Das Phantom vom Pfaffenteich. Marc Kayser

Das Phantom vom Pfaffenteich - Marc Kayser


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Äußert er sich dazu, entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob das Verfahren eingestellt wird oder nicht.«

      Die Frau schwieg jetzt. Dann sagte sie leise: »Sie ist doch erst dreizehn. Und wir alle wissen, wie widerwärtig Männer mit ihren Scheißpenissen sein können.«

      Jetzt war es an Laura, bedeutungsvoll auf die Kommissarin zu blicken.

      »Wollen Sie uns etwas erzählen, Frau Schröder?«, fragte die Kommissarin behutsam.

      »Nein, nein, das will ich nicht«, wehrte die Frau ab. »Aber der scheußliche Mord an der kleinen Mathilda und dann die Nachrichten über Missbrauch von Männern an Kindern überall auf der Welt, das geht mir schon nahe.«

      »Mir auch«, sagte die Kommissarin in mitfühlendem Ton. »Und Sie selbst?«, fragte sie nach. »Haben Ihnen Männer schon mal etwas angetan?«

      Leas Mutter schwieg jetzt, wirkte in sich gekehrt und müde. »Lassen wir es bei diesem Gespräch zum Thema meiner Tochter«, bat sie leise. »Ich …«

      »Sie können uns jederzeit kontaktieren, ja?«, unterbrach die Kommissarin behutsam. »Ich schreibe jetzt eine Zusammenfassung unseres Gesprächs für den Staatsanwalt. Laura begleitet Sie aus dem Kommissariat. Sie wird Ihnen eine Karte mit einer Nummer geben, unter der Sie uns erreichen können.«

      »Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte die Mutter und winkte der Kommissarin zum Abschied einen Gruß zu. Eva Lindenthal lächelte ihr aufmunternd zu.

      7 Früher Abend, gleicher Tag

      Das Haus Nummer 9a in der Schweriner Hospitalstraße machte von außen einen gepflegten Eindruck. Es stammte aus der Gründerzeit, hatte einen gelblichen Anstrich, die Fenster waren mit weißgetünchten Faschen geschmückt. Ein Wasserspeier aus Zinn hoch oben am Dachfirst öffnete sein Maul zu einer mächtigen Wasserrinne, durch die man einen großkalibrigen Torpedo hätte jagen können. Nummer 9a sah also ganz und gar harmlos aus, so harmlos wie alle Häuser dieser Straße, die um die Jahrhundertwende gebaut worden waren. Es war der schöne und historische Teil Schwerins, der nicht nur Touristen anzog, sondern auch jene, die über die nötige Solvenz verfügten, sich eine dieser großbürgerlichen Wohnungen zu leisten.

      Doch wie jedes Haus barg auch dieses ein Geheimnis.

      Der Rollstuhlfahrer, der jetzt aus dem Hauseingang glitt, sah sich auf dem Bürgersteig vor dem Haus prüfend um. Sodann bewegte er sich eher gemächlich die Hospitalstraße in Richtung einer kleinen Anhöhe, für die er alle Armkraft benötigte, um sich und sein Gefährt in Schwung zu halten. Es dämmerte schon, doch noch waren die Straßenlaternen nicht aufgeflammt. Der Mann im Rollstuhl trug eine dunkelblaue Jacke und eine schwarze Strickmütze. Er schien etwa Mitte fünfzig zu sein, trug Bart und Brille. Über seine Hände hatte er sich Lederhandschuhe gezogen. An der Ecke zur Schelfstraße stoppte er. Er blickte hinüber zur »ecolea«-­Schule, wo noch vereinzelte Lichter in Klassenräumen brannten. Vorsichtig manövrierte er seinen Rollstuhl dicht an den Eingang des letzten Hauses der Kreuzung, drehte ihn und hatte nun die Gebäudewand im Rücken. Parkende Autos versperrten ihm zwar die Sicht auf die zwei Straßen, die auf die Kreuzung zuliefen, dafür hatte er aber die beiden Fußgängerüberwege gut im Blick. Nicht weit von ihm, gut sichtbar, lag ein gelbes Paket von der Größe einer Hutschachtel neben einem weiteren Hauseingang. Der Mann fummelte eine Zigarettenpackung aus einer der Innentaschen seiner Jacke und zündete sich eine Kippe an. Er rauchte langsam und entspannt. Über seine Hose hatte er sich eine Decke mit den Figuren der Simpsons gelegt.

      So verharrte er etwa eine halbe Stunde lang. Die wenigen Passanten, die an ihm vorbeiliefen, beachteten ihn kaum oder gar nicht. Für die Insassen vorbeifahrender Autos blieb er beinahe unsichtbar, denn auch ihnen versperrten geparkte Autos die Sicht.

      Es war 17.25 Uhr.

