Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld
Kopfschmerzen. Leichte Übelkeit überkam ihn. Der Lehrer überlegte, bei wem er sich angesteckt haben konnte. Auf Hooge erkrankte man immer nur dann an grippalen Infekten, wenn die Gäste die Viren vom Festland mitbrachten. Mehr als sechshundert Touristen kamen an manchen Tagen, da konnte man sich schon etwas bei ihnen holen. Im Winterhalbjahr war auf Hooge hingegen nie jemand krank.
Fendt beschloss, noch einen Spaziergang am zwölf Kilometer langen Steindeich zu unternehmen, der Hooge umschloss. Der Wind hatte am Abend wieder aufgefrischt, nachdem er den ganzen Tag geschlafen hatte, und zauste ihm die spärlichen Haare. Fendt hoffte, dass ihm die frische Luft guttun würde. Er hatte das raue Nordseeklima immer als belebend empfunden. Selbst im Winter, wenn Orkanböen wie gequälte Seelen heulten und wütend versuchten, die wenigen Bäume der Hallig zu entwurzeln, zog der Lehrer seine einsamen Runden entlang des Deiches.
Er versuchte, kräftig auszuschreiten, doch seine Beine waren plötzlich seltsam kraftlos. In seinem Kopf pulsierte der Schmerz nur noch stärker. Ihm war speiübel. Das musste eine echte Grippe sein. Er beschloss, zurückzukehren und sich sofort ins Bett zu legen.
Fendt blieb einen Moment lang erschöpft stehen und blickte noch einmal über die flachen Marschwiesen bis zu einem Gatter, wo Suffolk-Schafe zu ihm herüberstarrten und ihn kehlig anblökten. Der Lehrer wandte sich gerade zum Gehen, als ein unerträglich scharfer Schmerz durch seinen Kopf schnitt, als hätte man ihm eine heiße Nadel ins Hirn getrieben. Stöhnend brach er in die Knie. Er hustete krampfhaft, würgte und hielt sich instinktiv die Hand vor den Mund. Ungläubig starrte Henning Fendt auf seine Hände und dann hinunter auf die Front seiner Windjacke. Überall war Blut.
9
Schleswig
Das Büro von Dr. Rüdiger Stettner, Chef des Archäologischen Landesamtes, war etwa zwanzig Quadratmeter groß und ernüchternd karg eingerichtet – sah man von ein paar alten Stichen an den Wänden ab, die das Herrenhaus Annettenhöh in nobleren Zeiten zeigten. Lindberg saß auf einem der unbequemen Freischwinger, die um den kleinen Konferenztisch aufgestellt waren. Er musterte Stettner, der wie üblich eine kleine Demonstration seiner Macht gab, indem er in Aktenordnern las, ohne Lindberg eines Blickes oder Wortes zu würdigen. Wenn Stettner das nötig hatte, war er nur eine arme Wurst, überlegte der Archäologe. Die Vorstellung schoss ihm durch den Kopf, Stettner hätte wie jede andere Wurst auch zwei zipfelhafte Enden. Das amüsierte ihn und er musste grinsen.
Stettner musterte ihn nun missbilligend über seinen Ordner hinweg. „Sie scheinen ja ausnehmend gute Laune zu haben, Dr. Lindberg“, bemerkte er säuerlich.
„Tut mir leid, Dr. Stettner. Das kommt hin und wieder einfach über mich“, versetzte Lindberg.
Sein Chef legte den Ordner beiseite und stellte die dünnen Finger zu einer Pyramide auf.
„Und Sie scheinen ja in Hamburg großen Eindruck gemacht zu haben.“
Lindberg runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht ganz …?“
„Die Sache mit dem Bleisarg da unten in Wedel vor ein paar Tagen. Der Einbruch in die Gruft und der Anschlag auf die beiden Polizeibeamten. Sie hatten wohl gleich ein paar hilfreiche historische Anmerkungen parat?“
„Ach so, ja. Nun, ich habe dazu gesagt, was ich konnte, aber danach nichts mehr aus Hamburg gehört.“
„Ich schon“, versetzte Stettner. „Das Landeskriminalamt in Kiel hat offiziell um Ihre Mitarbeit in dem Fall ersucht. Und die Landesregierung hat mich mit einigem Nachdruck gebeten, Sie dafür freizustellen – was ich hiermit tue. Inwiefern Sie da helfen können, erschließt sich mir nicht. Es gibt da wohl ein Problem mit einem Krankheitserreger? Wir sind Archäologen, keine Bakteriologen. Das sollten Sie denen da unten vielleicht mal klarmachen. Aber naja, ich sage dazu mal gar nichts – man hat mir strengstes Stillschweigen auferlegt.“
„Ich kann Ihnen dazu auch nichts sagen, Dr. Stettner“, sagte Lindberg. „Ich bin mindestens so überrascht wie Sie.“
Rüdiger Stettner sah ihn ein paar Herzschläge lang argwöhnisch an, dann zuckte er mit den Schultern. „Gut, Lindberg, wie dem auch sei. Eine Konferenz ist heute um fünfzehn Uhr im Bernhard-Nocht-Institut angesetzt. Fahren Sie also in Gottes Namen nach Hamburg und sehen Sie zu, dass Sie den Leuten irgendwie helfen können. Und dann kehren Sie bitte zügig an Ihre Arbeit zurück. Die Kollegen in Greifswald haben uns um Unterstützung gebeten. Sie wissen schon – dieses Tollense-Schlachtfeld aus der Bronzezeit. Offenbar gibt es da ein paar interessante neue Funde. Sie sollten sich das möglichst bald mal ansehen. Wir sollten unbedingt mit an Bord sein.“
Lindberg nickte. Ihm war völlig klar, dass Stettner sich die Gelegenheit, im Revier der Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern zu wildern, nicht entgehen lassen wollte. Allerdings könnten diese neuen Funde tatsächlich hochinteressant sein. Stettner witterte offenbar eine Chance, sich zu profilieren. Lindberg setzte ein möglichst dienstbeflissenes Gesicht auf und verabschiedete sich eilig.
