Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein

Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis - Max Bernhard Weinstein


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des Landes sich erklärt, das die Eskimo bewohnen, und Carus Sternes (Ernst Krauses) Warnung durchaus bestätigt, Mythen ohne Rücksicht auf die Lebensverhältnisse zu erklären. Eine entsprechende Umkehrung hat man bei den früheren Negersklaven in Amerika beobachtet. Während der freie Neger in Afrika das frohe Jenseits im Westen sucht, besteht für den amerikanischen Negersklaven dieses Jenseits im Osten, in Afrika, und viele haben sich bei zu drückendem Joche getötet, um nach Afrika zurückzugelangen und dort frei als Seelen zu leben (S. 43). Es läßt sich nicht leugnen, daß manche Naturvölker strenge Bestrafung der Bösen im Jenseits oder auf dem Wege dahin allerdings annehmen, und Belohnung der Guten. Aber sie definieren Gut und Böse nach ihrer Art. Und das kommt, wenn es wohl geht, auf tapfer und feige heraus, wie bei den Germanen. Meist steht es mit dem „Gut“ nach unseren Begriffen sehr übel. Dazu rechne man noch die selbstverständliche Bevorzugung der Vornehmen auch im Jenseits, wovon eine Spur auch im Homer noch erhalten ist, wo Achill im Hades, wenn auch Schatten, doch Übergeordneter der Schatten ist, um Paradies und Hölle der Naturmenschen von denen der Kulturmenschen erheblich zu scheiden. Doch kommt es gedanklich darauf nicht an; die Idee entscheidet hier, nicht ihre Übereinstimmung mit dem, was wir meinen.

      Viel weniger als um das Schicksal der Seele nach dem Tode ist der Naturmensch bekümmert um ihr Weilen vor dem Leben. Was mit der Seelenwanderung zusammenhängt, werden wir später besprechen, da eine solche bei den Naturvölkern nur so weit vorhanden ist, als die Seelen an sich beliebig sich von einem Körper in einen anderen begeben können. Aber selbst das genügt schon, um zu überzeugen, daß sie schon früher auf Erden gewesen sind und nun zurückgekehrt seien. Darum erzählen viele Sagen von Menschen, die im Jenseits geweilt haben, und dann wieder zur Erde gelangt, eine vollständige Beschreibung des Jenseits geben konnten. Manche solcher Beschreibungen verlaufen wie die von Orpheus und Eurydike; so eine sehr anmutige Geschichte von einem Indianer, der, da seine Geliebte starb, ihr in das Jenseits folgte, aber durch den großen Geist wieder auf die Erde geschickt wurde. Und irgendwo habe ich gelesen, daß es einem Europäer, der ein Negermädchen zur Frau nahm, auf keine Weise gelang, ihr auszureden, sie sei nicht schon früher unter gleichem Namen und unter gleichen Verhältnissen auf der Erde gewesen. Das ist nicht die bekannte Metempsychose, sondern eine dem Naturmenschen mehr passende Resurrektion. Indessen kommen die Seelen auch in anderer Weise zur Erde. Und zwar nach dem, was Frobenius das Gesetz der Umkehrung nennt. Dieselben Mittel, die die Seele ins Jenseits befördern, bringen sie auch auf die Erde. Also sind namentlich Vögel zugleich Seelenbringer. Bei den Tonganern und Samoanern bringt Tuli als Vogel die Seelen in die Menschenkörper, ja sogar in Würmer. Die Neuseeländer erzählen, daß einst ein gewaltiger Vogel sich auf das Meer senkte und dabei ein Ei fallen ließ; aus dem kamen „ein alter Mann und eine alte Frau, ein Knabe und ein Mägdlein mit Hund und Schwein in einem alten Kanoe hervor und landeten an der Küste Neuseelands.“ Soviel lebende Kraft wohnt den Vögeln inne, daß aus einem Vogel die ganze Erde samt allem Lebenden auf ihr hergestellt wurde, erzählen Malaien auf Sumatra. Hierher gehört auch eine Sage bei den Australiern, daß die Sonne ursprünglich ein Emuei gewesen sei. Ein kleiner Vogel richtete es her und warf es in die Luft, da wurde es hell. Darum dienen Vögel und ihr Blut zu Opfern und symbolischen Handlungen, wo es sich um Belebung und Befruchtung handelt, so daß sogar Fetischbilder, durch Versenken eines Huhnes in ihr Inneres, oder durch Bestreichen mit Vogelblut — man erinnere sich, daß im Blut die Seele wohnt — oder selbst durch Umwinden mit Vogelfedern belebt werden. Brautleute werden in Afrika mit Vogelblut bestrichen, um sie fruchtbar zu machen, und in Felder werden Vogeleier versenkt, daß sie möglichst ertragfähig werden. Und an unseren Freund Storch darf nur erinnert werden.

       Religiöse Welt- und Lebenanschauungen der Kulturvölker.