      Der Mann rauchte eine weitere Zigarette und blickte dabei aufmerksam zu dem Schulgebäude hinüber. Jetzt erloschen nacheinander einige der Lichter in den Räumen. Etwa eine weitere Viertelstunde später erspähte der Rollstuhlfahrer eine schlanke, offensichtlich sehr junge weibliche Person mit langen hellen Haaren, gekleidet in eng anliegenden, schwarzen Jeans, heller Cordjacke mit Strasssteinen besetzt und auffällig buntem Rucksack auf den Schultern. Sie lief direkt auf ihn zu. In ihren Ohren steckten Kopfhörer. Sie summte leise. Als sie schon fast an ihm vorbei war, riss er beide Arme hoch und entflammte dabei ein Feuerzeug. Das Mädchen blickte überrascht zu ihm hin. Er winkte ihr zu und bedeutete ihr, näher zu kommen. Irritiert nahm sie einen ihrer Kopfhörer aus dem Ohr.

      »Wie bitte?«, fragte sie etwas unwillig.

      »Hey! Du! Kannst du mir nur ganz kurz helfen?«

      »Ähm«, machte das Mädchen. »Eigentlich nicht, bin spät dran.«

      »Nur kurz«, bettelte er, »ich kriege das Paket dahinten nicht hoch, der Postbote hat es vor die falsche Tür gelegt. Ich wohne zwei Häuser weiter. Ich brauche nur sehr kurz deine Hilfe.«

      Sie überlegte einen Moment. »Na schön«, sagte sie dann, »wohin soll das Paket? Und ist es schwer?

      »Nein«, sagte der Mann, »da sind nur neue Handgriffe für meinen Rolli drin. Und eine neue Sitzauflage. Ich habe sie schon sehr durchgesessen. Nicht dramatisch vom Gewicht.«

      Das Mädchen lächelte jetzt sogar etwas. »Okay, aber anbauen tun Sie das allein?«

      »Jaja, keine Sorge«, sagte der Mann freundlich. »Es ist sehr nett von dir, mir zu helfen. Kommst du gerade aus der Schule? Schätze ich richtig, neunte oder zehnte Klasse?« Seine Brillengläser glitzerten.

      Das Mädchen ging darauf nicht ein. Es sagte: »Mein Opa sitzt auch im Rollstuhl, er hat es nicht leicht, und er tut mir auch irgendwie leid. Er ist erst achtundsechzig und trotzdem nicht mehr so gut drauf.«

      »Gut, dass dein Papa noch fit ist«, sagte er, und es klang nach einer aufrichtigen Feststellung.

      »Ich habe keinen Papa«, erwiderte das Mädchen.

      »Hättest du gern einen gehabt?«

      »Klar, wär sicher cool gewesen.«

      »Es ist ein hartes Schicksal, nicht mehr so laufen zu können wie beispielsweise du«, wechselte der Rollstuhlfahrer das Thema. »Deshalb bin ich dir auch so dankbar. Gleich morgen oder nachher kannst du deinen Freunden von deiner guten Tat berichten …«

      »Schon gut«, unterbrach ihn das Mädchen. »Wo soll das Paket denn hin? Wo wohnen Sie?«

      Der Mann zeigte mit einer Hand die Straße hinunter. »Dort, Nummer 9a, nur hundert Meter. Nimm das Paket, und ich rolle schon mal los?«

      »Geht klar«, sagte das Mädchen und folgte ihm, bis der Mann stoppte, auf eine Türklinke einer breiten Hauseinfahrt wies und meinte: »Sie ist schwer, und wenn du schon mal hier bist, dann öffne sie bitte, meine Wohnung ist gleich im Erdgeschoss.«

      »Sie wohnen in meiner Nachbarschaft«, sagte das Mädchen im Hausflur. »Aber ich habe Sie noch nie gesehen.« Die schwere Hauseingangstür war jetzt hinter ihnen mit einigem Getöse zugeklappt. Ein breiter Durchgang wie einst für Pferdekutschen hatte sich vor dem Mädchen aufgetan. An den nicht mehr ganz frisch wirkenden Wänden links und rechts prangten Graffitos eines eher mäßig begabten Sprayers. Auf beiden Seiten des breiten, zugigen Flurs führten Türen zu Wohnungen. Sie waren blau gestrichen worden. An der linken Tür fehlte das Namensschild. Dorthin wies der Mann.

      »Ich habe die Wohnung auch erst kürzlich bezogen«, sagte er, reichte ihr den Wohnungsschlüssel und bat sie, aufzuschließen.

      »Soll ich Ihnen helfen, in die Wohnung zu kommen?«, fragte das Mädchen arglos.

      »Das wäre natürlich total nett …«, murmelte der Mann, stemmte sich aus seinem Rollstuhl und wirkte – gegenüber der zierlichen Statur des Mädchens – wie ein Riese. Sie zuckte etwas zurück, als er seinen Arm um ihre Hüfte legte und darum bat, dass sie ihn die beiden Stufen zur Wohnung nach oben drücken solle. Sie tat, was er sagte, er entriegelte die Tür, sie standen im Flur. Die Einzimmerwohnung bot mit ihren weißgetünchten Wänden trotz ihrer tiefen Lage und der dreistöckigen Häuser auf der


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