternd verharrte das grelle Licht seiner Stirnlampe auf dem schwach erkennbaren Symbol. Es zeigte die spiegelverkehrte Zahl Vier. Ihm lief ein Schauer über den Rücken.

      3

       Heist

      Auf der Bundesstraße 431 lenkte Tim Waller seinen VW Golf in der Gemeinde Heist, einem übersichtlichen Ort zwischen den Städten Wedel und Uetersen in den Heideweg, an dem sein Einfamilienhaus stand. Das von seinen Eltern geerbte zweistöckige Gebäude stammte aus den 1950er-Jahren und war eher bescheiden zu nennen. Doch Waller liebte das alte efeuumrankte Haus, das ihm, seiner Frau und den beiden Kindern genügend Platz bot.

      Er stellte den Wagen auf der schmalen Einfahrt ab und schloss ein paar Sekunden lang die Augen. Er streckte den rechten Arm aus. Seine Hand zitterte. Er hatte das Gefühl, Schüttelfrost zu bekommen, alles tat ihm weh. Vielleicht hatte er sich eine Grippe eingefangen. Das fehlte ihm gerade noch; in der kleinen Firma durfte eigentlich niemand ausfallen.

      Waller stieß pustend den Atem aus, stieg aus dem Wagen und schlurfte zur Haustür hinüber. Selbst der kurze Fußweg fiel ihm schwer, er sog die Luft in kurzen, tiefen Atemzügen ein.

      „Ich bin wieder da, Schatz“, rief er halblaut in den Flur hinein.

      Seine Frau Helen kam aus der Küche, die Hände nass vom Spülen. Sie strich sich mit dem Handgelenk eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und gab ihm einen Kuss. Sie musterte ihn besorgt.

      „Meine Güte! Du siehst ja total fertig aus, weißt du das? Hast du dich irgendwo angesteckt? Heute morgen warst du doch noch fit“, sagte sie.

      „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Jedenfalls fühle mich ganz furchtbar“, klagte Waller. „Ich habe tierische Kopfschmerzen und mir ist übel.“

      „Ach du je. Du siehst aus, als hättest du auch Fieber“, sagte Helen und legte ihm eine Hand an die Stirn. „Meine Güte, du glühst ja! Leg dich gleich mal hin. Die Kinder sind noch drüben bei Mannsfelds, wir essen heute sowieso etwas später zu Abend. Schlaf doch noch ein bisschen bis dahin. Vielleicht geht es dir dann schon besser.“

      Waller


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