Haus der Hüterin: Band 11 - Die Bedrohung. Andrea Habeney
warf ihr einen scharfen Blick zu. „Wenn du ihm nicht glaubst, warum bist du dann hier?“
„Hier gibt es doch keine Waldgeister“, sagte sie abfällig. Dann senkte sie die Stimme und sah sich nach allen Seiten um. „Die Lichtung gehört dem Teufel“, flüsterte sie.
Rylee betrachtete sie. Natürlich hatte sie schon von Teenagern gehört, die den Teufel anbeteten. Sie glaubte nicht, dass ein ernsthafter Wunsch nach Kontakt mit dem Satan dahinterstand. Vermutlich war es eher der Reiz des Verbotenen, der Grusel, der ihnen einen Kick verschaffte. Doch die Kids hier wirkten anders. Sie waren nicht angezogen wie Gruftis, in Schwarz und mit Totenkopfohrringen, nicht mit hellrosa Jeans und Sneakers.
„Ich glaube, wir sollten uns mit eurer Oma unterhalten“, stellte Stephan fest und sah Rylee fragend an. „Kommst du mit oder musst du zurück zum Haus?“
„Maj kommt gut zurecht“, antwortete Rylee, von Neugier getrieben. „Mich interessiert sehr, was hinter der Geschichte steckt.“
Stephan wandte sich den Kindern zu. „Wenn ihr mir sagt, wo genau eure Großmutter wohnt, könnt ihr von mir aus eures Weges gehen.“
Unter wütenden Blicken des Mädchens sagte der Junge gehorsam die Adresse auf. Nachdem Stephan sie losgelassen hatte, verschwanden die beiden wie der Blitz im Wald. Stephan und Rylee untersuchten akribisch die Lichtung, fanden jedoch außer dem Steinkreis nichts Außergewöhnliches. Es sah nicht aus, als würden viele Menschen hierher kommen. Das Gras war nur an wenigen Stellen niedergedrückt und obwohl die Erde an manchen Stellen feucht und lehmig war, hatten sich keine Fußspuren dauerhaft eingegraben.
„Ich frage mich, wieso die Lichtung nicht zuwächst“, sagte Rylee nachdenklich. „Sie sieht weitgehend unberührt aus, und müsste eigentlich im Laufe der Zeit zuwuchern. Aber die Büsche scheinen nicht über den Rand der Lichtung zu wachsen. Sie ist fast kreisrund, wie abgeschnitten. Als hätte sie jemand bewusst so angelegt.“
Stephan war einige Schritte am Übergang von der Lichtung zum Wald entlang gelaufen. „Ich spüre Magie, aber von einer Art, die ich nicht kenne. Sie fühlt sich für mich weder gut noch böse an. Ich glaube nicht, dass wir hier noch mehr herausfinden werden. Lass uns zu der Großmutter der beiden Kinder fahren.“
Schweigend liefen Rylee und Stephan zurück zum Haus und stiegen in seinen Wagen. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie ins Dorf gefahren und dort auf die Straße nach Osten abgebogen waren. Kurz vor Sprikewoog zweigte ein schmaler Weg ab, der bald in einen unbefestigten Feldweg überging. Vor einem winzigen windschiefen Häuschen hielten sie an und stiegen aus. Auf der wackeligen Veranda saß eine weißhaarige kleine Frau in einem Schaukelstuhl und rauchte Pfeife. Sie hob die freie Hand zum Gruß, nahm noch einen Zug und begrüßte sie dann mit kratziger Stimme. „Ich wusste, dass ihr mich eines Tages besuchen würdet.“
Rylee und Stephan sahen sich an. Dann traten sie näher an die wackelig wirkende Veranda. „Ihr wisst, wer wir sind?“, fragte Rylee.
Die Alte wies mit der Pfeife auf Stephan. „Den kenne ich nicht, aber Ihr seid das Mädchen, das das verwunschene Haus bewohnt.“
Rylee sah noch einmal unsicher zu Stephan. Dann blickte sie wieder zu der Frau. „Was meint Ihr mit verwunschen?“
Ein Kichern war die Antwort. „Stell dich nicht dumm, Mädchen! Einer alten Frau wie mir kannst du nichts vormachen. Ich kenne das Haus seit Langem. Ja, ich weiß, dass es für andere normal aussieht, wenn sie es überhaupt sehen.“ Sie machte eine Pause und zog an der Pfeife. Rylee bemerkte, dass ihr keinerlei Rauch entströmte. Als hätte die Alte ihre Gedanken erraten, sagte sie: „Ich habe es mir abgewöhnt. Aber es passt einfach zum Image, findest du nicht?“ Bevor Rylee etwas sagen konnte, sprach sie weiter. „Im Dorf halten mich alle für eine Hexe!“ Sie kicherte wieder. „Was ich sagen wollte: Ich wusste nie, was es mit dem Haus auf sich hatte, aber ich wusste immer, dass es verzaubert ist. Als ich viel jünger war …“ Sie sah in die Ferne. „Das muss so Anfang des vorigen Jahrhunderts gewesen sein. Ich habe einmal versucht, es zu betreten.“ Sie rieb sich abwesend den Arm. „Es hat mich nicht hereingelassen.“
Dann sah sie Rylee direkt an. Ihr Blick schien unmittelbar in ihr Innerstes vorzudringen. „Was wollt ihr von der alten Theklia?“
Rylee hatte vor nicht allzu langer Zeit einen ganzen Hexenalkoven zu Gast gehabt. In dieser Zeit war die Freundschaft zu Evanora entstanden. War diese Hexe hier echt oder nur eine alte Frau, der es Spaß machte, sich mysteriös zu geben?
