Haus der Hüterin: Band 11 - Die Bedrohung. Andrea Habeney
„Das ist Geld, oder? Wie lange kann ich dafür bleiben?“
„Ist das echtes Gold?“, fragte Rylee erstaunt. „Ich habe keine Ahnung, was es wert ist, aber dafür könnt Ihr sicher sehr lange bleiben. Aber kommt doch erst einmal herein.“
Er folgte ihr zum Haus und sah sich immer wieder nach allen Seiten um.
„Darf ich Euren Namen wissen?“, fragte Rylee, als sie in die Halle traten. „Ist nur eine Formalität, ich muss ihn ins Gästebuch eintragen.“
Er neigte hoheitsvoll den Kopf. „Ich bin Kairos.“ Er sah sie erwartungsvoll an, als müsste sie den Namen kennen.
Rylee durchforstete ihr Gedächtnis, war sich jedoch sicher, den Namen noch nie gehört zu haben.
„Kommt“, bat sie, statt darauf einzugehen. „Ich zeige Euch Euer Zimmer. Um ein Uhr gibt es Mittagessen. Habt Ihr besondere Wünsche?“
Er murmelte etwas, das sich wie Brosa anhörte und schüttelte den Kopf.
„Wie bitte?“, hakte sie nach.
„Ich esse normales menschliches Essen“, erklärte er steif.
Sie ging voran bis in den ersten Stock und öffnete eine Tür zur Rechten. Auf ihre einladende Handbewegung trat er ein und sah sich mit kritischem Blick um. „Es ist sehr … einfach“, bemerkte er und sah sie an. „Wohnt man hier so?“
„Nun ja“, antwortete sie verlegen. „Ich leite das Haus noch nicht so lange. Es entwickelt sich noch und das ist mein bestes Zimmer.“ Sie machte sich im Geist eine Notiz, zumindest in einigen Zimmern für mehr Luxus zu sorgen.
Rylee ließ Kairos zurück und ging in ihr Büro, wo auch die technischen Anlagen, die Squeech bei seinem ersten Besuch eingerichtet hatte, untergebracht waren. Sie konnte mit ihrer Hilfe sowohl jedes Zimmer im Haus als auch die Umgebung über Kameras beobachten, verzichtete aber normalerweise aus Gründen der Diskretion darauf. Momentan hatte sie allerdings die Kameras, die die Umgebung des Hauses überwachten, aktiviert. Sie prüfte die Aufnahmen, fand aber keinen Hinweis auf die Bedrohung, die ihr nachts im Wald aufgelauert und sie mit ihrem Sirenengesang vom Haus weggelockt hatte. Auf dem letzten Stück der Aufnahme einer Kamera, die zur Wiese ausgerichtet war, konnte sie sehen, wie Kairos aus dem Wald trat und auf die Arbeiter zukam. Er lief unsicher, als wüsste er nicht, wohin er sollte, und blieb verloren mitten auf dem Baugelände stehen, bis Stephan auf ihn zuging. Nach einem kurzen Wortwechsel wies Stephan auf Securus Refugium, und Kairos wandte sich ab und kam zum Gartentor.
Den Rest des Nachmittags verbrachte Rylee mit Büroarbeiten und unterbrach die Arbeit nur, um zwei Stammgäste, Exo und Richard, die regelmäßig zum Handeln auf die Erde kamen, zu begrüßen.
Exo reiste unverzüglich weiter, um neue Weinsorten zu testen und einzukaufen, der winzige Richard traf sich wie immer im hinteren Teil des Gartens mit einer zwergischen Handelsdelegation. Rylee sah die geheimnisvollen Händler nur selten, aber wenn, erinnerten sie sie immer noch an Gartenzwerge.
Weit entfernt in einem alten Schloss in den Karpaten …
Vlad lief mit langen Schritten einen Gang entlang und passierte dabei mehrere reich mit Holzschnitzereien verzierte Türen. Den Steinboden bedeckten teuer aussehende Läufer.
Vor einer Tür weit hinten blieb er stehen. Er zögerte, als müsse er sich sammeln, dann straffte er die Schultern und klopfte.
Eine weibliche Stimme rief: „Ja bitte!“
Er öffnete die Tür so energisch, dass sie gegen die hölzerne Wandtäfelung schlug. Unbeirrt schritt er weiter ins Zimmer und steuerte auf das bodentiefe Fenster zu, vor dem ein bequem wirkender Sessel stand.
In ihm saß eine schlanke Frau mit langen, welligen, blonden Haaren. Sie sah fast aus wie ein Mensch, wären da nicht die senkrechten Pupillen und die Fangzähne gewesen, die ein wenig über die Unterlippe ragten.
