Das Phantom vom Pfaffenteich. Marc Kayser

Das Phantom vom Pfaffenteich - Marc Kayser


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glauben Sie immer noch, dass er als Täter in Frage kommt? Müssen wir nicht völlig neu denken? Was ist mit einer Schülerbefragung an Mathildas Schule, Aufarbeitung des Falles für ›Aktenzeichen XY … ungelöst‹, eine Recherche in den benachbarten Bundesländern? Vielleicht kommt der Mann ab und an in die Schweriner Provinz, versucht, ein Mädchen abzugreifen, und verschwindet wieder?« Die Kommissarin erhob sich bewegt, stellte sich an Timmermanns Bürofenster und blickte hinunter auf die Straße. Zwei gelbe Plastiktüten eines Discounters mit Hund tanzten miteinander ausgelassen im Wind.

      »Das arme Mädchen«, sagte sie leise. »Sie war, wie viele Jugendliche sind. Verträumt, verspielt, verliebt.«

      »Verliebt?«, fragte Timmermann.

      »Ganz sicher hatte ihr ein Verehrer eine Nachricht gesandt, und sie genoss es. Jedenfalls schlussfolgere ich das aus Ihrem Bericht.«

      »Das mag sein«, antwortete ihr Vorgesetzter. »Doch aus ihrem Umfeld gibt es auch nicht den leisesten Hinweis darauf, dass ihr jemand wehtun wollte oder gar plante, sie zu töten. Nichts, rein gar nichts.«

      »Ich würde gern rauchen«, sagte Eva Lindenthal, »das beruhigt mich.« Und im Moment bereute sie ihre Worte. Sie hatte eben ohne wirkliche Not eine Schwäche von sich preisgegeben, und das ausgerechnet gegenüber ihrem Vorgesetzten.

      »Rauchen Sie aus meinem Fenster«, sagte Timmermann jovial, »ich brenne mir ein Zigarillo an. Meine Sekretärin schützt uns, sie kennt meine heimliche Passion.«

      Die Kommissarin grinste überrascht und fröhlich. Ihr war Timmermann sympathisch, auch wenn ihm der Ruf vorauseilte, ein eitler Tropf zu sein, der sich mit seinen guten Beziehungen ins Innenministerium brüstete. Angeblich gingen er und der Innenminister zusammen am Wochenende golfen. Und wenn schon, hatte sie bei ihrer Bewerbung auf die Kommissariatsstelle in Schwerin gedacht, jeder, der Chef war, sollte einen Spleen haben dürfen. Und bei einem Blick durch Timmermanns Arbeitszimmer wurde sie in ihrer Ansicht bestätigt, dass dessen Merkwürdigkeiten ausgewachsen waren.

      Einträchtig standen sie nebeneinander und dampften. Timmermann beobachtete sie kurz von der Seite, vermaß ihr Gesichts­profil mit den Augen.

      5

      »Warum wollten Sie Kriminalkommissarin werden?«, fragte Timmermann leichthin, war sich aber bewusst, möglicherweise eine Sprengstofffrage gestellt zu haben.

      Eva Lindenthal ließ sich einen Augenblick lang Zeit. Dann sagte sie: »Ich war ein Mädchen vom Land, mit Eltern, die Kühe, Schweine und ein paar Kaninchen besaßen. Meine Familie betrieb in Zickhusen bei Schwerin einen kleinen Hof. Glaubt man meiner Mutter, dann war ich sehr eigensinnig, lebhaft und geradezu versessen aufs Reiten. Sie brachten mir das Melken von Kühen und das Besamen von Schweinen bei.«

      Sie sog sinnierend an ihrer Zigarette. »Mein erster Freund war dann auch der Sohn der Nachbarn. Tim. Er verstand, so wie ich auch, die Tiere und sah sie nicht nur als Lebewesen, die Geld brachten, aber Dreck machten und stanken. Na ja, und eines Tages, da muss ich etwa vierzehn gewesen sein, verschwanden über Nacht zwei Schweine, eine Kuh und sämtliche Kaninchen. Die Polizei fand ihre Kadaver mit durchschossenem Kopf auf einer Wiese nahe unseres Dorfes. Damals haben wir uns geschworen, dass wir als Erwachsene genau solche Menschen verfolgen wollten, die Tiere stahlen, um sich daran zu ergötzen, wie sie unter ihrer Hand starben. Dabei aß ich Fleisch, trug Lederschuhe und machte mir wenig Gedanken darüber, woher die Wurst und der Schinken kamen, die immer reichlich bei den Lindenthals auf den Tisch kamen. Ich wäre im Leben nicht auf die – wie sagt man so schön – ›zweite Ebene‹ gekommen, dass tagtäglich weltweit Millionen Tiere starben, um die Fleischlust der Menschen zu befriedigen. Und um jetzt endlich Ihre Frage konkret zu beantworten: Mit achtzehn war also die Sache für uns klar. Weil Tim eine Ausbildung zum Rechtsanwaltsfachangestellten machte, um später Jura zu studieren, schlug ich den Weg des gehobenen Polizeivollzugsdienstes ein. Verändert hatte sich, dass ich keine Tiermörder mehr jagen wollte. Und ich weiß noch, wie ich zu Tim damals sagte: ›Das ist doch eine Superaufteilung: Du wirst Richter, und ich bringe dir die Kandidaten zur Verurteilung.‹«

      Sie wandte ihren Blick zu Timmermann hin. Rauch entfloh ihrem Mund.