Auf der Fahrt nach Hamburg grübelte er über diesen seltsamen Auftrag nach. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum er von der Landesregierung angefordert worden war. Sofern er wusste, war der Bleisarg mit der Leiche inzwischen nach Hamburg gebracht und dort gründlich untersucht worden. Die Gruft war aufwendig desinfiziert und dann zugemauert worden. Für ihn war der Fall erledigt. Ein Rätsel stellte allerdings der Mordanschlag auf die beiden Polizisten dar, die die Gruft in jener Nacht bewacht hatten. Ihm taten die Familien der Opfer leid.
Hamburg
Im Bernhard-Nocht-Institut angekommen, wurde Lindberg sofort in einen geräumigen Konferenzraum geführt. Zu seiner Erleichterung gab es frischen Kaffee, ein paar Kekse und kleine Flaschen mit Wasser und Säften.
Er winkte Sarah Winter zu, die bereits am Tisch saß und in Papieren blätterte. Er erkannte ferner Professor Dr. Levy Dahan und den etwas beleibten Bakteriologen Professor Dr. Rafael Thomsen. Neben ihnen saßen noch zwei Männer, die er nicht einordnen konnte. Der eine kam ihm allerdings bekannt vor. Er war hochgewachsen und schien Mitte sechzig zu sein. Der Mann hatte ein markantes Gesicht, war schlank, fast hager zu nennen, und trug einen legeren schwarzen Rollkragenpullover zu einer sandfarbenen Cordhose. Auch er war in vor ihm liegende Papiere vertieft. Der zweite Mann trug einen förmlichen grauen Anzug mit roter Krawatte. Er war um die fünfzig und musterte die anderen Anwesenden mit kühlem Blick, der auch kurz und etwas unangenehm auf Lindberg ruhte. Lindberg kam sich vor wie ein Insekt unter dem Mikroskop.
Er setzte sich neben Sarah Winter, als eine weitere Person den Raum betrat. Es war eine schlanke, drahtige Frau, die Lindberg auf Mitte dreißig schätzte. Ihr üppiges schwarzes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebändigt. Naher oder Mittlerer Osten, überlegte Lindberg. Türkei. Oder Iran. Die Frau stellte ihre Aktentasche neben einen Stuhl und setzte sich.
„Ich sehe, dass wir nun vollzählig sind“, sagte Dahan und nickte den Anwesenden reihum zu. „Dr. Lindberg vom Archäologischen Landesamt in Schleswig haben einige von Ihnen ja schon kennengelernt. Möglicherweise brauchen wir seine Expertise. Der Fall reicht offenbar weit in die Vergangenheit zurück. Dort drüben sitzt mein Kollege, Professor Dr. Gerhard Hartdegen. Er ist spezialisiert auf jene Erreger, die als bakteriologische oder virologische Kampfstoffe genutzt werden können – vor allem das berüchtigte ‚Dreckige Dutzend‘. Sie wissen ja: Milzbrand, Pest, Ebola und so weiter.“
Hartdegen nickte kurz in die Runde.
„Neben ihm sitzt Professor Dr. Paul Rischmann“, fuhr Dahan fort. „Er ist Chef der Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf und hat die Autopsie an der Wedeler Leiche vorgenommen.“
Natürlich, dachte Lindberg. Rischmann! Der Mann war eine Legende in Fachkreisen. Und dies sogar weltweit. Wenn es zwischen Argentinien und Zypern einen ungeklärten Todesfall mit internationaler Bedeutung gab, dann rief man Rischmann.
„Ferner möchte ich Ihnen Hauptkommissarin Becca Shahin vom Landeskriminalamt in Kiel vorstellen.“ Damit drehte sich Dahan zu der schwarzhaarigen Frau um. „Sie hat die Leitung in diesem Fall und wird Ihnen gleich erklären, um was es hier