Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld
„Das kann ich Ihnen sagen. Der Bleisarg wurde in dieser Nacht mit einem speziellen hydraulischen Werkzeug aufgeschnitten, wie es auch verwendet wird, um Unfallopfer aus Autos zu bergen“, entgegnete die Polizistin.
„Na, das dürfte dann wohl ein weiteres Indiz dafür sein, dass dieser Überfall minutiös geplant war“, meinte Winter.
„Und das zweite Opfer?“, wollte Lindberg wissen. „Die gleiche Vorgehensweise?“
Rischmann sah fragend zu Shahin hinüber, die nickte.
„Im Prinzip schon“, sagte der Rechtsmediziner.
„Im Prinzip?“
„Ja, präziser Stich mit dem Troikart in den Hinterkopf.“
„Das ist ja entsetzlich“, meinte Lindberg betroffen, „der arme Kerl.“
Rischmann lächelte schmal. „Naja – ganz so arm wie sein Kollege ist er nicht. Er hat ja immerhin überlebt, wenn auch verletzt. Dieser Mann, einen Moment, wie heißt er …“ – Rischmann blickte in seine Akten – „… Polizeiobermeister Menso Sievers, hatte vor einigen Jahren einen Motorradunfall, bei dem sein Schädel am Hinterkopf von der Stoßstange eines Autos erfasst wurde. Es entstand ein Trümmerbruch, der es notwendig machte, an einer Stelle ersatzweise ein Stück Stahlplatte einzusetzen.“
„Lassen Sie mich raten – auf der Höhe der Medulla oblongata?“, fragte Winter.
„So ist es“, bestätigte der Rechtsmediziner. „Bei diesem Stich drang die Klinge der Waffe daher nur in die Haut ein, wurde dann von der Stahlplatte zur Seite abgelenkt. Es entstand eine hässliche, lange Schnittwunde am Hinterkopf und ein schräger Einstich in den Schädelknochen. Aber dies war nicht lebensbedrohlich. Doch die Wucht des Stoßes reichte aus, dass der Mann bewusstlos zusammenbrach.“
„Davon habe ich ja gar nichts gelesen“, wunderte sich Hartdegen.
„Nein“, entgegnete Shahin, „das haben wir auch vor den Medien geheim gehalten. Der Polizist befindet sich mit seiner Familie in einem Krankenhaus unter anderem Namen und erholt sich von seiner Verletzung. Auch wenn er den Mörder nicht deutlich erkannt hat, ist er in Lebensgefahr, denn der Täter weiß ja nicht, dass der Polizist so gut wie nichts erkennen konnte, bevor er das Bewusstsein verlor. Sievers versichert aber, beim Fallen noch bemerkt zu haben, dass der Täter in Schwarz gekleidet und nicht sehr groß war.“
„Ich verstehe“, sagte Hartdegen.
Lindberg wandte sich der Polizistin zu. „Sagen Sie, warum bin ich eigentlich dabei? Von Viren verstehe ich so viel wie eine Seekuh vom Spitzenklöppeln. Ich bin Archäologe, wissen Sie.“
Shahin lächelte über den Vergleich. „Der Ursprung dieses Falls liegt offenbar ein paar Jahrhunderte zurück. Vielleicht gibt es Aufzeichnungen über diese ganz besondere Beerdigung. Dann können wir mehr über diesen Leichnam erfahren. Und da kommen Sie ins Spiel.“
„Gut“, nickte Lindberg. „Mir ist zwar immer noch nicht klar, wie ich Ihnen von Nutzen sein soll, aber ich will sehen, was ich herausfinden kann. Es befindet sich vielleicht etwas dazu in Hamburger Archiven oder auch im Stadtarchiv von Wedel.“
„Da wir gerade dabei sind“, meldete sich Hartdegen. „Virologische und bakteriologische Kenntnisse sind hier schon bestens mit den Kollegen Winter und Thomsen vertreten. Ich bin jedoch Experte für biologische Waffen. Dieser alte Sarg zählt ja wohl eher nicht dazu. Also, was genau erwarten Sie von mir?“
„Vielen Dank für die gute Frage, Professor Dr. Hartdegen“, sagte Shahin, „denn sie führt uns direkt zum Kern unseres Problems.“
Sie nahm ein Macbook aus ihrer Aktentasche, verband den dünnen Laptop mit dem Beamer und gab ein paar Tastenbefehle ein. Ein Bild erschien auf der Leinwand, das offenbar das Google Earth-Abbild einer kleinen Insel zeigte.
„Sie sehen hier die Hallig Hooge“, begann die Polizistin. „Sie liegt, wie Sie vielleicht wissen, vor der Nordseeküste zwischen den Inseln Amrum und Pellworm. Einwohnerzahl etwa hundert Menschen. Vor zwei Tagen wurde von mehreren Einwohnern eine ungewöhnlich große Drohne gesichtet, die die Hallig überflog, vermutlich von einem Boot aus gesteuert.“
Shahin schaltete ein Bild weiter. Am Tisch sogen einige schockiert den Atem ein. Das Foto zeigte mehrere Menschen, die auf dem Boden eines Zimmers lagen. Blut rann ihnen aus Augen und offenen Mündern. Sie waren offensichtlich tot.