      »Gutes Motiv«, kommentierte er. »Und warum Single? Sie haben das vorhin bei Ihrer Vorstellung betont.«

      Sie blickte jetzt scheel von der Seite auf ihn. »Muss ich das beantworten?«

      »Sie müssen gar nichts, aber mich würde es interessieren. Sie sind eine noch junge Kommissarin und anscheinend auch sehr ehrgeizig. Liegt’s daran? Am Ehrgeiz?«

      »Nein«, sagte sie direkt. »Tut es nicht. Tim war meine erste, große Liebe und ist es im Grunde genommen bis heute geblieben. Wir stammten ja nicht nur aus demselben Dorf, wir teilten auch erst unser Kinder- dann unser Jugendleben miteinander. Wir waren beide an einer Schule, in derselben Klasse, beim selben Klavierlehrer. Wir gingen zusammen reiten … Unsere Freundschaft wurde zu einer Beziehung, die so lange hielt, wie wir beide am selben Ort wohnten. Er entschied sich für München als Studienort, wollte raus aus der Provinz. Mich zog es nach Berlin an die Polizeischule. Er wurde Rechtsanwalt, ich Kommissarin.« Sie hielt kurz inne. »Ich glaube, er hat mich wirklich geliebt, vielleicht er mich mehr als ich ihn. Daher weiß ich nicht, ob er mir je verziehen hat, dass ich mich wegen der Entfernung von ihm trennte … Ich konnte mir eine Fernbeziehung nach all der Nähe einfach nicht vorstellen, habe es nicht einmal probiert. Habe einfach ­Adieu gesagt.« Sie pausierte erneut kurz und schob dann nach: »Das ist die ganze Geschichte. Nach ihm hatte ich ein paar Affären mit Kommilitonen, nichts wirklich Ernsthaftes.«

      »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, stupste Timmer­mann sie vorsichtig an.

      Sie schwieg einen Moment lang, sog an ihrer Zigarette, verblies den Rauch. »Tim war ein Guter. Er verstand mich und ich ihn. Ich habe nie wieder einen Menschen getroffen, der mich so verstand wie er. Vielleicht arbeite ich deshalb auch so gern mit Frauen. Apropos …«, sie schaute ihm jetzt direkt in die Augen, »… es gibt da eine Frau, die ich als Assistentin gern an meiner Seite hätte. Sie heißt Laura. Ein Wechselmädchen. Kommt eigentlich aus dem Theater und war dort Visagistin. War ihr aber nicht aufregend genug. Ging dann nach Güstrow auf die Polizeischule. Ich mag sie, unsere Chemie stimmt. Wenn Sie also die Ermittlungen an mich abgeben, dies quasi mein erster Fall in Schwerin wird, dann bekomme ich Laura. Sie soll nächsten Montag hier anfangen.«

      »Und wenn nicht?«, fragte er etwas eisig.

      »Dann droht, dass der Fall nur ein Fall bleibt«, sagte sie kurz.

      Timmermann entgleisten die Gesichtszüge. »Sie sind Beamtin und erpressen mich?«

      »Ja«, entgegnete die Kommissarin fest. »Ich brauche eine Assistentin an meiner Seite, der ich vertrauen kann. Sie kennt sich mit Charakteren und Maskeraden großartig aus, wie gesagt, sie war beim Theater und Visagistin, bevor sie Polizistin wurde. Außerdem kenne ich in diesem Kommissariat niemanden außer Sie – und, mit Verlaub, auch nur aus unserem jetzigen Gespräch. Ich wäre Ihnen also sehr verbunden …«

      »Wir haben aber keine weiteren Planstellen«, sagte Timmermann kurz.

      »Dann schaffen wir eine«, erwiderte sie ebenso knapp.

      »Das müssen Sie dem Innenminister sagen«, antwortete ihr Chef.

      »Das machen Sie«, parierte sie seine Antwort, »kommenden Sonntag beim Golfen. Ich liefere Ihnen dafür den Mörder von Mathilda.«

      Timmermann schluckte. So hatte zuvor keiner seiner Kommissare je mit ihm geredet, geschweige denn solcherart Forderungen mit Arbeitsergebnissen verbunden. »Ich gucke, was sich machen lässt«, knurrte er.

      6 Eine Woche später

      Timmermann hatte Wort gehalten: Nachdem der Innenminister einer Verstärkung der Mordkommission zugestimmt hatte, hatte Ulrich Timmermann den Personalplan neu gebaut und Laura Derwall als Assistentin von Eva Lindenthal eingestellt. Heute war der erste Arbeitstag der jungen Frau. Sie war gerade dreiundzwanzig Jahre alt geworden, eine hübsche, hochgewachsene Person mit einem ausgeprägten Hang zu wild-bunten Armbändern, die aus Schnüren, Lederbändern, kleinen Federn und Perlen bestanden.


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