Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld

Der bleierne Sarg - Thomas Frankenfeld


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Verstorbenen. Man kann in diesem Fall eigentlich gar nicht von einer klassischen Mumie sprechen wie Tutanchamun oder Ramses II. Die Marquise von Dai spielt in dieser Hinsicht in einer ganz eigenen Liga.“

      „Das ist ja wirklich unglaublich“, stimmte Winter ihm zu.

      „Haben Sie die Flüssigkeit aus dem Wedeler Bleisarg denn schon untersucht?“, wollte Lindberg wissen und blickte die Virologin gespannt an.

      „Das haben wir, ja. Zumindest provisorisch, so gut es in der kurzen Zeit ging.“

      „Und – mit welchem Ergebnis?“

      „Ehrlich gesagt, sind wir ziemlich ratlos“, räumte Winter ein. „Wir konnten auf die Schnelle zwar einige pflanzliche Bestandteile identifizieren. Offenbar wurden auch verschiedene Pilze verarbeitet, einige davon kennen wir nicht. Die Flüssigkeit ist zudem leicht basisch. Aber der Rest der Zusammensetzung ist bislang ein Rätsel.“

      „Bleiben Sie unbedingt dran“, riet Lindberg, „denn falls diese Flüssigkeit einen menschlichen Körper über dreihundertfünfzig Jahre fast perfekt erhalten hat – was ich noch nicht recht glauben kann –, dann würde Ihre Entschlüsselung ganz stark Richtung Nobelpreis gehen.“

      Sarah Winter sah ihn ernst an. „Viel wichtiger ist: Falls wir dieses Virus nicht rasch gestoppt kriegen, geht diese Angelegenheit erst einmal ganz stark Richtung Apokalypse.“

      8

       Hallig Hooge, Nordfriesland

      Henning Fendt kniff die Augen zusammen. Schräg über ihm, am wolkenlosen, azurblauen Himmel, schwebte ein seltsames Objekt und zog langsam vorüber. Fendt konnte ein schwaches, schwirrendes Geräusch hören. Er schätzte, dass das Objekt in rund fünfzig Metern Höhe flog. Hier, auf der kleinen nordfriesischen Hallig Hooge, hatte er zwar noch nie eine Drohne gesehen, aber er kannte diese Flugobjekte aus dem Fernsehen. Als Hobby-Vogelkundler konnte er Größenverhältnisse am Himmel recht gut einschätzen: Diese Drohne mit ihren acht Rotor-Auslegern war ungewöhnlich groß und hatte sicherlich die Ausmaße eines Restauranttisches. Fendt blickte sich um. Er wusste, irgendwo musste ein Mensch sein, der sie steuerte. Doch er sah niemanden. Nur ein ganzes Stück weit draußen, auf der Nordsee, die sich heute blau und ungewöhnlich friedlich zeigte, fuhr ein weißes Sportboot vorüber.

      Fendt blickt der Drohne nach. Sie flog in östlicher Richtung, auf die Hanswarft zu, auf der sich das Bürgermeisteramt, das Sturmflutkino und ein paar Geschäfte der Hallig befanden. Vermutlich wurde das Gerät von einem Gast im Haus Helgoland auf der Ockelützwarft gesteuert, das ebenfalls gemietet werden konnte. Die Touristen vom Festland nahmen ja alles Mögliche an Zeug mit in den Urlaub. Badeboote in Schwanenform oder teure Elektrofahrräder, die auf der kleinen Marschinsel eigentlich völlig deplatziert waren, gehörten schon zur Standardausrüstung. Fendt drehte sich um und ging über die Marschwiese zurück zu der kleinen Häusergruppe, die sich auf einem flachen grünen Hügel duckte. Er wollte noch etwas im Schulgebäude erledigen. Die Ockelützwarft, die etwas westlich vom Zentrum der amöbenförmigen Hallig lag, war sein Zuhause und Fendt Lehrer an der Hallig-Schule, einem markanten Gebäude mit seinen charakteristischen feuerroten Türen und Streifen an der Dachkante. Die Schule verfügte nur über einen einzigen Klassenraum – bei derzeit fünf Schülern war das aber mehr als ausreichend. Fendt war allerdings stolz auf die gute Ausstattung der kleinen Schule; es gab immerhin zwei Computerlernplätze und einen abtrennbaren Bereich, der auch als Bühne für kleine Aufführungen genutzt werden konnte. Meist gab es mehr Darsteller auf der Bühne als Zuschauer im Parkett – aber Spaß machten diese Aufführungen den Schülern immer. Im ersten Stock des Gebäudes befand sich sogar eine richtige Turnhalle mit allerlei Sportgeräten.

      Die Ockelützwarft war eine von zehn bewohnten Warften auf Hallig Hooge. Insgesamt zählte die Bevölkerung der Marschinsel rund hundert Seelen. Davon lebten allein auf der Ockelützwarft mehr als ein Dutzend Menschen in sechs Haushalten.

