Das Phantom vom Pfaffenteich. Marc Kayser

Das Phantom vom Pfaffenteich - Marc Kayser


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Federtasche, ein Handy und der Fantasy-Roman Avalon von Marion Zimmer Bradley fielen heraus. Er stapelte seinen Fund übereinander, legte ihren Ausweis aus dem Karton obenauf, sah auf ihren Namen und griff aus dem Regal, wo noch weitere Teppiche lagerten, nach einer Plastikdose mit Paketschnur. Er verschnürte alles und schob die Habseligkeiten wieder zurück in den Rucksack. Dann wandte er sich davon ab und dem Mädchen zu.

      »Hallo, kleine Elisabeth, ich ziehe dir jetzt die Kapuze vom Gesicht. Das geht schnell und tut nicht weh.«

      Von der Stirn bis hinunter zu ihrem Dekolleté zogen sich bläuliche Streifen. Aus ihren Lippen war jegliches Rot gewichen. Ihre Haut um Mund und Nase war so bleich wie Wachs.

      »Was mache ich denn jetzt mit dir, du junges Ding?«

      Er blickte auf die Tote vor sich, als erwarte er tatsächlich eine Antwort von ihr.

      9 Am nächsten Tag, gegen neun Uhr

      Als Laura zu Dienstbeginn mit der Meldung hereinschneite, dass niemand aus Haus Nummer 9a in der gleichen Funkzelle wie Lea eingeloggt war und auch niemand auf die Beschreibung des Mannes passte, schlug die Stimmung der beiden Frauen vollends in Ernüchterung um. Eva Lindenthal machte einen noch müden Eindruck. Sie war am Abend zuvor nach drei Gläsern Rotwein zwar selig eingeschlafen, aber am Morgen mit starken Kopfschmerzen erwacht.

      Die Nachricht von Laura zog sie noch weiter herunter.

      »Berichte kurz detaillierter«, bat die Kommissarin ihre Assistentin etwas zu harsch.

      Laura spurte. »Von den acht Parteien in dem Haus habe ich fünf angetroffen. Einen älteren Mann, der nicht auf die Beschreibung passt, aber ein Erwachet!-Heft mit in seine Wohnung nahm; ein älteres Ehepaar, eine Mutter mit Kind, eine offensichtlich alleinstehende Dame und einen jungen, mutmaßlich noch minderjährigen Typen, aus dessen Wohnung es schwer nach Marihuana roch. Bisher also Fehlanzeige.« Laura wirkte zerknirscht. Sie drehte eine blonde Perücke unschlüssig in ihrer Hand. Die Perlen an ihren bunten Armbändern klingelten dabei leise.

      »Nur nicht aufgeben. Die Sache mit der Erwachet!-Zeitschrift ist doch recht originell. Sendet die Wanze?«

      »Ja, ich habe die IT-Abteilung instruiert, alles aufzuzeichnen, was uns der kleine Spion liefert.«

      »Im Klartext heißt das, dass wir jemanden abhören, der sehr wahrscheinlich überhaupt nichts mit dem Mathilda-Fall zu tun hat. Das ist eine heiße Kiste. Wir verstoßen da gerade eindeutig gegen Gesetze.« Die Kommissarin sah alarmiert aus.

      »Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Laura und sah erwartungsvoll auf ihre Chefin.

      Die rieb sich die Augen. »Wir warten ab, was die Wanze liefert, ansonsten schalten wir sie spätestens nach drei Tagen ab. Ich habe gestern Nachmittag noch mit der zuständigen Staatsanwältin telefoniert und ihr vom Ergebnis unseres Gesprächs mit der Mutter Leas berichtet. Zwar hat die Kollegin nicht ausgeschlossen, dass es weitere Ermittlungen geben soll. Doch ich glaube, herausgehört zu haben, dass ihr die Beweislage und die Anschuldigungen zu dünn sind, als dass sich der personelle und damit finanzielle Aufwand einer umfassenden polizeilichen Recherche lohnt. Und wenn ich jetzt dein Ergebnis höre, dann komme ich zu dem Schluss: Der Mann, der einst im Zusammenhang von Mathildas Verschwinden wegen seiner gleichzeitigen Einwahl ins Funknetz in das Visier der Ermittler geraten war, wohnt entweder nicht mehr in Haus Nummer 9a oder war zumindest von der Beschreibung von damals nicht derjenige, der Lea belästigt hat.«

      Lindenthal nagte an ihrer Unterlippe. »Check doch mal, wann, wer aus dem Haus in den letzten Monaten um- oder ausgezogen ist. Und vielleicht macht eine diskrete Umfrage in der Schule unter den Acht- bis Zwölfklässlern Sinn, ob noch jemand diesen ominösen Tulpenverkäufer gesehen hat. Aber bitte, ohne Leas Namen zu nennen oder gar ein Bild zu zeigen. Ach so, und noch etwas: Um auf Nummer sicher zu gehen, soll Lea hier nochmals mit ihrer Mutter erscheinen und ein Phantombild erstellen. Mit diesen Maßnahmen ersparen wir uns Nachfragen, ob wir ausschließen können, dass es sich um ein und denselben Mann handelt.«

      »Existiert denn überhaupt ein Foto oder sonst etwas von dem Kerl?«, erkundigte sich Laura.

