Haus der Hüterin: Band 11 - Die Bedrohung. Andrea Habeney
sie begleiten wollen, sich aber heute Morgen schwach und schwindelig gefühlt. So waren sie alleine losgezogen, unter Zuhilfenahme einer vagen Richtungsangabe und Stephans Verbindung mit der sie umgebenden Natur.
Die Lichtung lag tiefer im Wald, als sie angenommen hatte. Eine Zeit lang waren Stephan und sie einem schmalen Pfad gefolgt, dann hatten sie diesen verlassen und sich ihren weiteren Weg durch das lichte Unterholz gebahnt.
Endlich traten sie aus dem Dunkel des Waldes auf eine kreisrunde grasbewachsene Lichtung.
„Das muss sie sein“, sagte Stephan und schloss die Augen. „Irgendetwas ist hier anders als in der Umgebung.“
„Da ist eine Art Steinkreis“, sagte Rylee und deutete in die Mitte des Areals. Sie ging vorsichtig näher und blieb am Rande eines angedeuteten Kreises aus unregelmäßigen, etwa kopfgroßen Steinen stehen. Das Gras war hier kürzer, wirkte aber, als wäre es ausgerissen, statt maschinell geschnitten worden. In der Mitte des Kreises befand sich ein etwas größerer, flacher Stein, auf dem einige aus der Entfernung unidentifizierbare Gebilde lagen.
Stephan trat näher heran und nickte. „Das ist es, was ich eben gespürt habe. Eine von Menschen gemachte Stätte. Nur … wozu dient sie?“
Rylee sah sich beklommen um. Der Wald schien ihr auf einmal düster, und sie dachte an das Böse, das erst kürzlich versucht hatte, sie tiefer hinein zu locken. Ihre Hand umklammerte den Hüterinnenschlüssel in ihrer Tasche. Sie wünschte, Boh wäre jetzt hier, schalt sich dann jedoch. Stephan war bei ihr und wusste sich zu verteidigen. „Sind das Opfergaben?“, fragte sie und trat widerwillig über den äußeren Kreis. „Hoffentlich keine toten Tiere.“
Stephan schüttelte den Kopf. „Ich fühle hier keine dunkle Magie.“ Er bückte sich und betrachtete die Gegenstände auf dem Stein aus der Nähe. „Zusammengebundene Pflanzen, Nüsse und Früchte. Seltsam, dass sie noch nicht von Tieren weggeholt wurden. Vermutlich liegt tatsächlich eine Art Schutz darüber. Fühlst du etwas?“
„Außer einer Gänsehaut gar nichts. Aber das geht mir momentan im Wald immer so.“
Er richtete sich auf. „Aber was hat das mit Kairos zu tun? Wieso ist er hier auf der Lichtung ohne Erinnerung an sein vorheriges Dasein erwacht?“
Rylee sah sich ratlos um. „Vielleicht wurde hier mit Drogen experimentiert, und er erinnert sich deshalb an nichts.“
„Wenn ja, warum sollten sie ihn hier alleine zurücklassen?“
„Keine Ahn …“, begann Rylee und fuhr dann herum. „Was war das?“
Auch Stephan hatte das Geräusch eines knackenden Zweiges gehört und starrte in den Wald. „Jemand ist da draußen“, flüsterte er.
„Ein Tier vielleicht?“, fragte Rylee hoffnungsvoll, doch er schüttelte den Kopf.
Bevor Rylee ihn bitten konnte, die Lichtung zu verlassen und zum Haus zurückzugehen, sank Stephan mit einer geschmeidigen Bewegung in die Hocke und schloss die Augen. Eine geisterhafte Gestalt in Form eines grauen Wolfes löste sich aus seinem Körper und rannte Richtung Wald. Rylee hatte schon von der Geistergestalt der Schamanen gehört, sie aber noch nie in dieser Form erblickt. Staunend sah sie von Stephan, der unbeweglich verharrte, zu der davon rennenden Gestalt.
Nach etwa einer Minute, in der sie sich kaum zu regen wagte, um Stephan nicht abzulenken, kam der Geisterwolf aus dem Wald geschossen, rannte auf den Schamanen zu und verschmolz wieder mit ihm.
Stephan schüttelte sich, als würde er erwachen, öffnete die Augen und erhob sich mit einer fließenden Bewegung.
„Zwei Jugendliche verstecken sich da hinten in einem Gebüsch und beobachten uns“, sagte er leise.