Ihr Lächeln wirkte dadurch seltsam und gefährlich, wie das eines hungrigen Predators. All dies ging Vlad in Sekundenschnelle durch den Kopf. Er verbarg seinen Widerwillen und deutete eine Verbeugung an.
„Du hast mich rufen lassen?“, sagte er und sah sie abwartend an.
Sie lächelte ihr Reptilienlächeln und wies auf den leeren Sessel neben sich. „Wir haben seit unserer Hochzeit kaum Zeit miteinander verbracht. Sicher bist du sehr beschäftigt, aber ich langweile mich.“
„Das tut mir leid“, sagte er kühl. „Aber ich habe viel Arbeit und werde in nächster Zeit fast ununterbrochen auswärts sein. Du solltest dir eine Beschäftigung suchen. Vielleicht möchtest du deine Eltern besuchen?“ Es klang mehr wie ein Vorschlag als wie eine Frage. Ihr Gesicht verfinsterte sich.
„Meine Eltern werden es sicher nicht gutheißen, wenn du mich so vernachlässigst. Immerhin sind wir jung verheiratet.“
Er seufzte tief und setzte sich neben ihr auf den angebotenen Sessel.
„Ymani, was soll das? Du weiß so gut wie ich, dass unsere Heirat eine rein geschäftliche Basis hat. Oder muss ich dir den Absatz im Ehevertrag noch einmal zeigen?“
Sie schmollte, was bedingt durch ihre Fangzähne die Wirkung verfehlte und eher lächerlich aussah. „Aber das muss doch nicht heißen, dass sie rein geschäftlich bleibt. Was wir daraus machen, hängt ganz von uns ab. Und mein Vater wünscht sich nichts sehnlicher, als mich glücklich zu sehen. Wenn er mein Glück anzweifeln müsste, könnte es Konsequenzen für dein Volk haben.“
Es fiel Vlad nicht leicht, die unverhohlene Drohung im letzten Satz zu ignorieren.
„Wie dem auch sei“, sagte er und stand auf. „Ich muss jetzt weg. Ich werde in ein paar Tagen wieder hier sein. Dann können wir noch einmal darüber sprechen.“
Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, sprang Ymani auf und warf ihm wütend ein Glas nach, das an der Tür zerschellte. Dann ging sie zu einem Sideboard, nahm ein Telefon, das dort lag, und blaffte hinein: „Es soll sofort jemand herkommen und sauber machen. Und ich habe keine Lust, wieder so lange zu warten wie beim letzten Mal.“
Ärgerlich lief sie auf und ab, bis es leise an der Tür klopfte. Ein junges Mädchen trat schüchtern herein, den Blick zu Boden gesenkt, einen Eimer mit Putzzeug in der Hand.
„Mach das sauber!“, zischte Ymani.
Die junge Frau beeilte sich, dem Befehl Folge zu leisten. Dann fragte sie leise: „Kann ich sonst noch etwas für Euch tun, Herrin?“
„Verschwinde“, knurrte Ymani. „Und mach die Tür leise zu.“
Sie setzte sich an ihren Laptop und gab eine Adresse ein. Vlad saß auf dem Beifahrersitz eines großen schwarzen SUVs und brütete vor sich hin.
„Was ist los?“, fragte Michael, sein langjähriger Mitarbeiter und Freund, der das Fahrzeug steuerte. „Du siehst aus wie sieben Tage Regenwetter.“
„Ich habe diese alberne Redewendung noch nie leiden können“, antwortete Vlad missmutig.
„Trotz deiner jungen Ehe scheinst du nicht sonderlich glücklich zu sein“, sagte Michael vorsichtig.
Vlad brummte etwas, statt zu antworten.
Es blieb einige Zeit still im Wagen. Dann versuchte Michael es noch einmal.
„Ist es die junge Hüterin?“
Jetzt sah Vlad ihn direkt an. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und sein Blick warnend.
„Ich möchte nicht darüber sprechen.“
„Gut, ich verstehe das, aber …“ „Ruhe jetzt!“ Seine Stimme klang eisig und Michael verstummte.
Das Abendessen wurde in der Küche serviert, wie meist, wenn keine große Gesellschaft zusammenkam. Kairos war neben Percival, der inzwischen fast zum Inventar gehörte, der einzige Gast, der am Essen teilnahm. Hoheitsvoll kam er pünktlich um neunzehn Uhr in die Küche geschritten und betrachtete den gedeckten Tisch.