Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld

Der bleierne Sarg - Thomas Frankenfeld


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meldete sich zu Wort. „Gibt es eigentlich schon irgendwelche Verlautbarungen oder Forderungen seitens der Täter? Die werden ja wohl nicht einfach so elf Menschen ermordet haben. Die wollen doch sicher irgendetwas.“

      „Sie haben recht. Es ist in der Tat eine Forderung eingegangen.“

      Ein weiteres Bild erschien; es zeigte einen auf Arabisch verfassten Text, über dem ein Emblem stand. Es war ein schwarzes Banner, in dessen Mitte der weiße Umriss eines Adlers zu sehen war. Der Raubvogel wies ein schwarzes Auge in Form eines Totenschädels auf. In seinen Krallen hielt er das Sturmgewehr von Typ Kalaschnikow AK-47, allgegenwärtiges Symbol islamistischer Terrorgruppen von Tunesien bis Indonesien. Shahin zeigte auf das Bild.

      „Dieses Schreiben stammt von einer bislang unbekannten radikalislamistischen Gruppe namens ‚Falken von Hattin‘, offenbar eine Tarnorganisation oder Filiale des ‚Islamischen Staates‘. Möglicherweise wurde sie auch nur für diesen Zweck gegründet. Soweit ich recherchiert habe, bezieht sich der Name Hattin auf die entscheidende Niederlage der europäischen Kreuzritter gegen Sultan Saladins Heer im Jahr 1187. Und zwar bei einer Hügelgruppe unweit von Jerusalem – nämlich den Hörnern von Hattin.“

      Lindberg nickte zustimmend.

      „Dieses Schreiben ging etwa zeitgleich mit dem Anschlag auf Hallig Hooge bei der Landesregierung ein“, fuhr Shahin fort. „Darin wird die Freilassung eines Mannes gefordert, der gegenwärtig in Haus sechs der Hochsicherheitsabteilung der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Billwerder einsitzt. Der Massenmord von Hooge wird in dem Schreiben als ‚Demonstration‘ und ‚erste Warnung‘ bezeichnet.“

      Wieder ein Klicken, wieder ein neues Bild. Es zeigte einen blonden, bärtigen Mann, etwa Mitte dreißig, der mit finsterem, abweisendem Blick in die Kamera starrte.

      „Dieser sympathische Herr ist Arnfried Jestermann, geboren 1984 in Hannover. Bürgerliches Elternhaus, abgebrochenes Politikstudium, abgebrochene kaufmännische Lehre und vor allem abgebrochene Moral. Anfang 2014 reiste er in die Türkei. Überlebende des Massakers an den Jesiden in der Sindschar-Region im Nordirak durch Kämpfer des ‚Islamischen Staates‘ berichteten von einem auffallend hochgewachsenen, blonden Deutschen, der sich besonders bei den Gräueltaten hervorgetan habe. Er habe den Kampfnamen ‚Abul el-Hol‘ getragen.“

      „Der Vater des Schreckens“, nickte Lindberg. „So wird die große Sphinx-Statue in Gizeh seit alters her genannt. Kein schlechter Kampfname für einen Dschihadi. Zumindest originell.“

      Shahin setzte ihren Vortrag fort. „Jestermann wütete danach vor allem in Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak, die 2014 unter die Terrorherrschaft des IS geriet und 2017 von Koalitionstruppen befreit wurde. Er wurde im Mai 2019 durch die britische Spezialeinheit SAS bei Erbil gefasst und ein paar Monate später an Deutschland ausgeliefert. In Billwerder wartet er auf seinen Prozess. Wir glauben, dass er über umfassendes Wissen darüber verfügt, wie sich der IS nach den schweren Niederlagen in Syrien und im Irak neu organisiert hat, wo seine Trainingslager und Waffenverstecke liegen, wer seine neuen Feldkommandeure sind und wie seine aktuelle strategische Ausrichtung aussieht.“

      „Oha. Kein Wunder, dass der IS ihn zurück haben will“, murmelte Hartdegen. „Ich vermute, wenn dieser Mann auspackt, wäre das der Todesstoß für den IS?“

      „Zumindest würde es den Kampf gegen den IS stark erleichtern“, bestätigte Shahin. „Jestermann kennt Führungspersonal, Taktiken, Verbindungen zu anderen radikalislamistischen Organisationen und Zellen, zum Beispiel auch in Deutschland.“

      „Warum versucht der IS ihn dann nicht einfach zu liquidieren?“, fragte Lindberg.

