Einen geliebten Menschen verlieren. Doris Wolf
wir beginnen, die Trauer als eine normale menschliche Reaktion auf Verlust anzusehen, dann brauchen wir uns deshalb nicht mehr schuldig oder schwach zu fühlen.
Unser Umgang mit dem Tod
Tod ist ein Thema, das in unserer Gesellschaft gemieden wird. Tod passiert anderen oder zu einem anderen Zeitpunkt – nicht jetzt. Über Tod und Sterben spricht man nicht. Wir lernen nicht, zu trauern, die Trauer anzunehmen und zu durchleben. Stattdessen lernen wir, unsere Trauer zu verstecken oder gar zu leugnen. Wir erhalten keine oder nur für eine kurze Zeit Gelegenheit, unsere Gefühle des Schmerzes und des Zorns auszudrücken und über den Verlust zu sprechen. Wir vermeiden es, uns mit dem Tod zu beschäftigen. Viele scheuen sich sogar, ein Buch zum Thema Tod zu lesen. Wir umgehen es, uns mit dem Angehörigen über Sterben, seine Angst vor dem Tod, über seine Wünsche bezüglich seiner Bestattung, die Aufteilung des Erbes etc. zu unterhalten. Wir vermeiden es, uns mit einem todkranken Menschen über den Tod zu unterhalten, aus Angst, er könnte denken, wir würden nur auf seinen Tod warten, ihn schon aufgeben, oder aus Angst, dass er merken könnte, wie traurig und hilflos wir sind. Manche Menschen haben sogar die magische Vorstellung: „Wenn man sich mit dem Tod beschäftigt, dann fordern wir ihn an.” Oder umgekehrt: „Wenn wir uns nicht damit beschäftigen, werden wir davon verschont.” Allenfalls die Kirche spricht über den Tod, aber wiederum nur mit dem Trost auf ein mögliches jenseitiges Leben. Werden wir mit dem Tod eines nahen Angehörigen konfrontiert, schalten wir ein Beerdigungsinstitut ein, das uns die Formalitäten abnimmt. Der Tote wird, falls er zuhause gestorben ist, noch am gleichen Tag in die Leichenhalle gebracht. Viele todkranke Menschen werden in die Klinik abgeschoben, um das Leiden nicht mitansehen zu müssen. Der Einzige, der vielleicht das Thema Sterben anspricht, ist der Pfarrer, wenn er ein letztes Mal zum Kranken kommt. Das Beerdigungsinstitut übernimmt die Ausschmückung des Sarges, wäscht den toten Körper und zieht ihm das Leichenhemd über. Was bleibt ist der kurze Blick in den Sarg kurz vor der Beerdigung. Am Tage der Beerdigung zählt der am meisten, der am tapfersten war und keine Tränen vergossen hat. Eine Gärtnerei übernimmt die Grabpflege. An Festtagen geht man pflichtbewusst auf den Friedhof, „weil die Nachbarn sonst denken, dass man den Toten nicht geliebt hat”. Nach drei Monaten beginnen die ersten Angehörigen zu fragen: „Was, du bist immer noch nicht darüber hinweg. Du solltest jetzt an dich denken und wieder zu leben beginnen.” Nach einer Umfrage sind die meisten Menschen der Ansicht, dass man sich mit dem Verlust spätestens zwei Wochen nach dem Tod abgefunden haben sollte. Die katholische Kirche liest noch ein paar Messen zu Ehren des Toten, dann „sollte man die Trauer gepackt haben“. Nach einem Jahr schwarzer Kleidung beginnt der Trauernde wieder bunte Kleidung zu tragen.
Der französische Historiker Aries untersuchte die Einstellung der europäischen Menschen gegenüber dem Tod. Bis 1950 erhielt sich nach seinen Ergebnissen die Vertrautheit des einzelnen dem Tod gegenüber. Sterben war eine Zeremonie im Kreis der Familie. Seit etwa vierzig Jahren herrscht dem Sterben eine Einstellung gegenüber, die Aries mit ‚der verbotene Tod’ bezeichnet. „Der Tod ist den Menschen weniger vertraut als früher, wird zum verbotenen Objekt. Man hält es heutzutage für ausgemacht, dass das Leben – zumindest dem Anschein nach – Glück bedeutet. Der Ort des Todes verschiebt sich, man stirbt nicht mehr zuhause sondern im Krankenhaus. In dieser Atmosphäre ist der Tod zu einem technischen Problem geworden. Hier werden Emotionen vermieden. Der augenfällige Ausdruck von Schmerz erweckt Widerwillen, die einsame und verschämte Trauer ist die einzige Flucht. Die neue Konvention erfordert es, dass verheimlicht wird, was früher zur Schau gestellt, sogar vorgetäuscht werden musste: das eigene Leid. Die Angehörigen der Toten sind gezwungen, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Sie bemühen sich, nichts von ihrer Trauer zu zeigen, weil sie niemanden enttäuschen wollen.”