       Inhaltsverzeichnis

      15. Die Kulturvölker als Naturvölker.

      Daß die gegenwärtigen und vergangenen Kulturvölker einst auf dem Standpunkte der Naturvölker sich befunden haben, kann kaum einem Zweifel unterliegen. Freilich treten uns die meisten Kulturvölker, sobald ihre Geschichte beginnt, schon wie kulturfertig entgegen. Es gehört zu den großen Rätseln der Menschenentwicklung, daß zum Beispiel die Ägypter mit einem Schlage als das Volk dastehen, als welches sie dann mehrere Jahrtausende die Geschichte kennt. Brugsch hat dieses für ihr ganzes Religions- und Mythensystem nachgewiesen. Wir wissen es in gleicher Weise für ihre Kunstfertigkeit, für staatliches und soziales Leben. Und in dem Moment, da für uns die erste Hieroglyphe geschrieben ist, steht sie bis auf Geringfügigkeiten, die nur die Ausführung betreffen, vollendet da. Wie das Volk die Hieroglyphe gelernt hat, wie seine Bauten, Einmeißelungen, Malereien, Einrichtungen des Staates und des Lebens, Meinungen über Gott und Welt begonnen und sich entwickelt haben, ist uns nicht bekannt. Wir müssen annehmen, daß die Ägypter Tausende von Jahren gebraucht haben, ehe sie es zu der Stufe der Kultur gebracht haben, von der aus die ersten und die letzten Kundgebungen in fast gleicher Weise sprechen. Warum haben wir aus diesen Tausenden von Jahren gar keine Mitteilung? Wir wissen es nicht. Das Volk steht fertig da, als wenn es fertig plötzlich geschaffen wäre. Es könnte in dem Moment, da der erste König herrschte, das erste Bauwerk errichtet wurde, eben eingewandert sein. Davon aber wird nichts erzählt; im Gegenteil, wir haben den Eindruck, als wenn Ägypten immer von Ägyptern bewohnt gewesen sei, und finden auch sonst nirgends eine Spur, daß diese etwa früher in anderen Ländern geweilt hätten. Und doch wissen wir aus prähistorischen Funden auch in Ägypten, daß in grauer Zeit, vielleicht vor zehn- oder zwanzigtausend Jahren, Menschen auf sehr niedriger Kulturstufe im Niltale gelebt haben. Sind es die ältesten Ägypter? Ähnlich geht es uns mit den Babyloniern, Phöniziern, Hebräern, ja selbst mit den Griechen nach den Ergebnissen der Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte. Es ist, als wenn die Menschheit vor etwa fünf- bis sechstausend Jahren auf einmal auf die Idee gekommen wäre, zu schreiben und Denkmäler zu hinterlassen, so fest errichtet, daß sie sich bis auf uns erhalten konnten. Ist das die Erfindung eines Mannes bzw. mehrerer erleuchteter Männer? Oder wie sollen wir uns das sonst erklären? Max Müller bringt einmal als Beweis dafür, daß die Schriften des Alten Testaments nicht in sehr früher Zeit verfaßt sein können, die Tatsache bei, daß eine der ältesten Inschriften in semitischer Sprache, die wir besitzen, die bekannte des Edomiterkönigs Mesa, nur etwa in das Jahr 900 v. Chr. hinaufreicht. Aber wenn ein König solche Inschriften schon anfertigt, muß er doch voraussetzen, daß man sie allgemein auch zu lesen versteht, muß die Schreibkunst doch schon fast Gemeingut geworden sein. Und wie viele Jahrhunderte gehören dazu, nach Erfindung der Schreibkunst! Aus unserer eigenen Erfahrung müssen wir sagen, mindestens zehn, wenn nicht noch mehr.

      Hiernach bleibt uns allerdings nichts übrig als anzunehmen, daß die Kulturen solcher Völker weit über die geschichtliche Zeit hinaus vorhanden waren, wenn wir auch keine Kunde von ihnen aus dieser extrapolierten Zeit besitzen und auch nicht anzugeben vermögen, warum wir sie nicht besitzen. Die Entwicklung der Menschheit ist mit einer Formel zweifellos nicht abgetan. Einzelne stören offenbar den Gang der Formel, und wohin dieser Gang Menschen erst in Jahrhunderten oder Jahrtausenden bringen würde, dahin versetzt sie überzeugend oder gewaltsam eben ein Einzelner. Dürfen wir aber auch nur im Durchschnitt sprechen, so ist doch gleichwohl sicher, daß rohere Zustände und selbst ganz rohe bestanden haben müssen, falls wir nicht jeden Gedanken einer Entwicklung der Menschheit aufgeben wollen. Denn damit ein einzelner erfolgreich wirken könne, dazu gehört schon eine gewisse Höhe der Kultur. Und die Zeit dazu haben wir, wenn wir bedenken, daß die Menschheit als solche, selbst wenn sie mit den jetzigen tiefststehenden Wilden verglichen wird, schon seit mindestens zwanzigtausend Jahren, wahrscheinlich sogar noch seit sehr viel längerer Zeit besteht, da man bereits dem tertiären Menschen auf der Spur ist. Auch kennen wir ja Völker, die sich zu Kulturvölkern entwickelt haben, wie Germanen, Polen, Littauer usf.

      Eine Grenze zwischen dem Naturmenschen und dem Kulturmenschen aufzustellen, sind wir nicht in der Lage; die Naturperiode fließt wie ein mehr und mehr an Fülle verlierender Strom in die Kulturperiode hinein. Und man darf selbst sagen, daß dieser Strom unter eine gewisse Fülle überhaupt nicht hinabsinkt, ja auch an Fülle wieder anwächst, nachdem er schon stark


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