      »Soweit ich weiß, nein. Sie haben damals nur eine Funkzellenabfrage gemacht, und er war der einzige neben Mathilda, der vielleicht auch gerade telefonierte oder eine Nachricht schrieb. Wenigstens konnte man ihn über seinen Provider als Bewohner der Hospitalstraße 9a zuordnen. Und wie wir jetzt wissen, deckt sich dessen Name nicht mit denjenigen, die in Haus Nummer 9a wohnen. Richtig?«

      »Ja«, sagte Laura kurz. »Wieso ist unser erster gemeinsamer Fall so undankbar?«

      »Mörder kann man sich nicht aussuchen«, sagte die Kommissarin lapidar. »Aber jeder macht mal einen Fehler. Und auf diesen Fehler werden wir kommen. Wir sind schließlich Frauen.«

      »Ich hoffe nur, dass wir nicht zu Cold-Case-Spezialistinnen verdammt sind und nur in alten Fällen herumwühlen. Das ist eine undankbare Aufgabe.« Dass Laura ihre eben gemachte Aussage ernst meinte, sah man ihr an. Sie guckte grämlich.

      »Es ist nur gut, dass wir hier gerade unter uns reden«, antwortete die Kommissarin mahnend. »Ich kläre nämlich lieber einen alten Fall auf, bei dem es keine neuen Opfer zu beklagen gibt. Solche Aussagen, liebe Laura, können schnell missverstanden werden. Aber ich schätze dein Feuer bei den anstehenden Aufgaben. Du wirst schneller, als dir lieb ist, ins Zentrum aktueller Verbrechen rücken.«

      »Aber irgendwie beginnt alles quälend langsam«, sagte Laura. »Wir haben keine neuen Anhaltspunkte. Und ich kann mir nicht vorstellen …«

      »… dass die Staatsanwaltschaft mit den bisherigen Ergebnissen zufrieden ist? Du hast recht«, gab die Kommissarin unumwunden zu. »Wir tappen im Dunkeln. Timmermann hat uns einen Fall übergeben, der nur eine Leiche kennt, aber keinen Verdächtigen. Und es könnte durchaus passieren, dass wir auch in den nächsten Wochen oder gar Monaten keine heiße Spur haben.«

      »Und was machen wir dann so lange?«

      Die Kommissarin grinste. »Aktenstudium machen, bisherige Spuren nachverfolgen, Schweriner Sexualstraftäter erneut unter die Lupe nehmen – und abwarten. So unangenehm das auch im Angesicht einer toten Teenagerin klingt. Polizisten sind keine Zauberer, Mordermittler keine Propheten. Das Böse da draußen …«, Eva Lindenthal wies mit einer Hand auf das Fenster ihres Büros, »… will weiter böse sein. Es ist geradezu versessen darauf, böse zu sein. Und das wird dem Bösen auch zum Verhängnis. Vielleicht nicht heute, aber möglicherweise morgen.«

      Laura hatte den Ausführungen der Kommissarin gespannt gelauscht. Es war ihre erste Lektion als Jägerin in einem Team von Jägern.

      10 Am selben Tag, später Vormittag

      Die Schweriner Polizeiinspektion war von außen ein quadratischer Klotz, der nicht gerade dazu einlud, sich über den verantwortlichen Architekten Gedanken zu machen. Dass neu errichtete Zweckbauten nicht zwangsläufig langweilig und öde aussehen müssen, bewiesen die Polizeigebäude in Winterthur in der Schweiz oder in München an der Theresienwiese. Vielleicht hatten der Bauherr und sein Architekt viele schlechte Tage, an denen ihnen nichts Besseres einfiel. Und so waren wie die Fenster außen auch im Innern die Büros so schmal wie Sehschlitze und an den Wänden aneinandergereiht wie Zellen in einem Knast.

      Das Büro von Eva Lindenthal in der Mordkommission war nüchtern und funktional eingerichtet und somit präzise darauf eingestellt, nicht in Urlaubsstimmung zu kommen, obwohl: Die Kommissarin hatte sich an die Wand in ihrem Rücken einen gewaltig wirkenden Kalender von der Größe DIN A0 aufgehängt, der ihr jeden Monat aufs neue kitschige, aber schöne Bilder aus der Karibik zeigte. Ihr Schreibtisch indessen war so neu wie sie selbst in der Behörde, ihr Telefon zwar digital, aber unscheinbar und grau, der Flachbildschirm war Massenware und die Grünlilie erhob nicht den Anspruch, eine botanische Seltenheit zu sein. Durch eine Verbindungstür getrennt, schloss sich das Büro von Laura an, die es bislang ebenso wenig geschafft hatte, ihrem Refugium Charakter zu verleihen. Immerhin: Sie hatte einen riesigen Bildschirm an der Wand, auf dem Täterprofile, Datenbankenanalysen und – klein in einem Extrafenster – aktuelle Nachrichten eines öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanals ohne Ton liefen. Laura hockte an ihrem Schreibtisch,


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