      „Weil dies ein verheerendes Signal für die ohnehin verunsicherten Anhänger und Kämpfer des IS wäre“, entgegnete Shahin. „Es würde ja bedeuten, dass der IS seine treuesten Kämpfer bedenkenlos opfert. Mit den Anschlägen zur Freipressung von Jestermann aber demonstriert die Terrororganisation, dass sie sich um ihre Leute kümmert.“

      Shahin besprach mit den Anwesenden, welche Aufgaben jeder übernehmen könnte. Im Anschluss machte sich Lindberg sofort auf den Weg nach Wedel, um im Stadtarchiv nach Hinweisen zu dem Toten im Bleisarg zu suchen.

       Wedel in Holstein

      Das Archiv war im Untergeschoss des Wedeler Rathauses untergebracht, eines Backsteingebäudes im Zentrum der Stadt, dessen baulicher Kern 1937 auf dem Gelände des Städtischen Gasthofes errichtet worden war. Die Archivarin war bereits vom Landeskriminalamt verständigt worden und gestattete Lindberg Zugang zu den Regalen und Schränken mit alten Schriften. Sie instruierte den Archäologen über das verwendete Archivsystem und Lindberg machte sich auf die Suche.

      Als Archäologe und Anthropologe waren ihm Archive vertraut und er wusste, wie man darin suchen musste. Nachdem er die nächsten Stunden in dem staubtrockenen Raum in Wedel verbracht hatte, rief er Becca Shahin an.

      „Haben Sie irgendetwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte?“, fragte sie sofort.

      „Ich denke schon. Das Wedeler Archiv hat erstaunlich viele Schriften aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges“, antwortete Lindberg geduldig.

      „Und?“

      „Ich habe in Kirchenakten, Sterbebüchern, Familienchroniken und amtlichen Verlautbarungen gestöbert. Vieles bleibt immer noch im Dunkeln, aber so allmählich wird wenigstens ein roter Faden in der Sache sichtbar. Ich glaube, ich weiß jetzt, wer der Tote in dem Bleisarg ist und warum er auf diese Weise bestattet wurde.“

      „Das würde ich gern persönlich und ausführlicher hören. Sie fahren jetzt sicher nach Schleswig zurück?“

      „Ja, ich muss mich dringend duschen und ein Bier trinken nach den Stunden mit staubigen Akten.“

      „Gut“, sagte Shahin, „wenn es Ihnen recht ist, komme ich morgen in Ihr Büro im Archäologischen Landesamt. Passt Ihnen neun Uhr?“

      Lindberg stimmte zu und machte sich auf den Weg nach Hause. In seiner Kehle saß der Staub uralter Akten. Zuhause angekommen, trank er ein kaltes Bier. Und dann noch eines. Anschließend fiel er todmüde ins Bett.

       Schleswig

      Die Hauptkommissarin war – Lindberg hatte es nicht anders von ihr erwartet – am nächsten Morgen absolut pünktlich. Er bot ihr einen Kaffee an und beide setzten sich in einen freien Konferenzraum.

      „Na, dann erzählen Sie mal, Dr. Lindberg. Ich muss sagen, ich bin wirklich sehr gespannt.“

      Der Archäologe blätterte in seinen Aufzeichnungen. „Ich habe telefonisch bei Dr. Winter vorhin noch ein paar Informationen zu hämorrhagischen Fiebern eingeholt“, begann er. „Das soll uns als Basiswissen dienen. Sie haben ihren Ursprung im subsaharischen Afrika. Es wird vermutet, dass die Viren dort von den ursprünglichen Wirten – das waren Fledermäuse, Flughunde oder auch Affen – irgendwann auf den Menschen übergesprungen sind. Seit wann es diese Viren gibt, wissen wir jedoch nicht. Und natürlich auch nicht, wann der erste Mensch daran starb. Einen ‚Patienten Null‘ können wir allenfalls bei heutigen Seuchenausbrüchen identifizieren.“ Er zog eine handschriftliche Notiz heraus. „Wie zum Beispiel ein zweijähriges Mädchen aus dem Dorf Meliandou in Guinea. Es starb am 6. Dezember 2013 – innerhalb von drei Wochen folgten ihm seine Schwester, seine Mutter, seine Großmutter und eine Krankenschwester, die es gepflegt hatte. Die Gäste der Trauerfeier für die Verstorbenen verbreiteten die Seuche dann im ganzen Land.“

      „Entsetzlich“, murmelte Shahin.

      „Doch die für uns entscheidende Frage ist natürlich: Wie kam das Virus im 17. Jahrhundert von Afrika nach Wedel?“, fuhr Lindberg fort. „Das war damals immerhin eine Reise von mehreren Wochen; außer Seeleuten, einigen Forschern und ein paar wagemutigen Händlern gelangte doch niemand dorthin. Schon gar nicht kurz nach dem entsetzlichen Krieg, der ein Drittel der Deutschen umgebracht hatte.“

      Er klappte seinen Laptop auf und klickte einige abgespeicherte Dokumente an.

      „Ich bin im Wedeler Archiv auf einen Mann namens Johannes


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