      Fendt war Single und vor sechs Jahren hierhergekommen, um nach einer sehr hässlichen Scheidung noch einmal von vorn anzufangen. Seine Frau Ragna war ihm immer an Raffinesse und Härte überlegen gewesen; dies hatte sich für sie auch bei der Scheidung ausgezahlt. Fendt war nahezu mittellos auf die Hallig gekommen. Die Abgelegenheit der kleinen, nicht einmal sechs Quadratkilometer umfassenden Eilands machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, die selbstgewählte Einsamkeit half ihm, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – Lehren, Lernen und ein bewusst einfach gehaltenes Leben. Henning Fendt war Lehrer in Bremen-Nord gewesen, einem sozialen Brennpunkt einer Stadt, die ohnehin eine hohe Kriminalität aufwies. Er hatte Messerstechereien und Drogenexzesse an seiner Schule erlebt, unter dem zähen Verkehr und der von Abgasen vergifteten Stadtluft gelitten und genoss nun die friedliche Atmosphäre in der winzigen Hallig-Schule und die ungewohnte Wissbegierigkeit seiner Schüler. Fendt fühlte sich hier zu Hause und gab sich große Mühe, die ganz spezielle Mentalität dieser kleinen Gemeinschaft zu verstehen. Als spät Zugereister beherrschte er allerdings nicht die halligfriesische Variante des Nordfriesischen. Sie wurde überhaupt nur noch von einer Handvoll, meist hochbetagter Insulaner gesprochen.

      Hooge war die zweitgrößte der zehn Halligen im schleswig-holsteinischen Wattenmeer und als einzige von einem ein Meter zwanzig hohen Steindeich umgeben, der das Wasser leichterer Sturmfluten durchaus abzuhalten vermochte. Doch die stärkeren Fluten überspülten die Hallig rund ein halbes Dutzend Mal im Jahr; dann bildeten die Warften selbst kleine Inseln im tobenden Meer.

      Während manchmal ein paar einsame Übernachtungsgäste vom Festland, die auf Hooge gestrandet waren, voller Sorge auf die schäumenden Wogen starrten, machte es sich Fendt in seiner gepolsterten Nische am Fenster gemütlich, trank einen schwarzen friesischen Tee mit Kandis und Milch und fühlte sich sauwohl. In solchen Momenten ruhte allerdings auch der Fährverkehr nach Amrum, Dagebüll, Föhr, Sylt und zum Festlandhafen Schlüttsiel.

      Die Warften waren weitgehend von der Welt isoliert und auf sich selbst gestellt, in einem Notfall allenfalls noch mit Seenot-Hubschraubern erreichbar – wenn überhaupt. Anfang Juli 1825 hatte auch der dänische König Friedrich VI. – zu dessen Reich Hooge damals zählte – aufgrund einer Sturmflut auf der Hallig übernachten müssen. Sein damaliges Quartier, der „Königspesel“ aus dem 18. Jahrhundert samt dem winzigen Alkovenbett, in dem der Monarch nur sitzend schlafen konnte, stellte heute eine Touristenattraktion dar. Der König war damals nach Hooge gekommen, um sich über die schweren Schäden der Sturmflut vom Februar 1825 zu informieren, bei der mehrere Warften zerstört worden waren und fünfundzwanzig Menschen ihr Leben verloren hatten. Im Wappen der Hallig prangte ein goldener Anker – er war Symbol sowohl für die Seefahrt als auch für die Hoffnung, die kleine Marschinsel möge auch künftig alle Bedrohungen durch den „Blanken Hans“ überstehen.

      Als Lehrer war Henning Fendt fasziniert von der Tatsache, dass die Halligen stumme Zeugen dramatischer erdgeschichtlicher Vorgänge waren – am Ende der letzten Eiszeit war der Meeresspiegel hier um dreißig Meter gestiegen und hatte große Teile des heutigen Nordfrieslands überflutet. Um Christi Geburt war die Küstenlinie im Zuge einer weiteren Erhöhung des Meeresspiegels, der sogenannten Dünkirchen-Transgression, noch einmal radikal umgestaltet worden. Niemand vermochte zu sagen, wie lange die Halligen in ihrer heutigen Form noch bestehen würden.

      Fendt war kürzlich wieder mit seinen Schülern über den ehemaligen Standort der einst blühenden Siedlung Rungholdt gefahren. Sie war Mitte Januar 1362 von der „Groten Mandrenke“ vom rasenden Meer mit Mann und Maus verschlungen worden. Noch heute tauchten manchmal Reste aus dem Watt auf – Keramiken oder gar Schwerter. Fendts Schüler lauschten ihm stets mit großen Augen, wenn er ihnen die Legenden von Rungholt erzählte. Dass sich die Stadt – wie das legendäre Vineta an der pommerschen Ostseeküste – alle sieben Jahre in der Johannisnacht aus dem Wasser erhebe, dass man an manchen Tagen die Glocken von Rungholt hören könne, wenn man mit dem Schiff über die versunkene Stätte fuhr, und dass der Untergang Rungholts die göttliche Strafe dafür gewesen sei, dass ein paar betrunkene Bauern den Pfarrer von Rungholt gezwungen hatten, einem mit Schnaps abgefüllten Schwein die Sterbesakramente zu geben.

      Es dämmerte bereits, als Fendt das Schulgebäude wieder verließ. Er hatte noch Materialien


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