„Vermutlich haben sie dich nicht gesehen, sonst wären sie wohl panisch davon gerannt“, sagte Rylee trocken. „Ich nehme an, Wölfe sind hier nicht allzu häufig und schon gar nicht durchsichtige.“
Er lächelte. „Das stimmt. Lass uns sehen, warum sie sich verstecken. Ich spüre, dass sie etwas mit dem, was wir hier gefunden haben, zu tun haben. Ich gehe links herum, du rechts.“
Rylee nickte zweifelnd. Sie hielt es für keine gute Idee, sich zu trennen, war jedoch neugierig, was das alles bedeutete.
Sie wandte sich nach rechts und stieß am Rand der Lichtung auf einen kleinen Pfad, der erst erkennbar war, als sie direkt vor ihm stand. Er war fast zugewachsen, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er in letzter Zeit benutzt worden war. Ein kleiner Zweig war abgeknickt, und an einer Stelle war die Andeutung eines Fußabdrucks zu erkennen.
Sie folgte dem Pfad einige Meter in den Wald hinein, blieb dann stehen und lauschte. Sie nahm jedoch nichts wahr außer Vogelgezwitscher und dem Summen von Insekten. Plötzlich hörte sie links von sich ein lautes Rascheln und einen unterdrückten Schrei. Sie bog vom Pfad ab und bahnte sich einen Weg durch die Büsche.
„Ich habe sie!“, brüllte Stephan keine Sekunde später.
Sie fand ihn nur einige Meter weiter neben einem Haufen Findlinge. Seine rechte Hand hielt das Handgelenk eines mageren, etwa neunjährigen Jungen fest, die Linke den Oberarm eines noch magereren, höchstens dreizehnjährigen Mädchens. Beide trugen schmutzige Jeans und T-Shirts, die ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatten. Die des Mädchens waren rosa, die des Jungen hellblau. Obwohl einige Jahre zwischen ihnen zu liegen schienen, sahen sie sich so ähnlich, dass es sich bei ihnen um Geschwister handeln musste.
„Lassen Sie uns los!“, rief das Mädchen wütend und versuchte, ihren Arm aus Stephans Griff zu befreien. Ihre mausbraunen Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht.
„Ganz ruhig“, sagte er und hielt sie mit Leichtigkeit fest. „Wir möchten nur wissen, was ihr hier macht und warum ihr euch vor uns versteckt.“
„Das geht Sie gar nichts an!“ Die Stimme des Mädchens war schrill. „Der Wald gehört Ihnen nicht!“
Stephan lächelte breit. „Das siehst du falsch. Ich habe gar nichts dagegen, dass ihr hier seid. Ich möchte aber wissen, was es mit der Lichtung auf sich hat.“ Er hielt sie weiter fest.
Sie starrte ihn mit großen Augen an. „Der Wald gehört Ihnen?“
„Aber ja. Soll ich dir die Besitzurkunde zeigen?“
Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. Ihr junger Begleiter wirkte so eingeschüchtert, dass Rylee Angst hatte, er würde in Ohnmacht fallen.
„Wir … wir haben nichts gemacht“, stieß er schließlich hervor.
Rylee hatte Mitleid mit den beiden traurigen Gestalten. „Sagt zuerst einmal, wie ihr heißt.“
„Ich bin Manuel“, sagte der Kleine und wies auf das Mädchen „Das ist meine große Schwester Milla.“ Sie funkelte ihn wütend an.
Rylee ignorierte sie und wandte sich an Manuel. „Wo wohnt ihr? Im Dorf?“
Der Junge drehte sich um und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. „Wir kommen aus Sprikewoog.“
Stephan fragte erstaunt. „Aber das liegt mindestens fünfzehn Kilometer in östlicher Richtung.“
„Na und?“, antwortete das Mädchen schnippisch. „Wir sind mit dem Fahrrad bis zum Wald gefahren. Da wohnt unsere Oma. Man läuft von dort aus nur etwa eine halbe Stunde bis hierher. Könnten Sie uns jetzt bitte endlich loslassen?“
„Versprecht ihr, nicht wegzulaufen?“
Während der Junge heftig den Kopf hob und senkte, nickte sie widerwillig. Stephan löste seinen Griff, ließ sie aber nicht aus den Augen. „Also, was ist an der Lichtung so interessant, dass ihr den weiten Weg auf euch genommen habt?“
„Sie ist verzaubert!“, stieß der Junge mit großen Augen hervor.
Rylee sah Stephan überrascht an.
„Was meinst du mit verzaubert?“, wandte er sich an den Jungen.
„Unsere Oma sagt, die Waldgeister