„Bis jetzt haben wir elf Tote auf der Hallig“, sagte Shahin tonlos. „Drei Familien sind komplett ausgelöscht. Hooge ist vollkommen isoliert worden, die Fähre fährt die Marschinsel nicht mehr an. Mit Patrouillenbooten und Polizeihubschraubern werden Menschen daran gehindert, die Hallig zu betreten oder zu verlassen. Dr. Winter und Professor Dr. Thomsen waren mit einem Spezialteam von Ärzten vor Ort. Es sind Proben aus den Körpern der Toten entnommen worden. Der Erreger ist eindeutig identifiziert: Es ist das Virus aus dem Körper der dreihundertfünfzig Jahre alten Leiche aus Wedel.“
„Elf Tote? Auf einer Urlaubsinsel in der Nordsee? Das können Sie doch nicht geheim halten!“, rief Lindberg aus. „Ich erinnere mich jetzt auch, irgendetwas in den Nachrichten über Hallig Hooge gehört zu haben.“
„Nun, da wir noch gar nicht genau wissen, womit wir es zu tun haben, erschien es uns sicherer, eine Tarngeschichte zu verbreiten. Sie werden im Radio gehört haben, dass es eine mutmaßliche Masseninfektion mit Legionellen auf der Hallig gegeben hat“, sagte die Polizistin. „Dass aber noch weitere Untersuchungen laufen und man die Marschinsel zur Sicherheit unter Quarantäne gestellt hat. Sehen Sie, die Hallig wird mit einer unterseeischen Leitung vom Festland aus mit Wasser versorgt. Eine Verkeimung mit Legionellen ist daher gar nicht mal so unwahrscheinlich. Und falls Sie weitere Fragen haben – ja, Internet und Mobiltelefon-Netzwerke auf der Hallig sind vorläufig blockiert. Die Menschen auf Hooge sind im Übrigen bereit, mit uns zu kooperieren. Sie haben mit eigenen Augen gesehen, um was es hier geht. Dieses Virus darf nicht die Küste erreichen. Wir haben auch die wichtigsten Medien auf dem Festland eingebunden und mit ihnen vereinbart, dass sie so lange stillhalten, bis wir Genaueres wissen. Danach wird natürlich die mediale Hölle über uns hereinbrechen. Unser wichtigstes Motiv ist allerdings, dass wir eine Panik unbedingt verhindern müssen. Unser Ärzteteam auf Hooge arbeitet rund um die Uhr, um die Lage auf der Hallig zu stabilisieren. Und wir haben Polizei, Feuerwehr und alle Stellen des amtlichen Gesundheitsdienstes gebeten, uns umgehend Meldung zu machen, falls sie irgendwo auf Symptome stoßen, die auf hämorrhagisches Fieber hindeuten könnten. Die Meldung ist mit der Einstufung ‚Streng Geheim‘ herausgegeben worden. Ich hoffe sehr, das hält die Sache so lange unter dem Deckel, bis wir weiter in den Ermittlungen sind. Ich bitte Sie um Verständnis.“
Sie wandte sich Hartdegen zu. „Und jetzt verstehen Sie sicher auch, warum Sie hier sind. Und warum der Arm der Leiche entwendet wurde. Was Sie hier sehen …“ Sie schaltete ein Foto weiter und das vom Elektronenmikroskop sichtbar gemachte, bizarre Abbild des Erregers füllte die Leinwand. „… ist nicht einfach ein Virus. Es ist eine tödliche Waffe. Und die befindet sich in den Händen von Menschen, die vor Massenmord offenbar nicht zurückschrecken. Wir stehen unter enormem Zeitdruck. Und wir müssen befürchten, dass die elf Toten von Hallig Hooge erst der Auftakt waren.“
„Der Auftakt für was?“, fragte Lindberg.
„Verzeihen Sie mir die Theatralik, Dr. Lindberg“, sagte Shahin. „Wenn wir diese Leute nicht rechtzeitig stoppen, war das Drama auf Hallig Hooge womöglich der Auftakt zu einem Massenmord historischen Ausmaßes.“
10
Hamburg
„Jetzt begreife ich allmählich, warum Sie dabei sind“, sagte Hartdegen mit scharfem Blick auf die Hauptkommissarin und lehnte sich im Sessel zurück. Er musterte sie scharf. „Abteilung fünf?“
Shahin nickte. „Richtig. Sie sind ausgezeichnet informiert, Herr Professor. Ja, ich gehöre der Abteilung fünf im Landeskriminalamt an; operativer Einsatz und unterstützende Ermittlung.