Eigenständige Kinder – Entspannte Eltern. Damon Korb

Eigenständige Kinder – Entspannte Eltern - Damon Korb


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nur anhand von typischen Mustern mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit schätzen.

      Durch Studien zu Gehirnverletzungen junger Kinder wissen wir, dass man mit dem Wort „typisch“ aufpassen muss, denn Gehirne sind plastisch. Das heißt, Gehirne können sich in ihrer Struktur verändern und anpassen. Nehmen wir als Beispiel ein Kind, das seinen Arm aufgrund eines Schlaganfalls nicht mehr heben kann. Dann ist es möglich, dass das Gehirn durch eine geeignete Physiotherapie eine „Alternativverbindung“ für diese Funktion kreiert. Das Gehirn ist zu strukturellen Veränderungen fähig! Folglich ist es schwierig, eine Diagnose mit von „typischen“ Werten abhängiger Computer-Technik zu stellen. Dennoch wird Technologie für zukünftige Forschung und Entdeckung eine große Rolle spielen. Ihr Kinderarzt kann Ihnen sicher die Vor- und Nachteile neuer Diagnose-Techniken erklären.

      Exekutive Funktionen

      Die exekutiven Funktionen werden vor allem im präfrontalen Cortex gesteuert; eine Region, die etwa 5 cm von der Vorder- und Oberseite des Gehirns angesiedelt ist. Das Zentrum der Organisation im Gehirn wird auch „Zentrum der exekutiven Funktionen“ genannt. Es steuert die Selbstkontrolle, räumliche und sequenzielle Verarbeitung, Gedankenwechsel und gleichzeitige Verarbeitung. „Sequenzielle Verarbeitung“ beschreibt die Verarbeitung von Reihenfolge und Zeit. „Räumliche Verarbeitung“ bezieht sich auf die räumliche Lage. Durch Gedankenwechsel kann das Gehirn sanft von einem Gedanken auf einen anderen umspringen. Das Prinzip der gleichzeitigen Verarbeitung ist jedoch komplizierter.

      Gleichzeitige Verarbeitung bezieht sich auf die Fähigkeit des Gehirns, über mehr als eine Sache auf einmal nachzudenken. Diese Veranlagung wird häufig auch Arbeitsspeicher genannt. Betrachten Sie den Arbeitsspeicher als große Tafel, auf der viele Informationen gleichzeitig stehen. Auf einer Tafel ist es beispielsweise viel einfacher, eine mathematische Rechnung durchzuführen, als sich die ganzen Rechenschritte zu merken. Das Gleiche gilt für das Merken einer Telefonnummer. Wenn der Arbeitsspeicher intakt ist, kann das Gehirn mehrere Gedanken gleichzeitig verarbeiten.

      Wie lässt sich das auf Organisation anwenden? Nun, die meisten organisierten Gedanken werden durch den Arbeitsspeicher verarbeitet. Er ist wie der Hauptbahnhof für jegliche Organisation im Gehirn. Planen hängt mit ihm zusammen. Schließlich kann ein Kind so über mehrere Schritte gleichzeitig nachdenken – vorausdenken. Der Arbeitsspeicher ist ebenso für einen Perspektivenwechsel notwendig. Wenn ein Kind zum Beispiel etwas mit seinem Freund teilt, denkt das Kind nicht nur über sich nach, sondern beachtet auch die Perspektive seines Spielkameraden. Der Arbeitsspeicher eines Kindes funktioniert wie ein Dropdown-Menü (Liste von passenden Optionen) eines Computers.

      Jüngere Kinder haben weniger Kontrolle über ihren Arbeitsspeicher. Folglich zeigen sie mehr unorganisiertes Denken. Häufig reagieren junge Kinder, manchmal auch ältere, in der gleichen, unangepassten Weise. Sie haben oftmals einen Verneinungsreflex. Die Mutter eines Patienten erklärte mir, dass ihr Sohn auf alles mit „Nein“ antwortet, unabhängig von der Frage. Egal ob sie „Bring den Müll bitte raus“ fordert, oder „Lass’ uns ins Kino gehen“ anbietet, seine erste Antwort ist immer „Nein“. Es spielt keine Rolle, wie sehr er das Kino mag – selbst wenn sein Lieblingsfilm kommt, seine Antwort lautet „Nein“. Kinder mit Verneinungsreflex haben häufig ein fehlerhaftes Dropdown-Menü. Diese Optionslisten sind wie Computer organisiert. Wenn ein organisiertes Mädchen beispielsweise mit einem Dilemma wie Freizeit konfrontiert ist, öffnet sich dieses fiktive Dropdown-Menü und ihr fallen zahlreiche Möglichkeiten ein. Wenn dieses Dropdown-Menü jedoch nicht direkt erscheint, entscheidet sich ein unorganisiertes Kind häufig für eine Standard-Beschäftigung, welche heutzutage häufig ein Computerspiel oder ein soziales Netzwerk ist. Der Verneinungsreflex tritt häufig bei 2-jährigen Kindern auf, denn Zweijährige sind natürlich per Definition noch nicht organisiert. Die Antwort ist meistens „Nein“. Wenn dieses Problem jedoch auch noch mit über 5 Jahren auftritt, sollten Sie es mit Ihrem Kinderarzt besprechen.Wenn Kinder älter werden, wird ein fehlendes direktes Dropdown-Menü mit diversen Optionen manchmal als Langeweile interpretiert. Kinder erscheinen häufig einfach deswegen gelangweilt, weil sie nicht an eine Vielzahl von Optionen denken können.

