Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld

Der bleierne Sarg - Thomas Frankenfeld


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nickte Winter und Thomsen zu. „Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden.“

      Mit diesen Worten verließ der Virologe den Raum. Becca Shahin verlor keine Zeit.

      „Vorgestellt worden bin ich ja schon. Vielleicht sagen Sie mir jetzt noch kurz, wer Sie sind. Dann können wir anfangen.“ Damit nickte sie Winter und Thomsen auffordernd zu.

      Die beiden holten ihre Vorstellung nach. Die Polizistin sah in die Runde und blickte jedem am Tisch kurz in die Augen. Ihre eigenen waren tiefschwarz, fiel Lindberg auf.

      „Offenbar bin ich hier die einzige am Tisch ohne Doktorgrad“, sagte Shahin lächelnd.

      „Mag sein“, entgegnete Lindberg. „Dafür sind Sie hier die einzige am Tisch mit einer geladenen Waffe am Gürtel.“

      „Sie haben bemerkenswert scharfe Augen, Dr. Lindberg“, bemerkte Shahin und musterte den Archäologen aufmerksam. „Was wir hier am Tisch besprechen, darf diesen Personenkreis nicht verlassen. Das ist übrigens keine Bitte, sondern eine strafbewehrte polizeiliche Anordnung. Sollte jemand damit nicht einverstanden sein, möge er bitte jetzt den Raum verlassen. Im Übrigen wird niemand gezwungen, sich an dieser Kommission zu beteiligen. Aber Sie alle haben Kenntnisse, die uns möglicherweise weiterhelfen können. Nun, wie sieht es aus – gehen oder bleiben Sie?“

      Die Teilnehmer sahen sich mit leicht verwirrten Mienen an, doch niemand erhob sich.

      „Gut, dann wäre das geklärt“, sagte Shahin. „Professor Rischmann – wollen Sie anfangen? Sie haben die Leiche aus dem Wedeler Bleisarg obduziert.“

      Rischmann nickte und ordnete seine Papiere.

      „Ich bin seit fast vierzig Jahren Rechtsmediziner“, begann er, „aber ich habe einen derartigen Fall noch nie gesehen. Mehr als das – ich habe mir ein solches Phänomen bisher gar nicht vorstellen können. Abgesehen von einem ähnlichen Fall in China, den ich allerdings nicht selbst auf dem Tisch hatte …“ – bei diesen Worten lächelten Winter und Lindberg sich an – „… hat es das wohl auch noch nie in der Medizingeschichte gegeben.“

      Er griff nach einer schmalen Fernbedienung. „Ich hoffe, Sie haben stabile Mägen?“

      An der Decke erwachte der Kühlventilator eines Beamers mit leisem Surren. Das erste Bild zeigte den Leichnam aus Wedel, der auf dem Obduktionstisch lag. Dahinter waren zwei Mediziner in voller Schutzkleidung zu erkennen.

      „Nanu, der hat ja nur einen Arm!“, entfuhr es Lindberg.

      „Sie haben recht“, sagte Rischmann. „Dazu komme ich gleich noch. Was Sie ebenfalls sofort erkennen können …“ – der rote Zeiger der Fernbedienung kreiste um die Leiche auf dem Tisch – „… ist, dass dieser Körper nahezu unversehrt ist. Eine Verwesung hat nur in Ansätzen stattgefunden.“

      Der Beamer klickte leise und ein neues Foto erschien. Der Leib des Toten war bereits mit einem T-Schnitt geöffnet und die Organe in Stahlschalen gelegt worden.

      „Das gilt weitgehend auch für die Organe im Körperinneren“, erläuterte der Rechtsmediziner. „Wie Sie sehen, sind sie weich und ziemlich intakt. Wenn ich nicht wüsste, dass dieser Mann aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges stammt, würde ich per Augenschein annehmen, er sei vor ein paar Tagen gestorben. Ich gebe zu, ich bin ratlos.“

      Das nächste Bild erschien.

      „Nun zu dem fehlenden Arm. Der Mann hat ihn nicht im Dreißigjährigen Krieg verloren oder bei einem Unfall. Dieser Arm wurde erst kürzlich vom Körper abgetrennt – vermutlich sogar in jener Nacht, als die beiden Polizisten niedergestochen wurden.“

      „Die Täter haben einen dreihundertfünfzig Jahre alten Arm gestohlen?“, fragte Lindberg entgeistert. „Warum um alles in der Welt sollte jemand so etwas tun? Das ist schon ein sehr spezielles Souvenir.“

      Rischmann wies mit dem Zeiger auf die Schnittstelle an der Schulter der Leiche. „Die Extremität wurde fachgerecht am Schultergelenk abgetrennt. Das Gewebe mit einer sehr scharfen Klinge, der Knochen mit einer chirurgischen Säge.“ Er blickte in die Runde. „Wer diesen Arm gestohlen hat, hat es nicht spontan getan, sondern nach sorgfältiger Planung und mit dem geeigneten Werkzeug. Und der Täter hatte ganz offenbar ausgezeichnete anatomische Kenntnisse.“

      Becca Shahin nickte dem Rechtsmediziner zu. „Vielen Dank, Professor Rischmann. Dr. Winter, Professor Dr. Thomsen, was haben Sie herausgefunden? Viel Zeit war ja noch nicht.“

      Sarah Winter machte eine Geste, die Thomsen ermuntern sollte, als Erster zu sprechen.