Wie gehen andere Völker mit dem Tod um?
Wenn wir verschiedene Völker miteinander darin vergleichen, wie sie mit dem Tod umgehen, müssen wir dabei Folgendes berücksichtigen. Es gibt zum einen die Gefühle, körperlichen Reaktionen und Verhaltensweisen, die in jedem einzelnen Menschen nach einem Verlust ablaufen, und zum anderen Regeln und Sitten, wie die Gesellschaft sich den Umgang mit dem Tod vorstellt. Die Reaktionen des einzelnen hängen von seiner persönlichen Einstellung zum Tod ab, die jedoch meist von der gesellschaftlichen Einstellung zum Thema Tod beeinflusst ist. Im folgenden kann ich Ihnen lediglich einen Überblick über die Regeln geben, die andere Kulturen aufstellen, um dem einzelnen beim Tod seines Angehörigen zu helfen.
Beim Vergleich zu unseren Trauersitten kommt man zu den Schluss, dass in den Trauersitten der außereuropäischen Kulturen das, was bei jedem Menschen während der Trauerphase vor sich geht, zur Regel erhoben wird.
Bei den Trauersitten der außereuropäischen Kulturen steht das künstlich erzeugte und übersteigerte Trauerweinen im Vordergrund. Es wird übermäßig lange und laut, zum Teil regelmäßig zu bestimmten Tageszeiten geklagt und geweint. Man weint demonstrativ in der Öffentlichkeit und die Tränenspuren sollen deutlich sichtbar sein. In manchen Völkern lässt man die Tränen auf den Leichnam tropfen oder sammelt sie in einem Tuch, das man dem Grab beilegt. Nach Meili sind diese Tränenopfer ‚eine Demonstration vollzogener Trauer für den Toten’.
Fast allen Trauernden verschlägt es die Lust zu essen, bei den außereuropäischen Kulturen gibt es das Fastengebot während der Trauerzeit. Der Trauernde hat keine Energie, was sich dort in dem Verbot der Arbeit niederschlägt. Er empfindet keine Freude und hat kein Interesse an anderen Menschen, was sich bei den außereuropäischen Kulturen im strikten Redeverbot und in der Trauertracht zeigt. Er zieht sich in die Wohnung zurück, in der er tage- und wochenlang, ohne sich zu rühren, im Schmerz erstarrt, sitzt. Der Trauernde vernachlässigt sein Äusseres und zum Teil auch seine Hygiene, was sich in den außereuropäischen Trauersitten so zeigt, dass sich der Trauernde gezielt mit Asche und Schmutz bestreut oder das Gesicht beschmiert und keine bunte Kleidung trägt. Der Trauernde bei uns hat kein Interesse mehr an Besitz, bei den außereuropäischen Völkern wird der Besitz zum Teil verschenkt. Der Trauernde ist wütend auf sich und die Welt, was sich in außereuropäischen Kulturen in den Sitten, Kleider zu zerreißen, Haare auszureißen und sich Wunden beispielsweise durch Wangen Zerkratzen zuzufügen, widerspiegelt.
Nach Ende der Trauerzeit wird bei den außereuropäischen Völkern der Trauerschmutz oder das verkrustete Blut der selbst zugefügten Wunden abgewaschen, werden die lang gewordenen Fingernägel geschnitten oder das schmutzige Badewasser wird dem Verstorbenen als Trauerbeweis auf das Grab geleert.
In allen Kulturregionen lassen sich Trauerregeln zu folgenden Bereichen feststellen:
•Trauerweinen und Wehklagen, zum Beispiel:
Tränenopfer und Klagerufe, Klagefrauen, das Füllen eines Tränenkrügleins
•Körperliche Haltung des Trauernden, zum Beispiel:
hockend, hängende Schultern
•Verzichte und Verbote bezogen auf den Körper, zum Beispiel:
Fastengebot, Arbeitsverbot, Verbot bestimmter Speisen, Redeverbot, Schlafverbot, Verbot sexueller Handlungen, Verbot von Kontakten mit anderen Menschen
•Selbstaggression, zum Beispiel:
Verstümmelung von Fingern und Zähnen, Raufen der Haare, Tätowierung, Blutopfer, Raufen des Bartes
•Haarschur und Haaropfer, zum Beispiel:
ungeordnetes Haar, Wachsen oder Schneidenlassen der Haare oder des Bartes
•Behandlung des Körpers, zum Beispiel:
nackt oder barfuß gehen, sich mit Asche beschmutzen, auf der Erde wälzen, sich mit Trauerfarben bemalen
•Trauerkleidung, zum Beispiel:
Bedecken des Kopfes, Schleier, Trauerschmuck oder Schmuckverbot, Trauerkleidung, Ablegen der Trauerkleidung nach bestimmter Zeit
•nach außen gerichtete Aggression, zum Beispiel:
Zerreißen der Kleider, Zerstören der Gegenstände des Toten, Kampfspiele
•Zeremonien