„Seid Ihr denn eine echte Hexe?“, fragte Rylee direkt und erntete abermals ein Kichern.
„Du weiß, wovon du sprichst, Kind. Aber sagt mir zuerst, was ihr hier wollt.“
Stephan übernahm die Antwort. „Wir sind im Wald auf Eure Enkel gestoßen und auf eine merkwürdige Lichtung. Sie waren wohl dort, um etwas zu beschwören, sind sich allerdings uneins, was. Manuel geht es um hilfreiche Waldgeister, während Milla mehr am Teufel interessiert ist.“
Die Alte wurde schlagartig ernst und fluchte. „Ich habe ihnen verboten, die Lichtung zu besuchen. Niemand weiß, was dort alles hervorkommt.“
„Nun“, sagte Stephan, „das mit dem Verbieten hat offensichtlich nicht geklappt. Sie haben Opfergaben im Steinkreis deponiert. Kurz darauf ist ein Mann in der Nähe von Rylees Haus erschienen, der nichts außer seinem Namen wusste. Er kam ganz offensichtlich von der Lichtung. Was wisst Ihr darüber?“
„Wovon sprecht Ihr?“, fragte sie und gab sich erstaunt. „Ich war seit Jahrzehnten nicht an diesem Ort. Früher erzählte man, dort sei die Grenze zwischen unserer Realität und anderen Welten äußerst dünn und könnte durchbrochen werden. Aber das Wissen darum ist lange vergessen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte nicht mit meinen Urenkeln darüber sprechen sollen. Ich hätte mir denken können, dass meine Warnung sie erst recht dazu bewegt, dorthin zu gehen.“
„Kann es sein“, sagte Rylee langsam, „dass ihre Opfergaben etwas oder jemanden herbei gerufen haben?“
Die Alte sah einen Moment nachdenklich in den Wald. „Ich halte es für extrem unwahrscheinlich. Allerdings … wenn sie zufällig die richtigen Kräuter verwendet haben …“ Sie zögerte, bevor sie weitersprach. „Und auf der anderen Seite jemand oder etwas gewartet hat … sich zurückgesehnt hat … dann …“ Sie sah Rylee in die Augen. „Dann könnte etwas herübergekommen sein. Lasst uns hoffen, dass es etwas Gutes ist und nichts Dunkles.“
Mehr war aus der Alten nicht herauszubekommen. Obwohl sowohl Stephan als auch Rylee sie mit weiteren Fragen bombardierten, um Hilfe baten und an ihr Gewissen appellierten, blieb sie stumm, schüttelte nur den Kopf und schaukelte, an ihrer Pfeife kauend, vor sich hin.
Erst als sie sich zum Gehen gewandt hatten und schon im Begriff waren, ins Auto zu steigen, hörte Rylee hinter sich eine Stimme, die völlig anders klang, als die der alten Frau. „Hüte dich vor dem Bösen im Wald!“, sagte sie und der merkwürdige Hall ließ Rylee erschaudern. Sie schoss herum und sah, dass die Alte kerzengerade in ihrem Stuhl saß, die Augen verdreht und schneeweiß. „Hüte dich!“, sagte sie noch einmal, dann sackte sie in sich zusammen. Rylee wollte zu ihr eilen, hörte jedoch im nächsten Moment ein sanftes Schnarchen. Sie zögerte, drehte sich dann zum Wagen um und stieg ein.
Stephan saß am Steuer und sah sie fragend an. „Was war?“, erkundigte er sich.
Rylee antwortete erstaunt. „Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?“
Er runzelte die Stirn. „Gesagt? Sie hat gar nichts gesagt.“
Rylee öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder und ließ sich im Sitz zurücksinken. Ihr war eiskalt.
Beide schwiegen die Fahrt über. Als sie sich Securus Refugium näherten, beugte Rylee sich ruckartig vor. „Das gibt es doch nicht“, rief sie wütend.
„Der Blutsauger“, stellte Stephan fest und wirkte überrascht.
„Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen?“, sagte sie und öffnete die Autotür, bevor Stephan den Wagen richtig zum Stehen gebracht