      „Ich gebe zu – wie Kollege Rischmann stehen auch wir vor einem Rätsel. Im Körper des Toten fanden sich Viren, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Es handelt sich um eine sogenannte Chimäre.“

      Shahin hob eine Hand. „Könnten Sie den Begriff bitte erklären?“

      Thomsen nickte. „Gern. Der Begriff Chimäre stammt aus der griechischen Mythologie. Dort war die Chimäre ein feuerspeiendes Ungeheuer, vorn Löwe, in der Mitte Ziege und hinten Drache. Es wurde vom Helden Bellerophon getötet. In der Archäologie sind Chimären Mischwesen in Skulpturen und Felsritzungen alter Kulturen. In der Medizin und Biologie aber bezeichnet man damit einen Organismus, der aus unterschiedlichen Zellen oder Genomen aufgebaut und dennoch einheitlich ist.“

      Thomsen blickte in seine Unterlagen. „Bei der Chimäre, die uns interessiert, wurden bestimmte fremde Gene eingefügt – offenbar geschah dies durch eine Reihe von Mutationen. Wie das genau geschehen konnte, ist mir ein Rätsel. Aber so viel habe ich im Laufe der Jahre gelernt, dass die Natur immer ein paar Überraschungen bereithält. Zynisch könnte man sagen, dieser Erreger vereinigt die besten Eigenschaften des hämorrhagischen Fiebers mit der Pest. Die genetische Besonderheit bringt es zudem mit sich, dass die Krankheit nicht nur hochinfektiös ist, sondern auch bereits nach kurzer Inkubationszeit tötet. Die Sterblichkeitsrate muss enorm hoch sein. Ich hoffe, wir werden nie herausfinden müssen, wie hoch.“

      Thomsen goss sich ein Glas Wasser ein, trank und fuhr dann fort. „Dank des perfekten Erhaltungszustandes des Körpers hat dieses Teufelsding dreihundertfünfzig Jahre in dem luftdicht zugelöteten Bleisarg überstanden. Diese besondere Flüssigkeit, in der er schwamm – deren genaue Zusammensetzung wir immer noch nicht ermitteln konnten –, dürfte entscheidend damit zu tun haben. Besonders beunruhigend ist, dass die Chimäre weiterhin unablässig mutiert. Und dass sie offenbar durch die Luft übertragbar ist – was weder für die Pest noch für Ebola, Marburg oder eines der anderen hämorrhagischen Fieber gilt.“

      „Großer Gott!“, entfuhr es Lindberg.

      „Gott?“, schnaubte Thomsen. „Ich fürchte, der muss gerade ein Nickerchen gemacht haben, als diese Abnormität entstand. Denn diese Chimäre bedroht ganz akut seine Schöpfung“, sagte der Wissenschaftler bitter.

      „Vielen Dank. Bezüglich dessen, was ich Ihnen jetzt sage, weise ich Sie noch einmal auf Ihre Pflicht zum Stillschweigen hin“, betonte Shahin. „Zunächst einmal: Nicht beide Polizisten sind bei dem Anschlag getötet worden, wie es zunächst hieß, sondern nur einer. Der andere hatte unfassbares Glück. Professor Rischmann – darf ich Sie noch einmal bitten?“

      Rischmann griff wieder zu der Fernbedienung. Ein weiteres verstörendes Bild erschien. Es zeigte den Hinterkopf eines Mannes. Der Rechtsmediziner blickte in seine Unterlagen.

      „Berndt Mahlmann, vierunddreißig Jahre alt, männlich, Polizeiobermeister aus Wedel.“ Der rote Punkt des Zeigers kreiste um eine Wunde am Hinterkopf. „Der Schädel des Opfers wurde an dieser Stelle durchstoßen, möglicherweise mit einer dreikantigen chirurgischen Nadel, einem sogenannten Troikart. Die Klinge durchtrennte die Medulla oblongata, wodurch der Tod vermutlich nach wenigen Sekunden eintrat.“

      Rischmann setzte seine Brille ab und sah die Anwesenden ernst an. „Meine Damen und Herren, hierbei handelt es sich ganz sicher nicht um einen zufälligen Treffer. Der Mörder besaß anatomische Kenntnisse, erhebliche Körperkraft und eine sehr spezielle Ausbildung.“ Er sah zu Shahin hinüber. „Ich will Ihnen nicht vorgreifen, Frau Hauptkommissarin, aber es


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