      Die kognitiven, exekutiven Funktionen, wie gleichzeitige Verarbeitung, räumliche und sequenzielle Verarbeitung sowie Gedankenwechsel, ermöglichen die folgenden komplizierten Gedankengänge und mehr:

      ■Einprägung von Mustern

      ■Vorausschauendes Planen

      ■Flexibles Denken (Berücksichtigen und Entwerfen verschiedener Antworten oder Verhaltensoptionen)

      ■Einfühlungsvermögen zeigen oder das Gesamtbild begreifen

      ■Lokalisierung der eigenen Gegenstände

      ■Reibungsloser Übergang von einer Aufgabe zur nächsten

      ■Bewegungskoordination beim Sport (Bewegungsablauf)

      ■Effektive Kommunikation

      ■Perspektivenwechsel

      Diese organisatorischen Fähigkeiten werden zunehmend wichtig, wenn Kinder in das junge Erwachsenenalter kommen. Zum Glück entspricht die Gehirnentwicklung meistens den erhöhten Anforderungen. Wegen sich ändernder Anforderungen können Schüler auf einem Niveau gut abschneiden und auf einem anderen plötzlich Schwierigkeiten haben. Das sehen wir häufig bei weiterführenden Schulen. Schüler, die in der Grundschule hervorragend waren, sind teilweise noch nicht bereit für die organisatorischen Erwartungen der weiterführenden Schule. Wenn man über Organisation spricht, ist es wichtig, auch auf die zu erwartende Entwicklung der organisatorischen Fähigkeiten einzugehen. Die folgenden Kapitel zeigen die zu erwartende Entwicklung dieser Fähigkeiten. Bevor Sie jedoch weiterlesen, denken Sie daran, dass es bereits mit fünf Jahren zu einer erheblichen Variabilität kommt. Folglich sollten Sie herausfinden, wie weit Ihr Kind tatsächlich entwickelt ist. Dann können Sie es im individuellen Tempo vorwärtsbringen.

      Entwicklung organisatorischer Fähigkeiten

      Die organisatorischen Fähigkeiten wachsen mit dem Kind mit. Dennoch entwickelt sich jedes Kind im eigenen Tempo. Dieser Abschnitt befasst sich mit der Forschung zu der Entwicklung des organisatorischen Vermögens mit zunehmenden Alter. Erste Zeichen der exekutiven Funktionen zeigen sich bereits, bevor ein Kind ein Jahr alt wird. Ein Kleinkind kann schon einen simplen Plan befolgen. Es kann auf Grundlage von Informationen einfache Entscheidungen treffen. Dreijährige können Aufgaben erledigen, bei denen sie zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten entscheiden müssen. Sie treffen Entscheidungen, können sich fokussieren und demonstrieren auf diese Weise Flexibilität. Sobald Kinder in das Kindergartenalter kommen, können sie häufig schon Aufgaben gemeinsam in der Gruppe bewältigen. Sie können Aufgaben durch eine subtile Hilfestellung des Erziehers schon unabhängig lösen und Ablenkungen im Sitzkreis für 15 bis 20 Minuten ausblenden.

      image Die A-nicht-B-Aufgabe

      Viele Studien zeigen das Wachstum der exekutiven Funktionen während der ersten Jahre nach der Geburt. Ein Pionier in der Erforschung der Kindesentwicklung ist Jean Piaget.9 Er führte ein Experiment namens A-nicht-B-Aufgabe mit Kindern durch, die sieben Monate und älter waren. In diesem Experiment wird den Kindern ein auffälliges Spielzeug gezeigt. Dieses wird innerhalb der Reichweite des Kindes in eine Box A gelegt. Das Kind darf dann nach dem Spielzeug suchen. Diese Abfolge wird einige Male wiederholt. Dann wird das Spielzeug vor den Augen des Kindes in die Box B gelegt. Piaget hat herausgefunden, dass Kinder unter zwölf Monaten immer wieder zu Box A gegangen sind, um das Spielzeug zu finden. Die Theorie besagt, dass die Kinder durch die zweite Box überfordert waren. Ihre Verarbeitungsfähigkeit wurde überfordert. Nicht in der Lage sich auf mehr als eine Sache zu konzentrieren, beharrten die Kinder auf der ihnen bekannten Box A. Kinder, die fast zwölf Monate alt waren, ließen sich hingegen nicht von den zahlreichen Wiederholungen ablenken. Sie probierten auch Box B aus.

      Andere Forscher haben die A-nicht-B-Aufgabe seitdem weiterentwickelt.


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