Ganz klar Tanja. Dana Wolf
/p>
Es war Hochsommer, als Tanja Bernhardt ihren kleinen fränkischen Bio-Bauernhof verließ und in die Berghoff-Klinik reiste. Ganze drei Wochen wollte sie auf Reha an der Mosel verbringen. Und zwar ohne ihren Freund Florian.
Tanjas wartungsgestauter Opel Corsa fuhr sie pannenfrei durch das wellige Mittelfranken, die Eichen- und Buchenwälder des Spessarts sowie die ersten Ausläufer der Mainmetropole. Als sie das Hilton am Frankfurter Airport passierte, hatte sie bereits mehr als die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt. Kurz hinter Simmern erreichte sie die Hunsrückhöhenstraße. Der Kleinwagen schlängelte sich durch die bewaldete, von kahlen Kuppen unterbrochene Hügellandschaft. Die Landschaft atmete Geschichte. In regelmäßigen Abständen tauchten Burgruinen, keltische Hügelgräber und Reste ehemaliger römischer Militäranlagen auf. Tanja hatte keinen Blick dafür. Ihr Gemüt fühlte sich wie Watte an, die Welt war wie hinter Glas. Sie folgte den Schildern in Richtung Moseltal, bis sie kurz hinter Büdlich an einem Anstieg mit qualmendem Motor zum Stehen kam.
Sie sparte es sich, zu fluchen, schlug stattdessen ein paarmal mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Das Navi hatte sie hergeführt, doch wo solche Orte wie Ruwer oder Hermeskeil lagen, wusste sie beim besten Willen nicht. Wenigstens regnete es nicht. Und selbst wenn, bei diesen Temperaturen hätte eine kleine Dusche auch nicht geschadet.
Tanja schaute sich um. In Richtung Westen – laut Navi – war die Sicht durch eine nahe Linkskurve versperrt. In östlicher Richtung lagen nur kleine Dörfer, die kaum diesen Namen verdienten. Sie wusste nicht, wie viele dieser Ortschaften sie schon passiert hatte, seit sie die Autobahn verlassen hatte. An eine Autowerkstatt oder eine Tankstelle konnte sie sich nicht erinnern. Sie löste die Motorhaubenverriegelung, schnappte sich eine kleine Flasche Mineralwasser vom Beifahrersitz und stieg aus. Vorsichtig öffnete sie die Haube. Weißer Qualm schlug ihr entgegen. Keine Chance, nach dem Kühlwasser zu gucken. Sie nahm einen Schluck und fischte ihr Smartphone aus der Mittelkonsole. Kein Netz. Typisch, dachte sie, erst hat man kein Glück, und dann kommt auch noch Pech dazu! Sie machte ein paar Schritte in Richtung Anhöhe. Im Rücken ein Motorgeräusch, das sich schnell näherte. Sie wandte sich um und sah einen dunkelgrünen Sportwagen im Tiefflug auf sich zu rasen. Sie wich zurück aufs unkrautbewachsene Bankett. Das Cabrio hielt direkt neben ihr.
„Probleme?“
Die Stimme gehörte einem Anfang- bis Mittfünfziger mit ergrautem Kurzhaar und Sechstage-Bart. Tanja musterte ihn.
„Können Sie mich vielleicht bis in die nächste Werkstatt mitnehmen?“
Er wies auf seinen Beifahrersitz, auf dem sich lederne Reisetaschen türmten.
„Sorry, Lady, da werden Sie wohl laufen müssen.“
Tanja musterte ihn noch immer, diesmal ungläubig.
„Könnten Sie dann vielleicht mal nach dem Wagen schauen?“
Er schaute zu ihrem Kleinwagen rüber. Der Qualm hatte sich mittlerweile verzogen, die Kühlerhaube stand offen.
„Seh ich aus wie ein Automechaniker?“
Boah! Was für ein arroganter Typ, dachte sie und stemmte die Hände in die Hüften.
„Schade, dass man sich gutes Benehmen nicht kaufen kann“, sagte sie mit Blick auf seinen Sportwagen, „sonst hätten Sie sicher welches.“
Für einen kurzen Augenblick war er sprachlos. Dann hob er eine Augenbraue.
„Touché! Aber wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf: Wenn Sie das nächste Mal verreisen, dann nehmen Sie lieber die Bahn – und lassen Ihren motorisierten Einkaufswagen in der Garage.“
Noch bevor Tanja etwas entgegnen konnte, drehten die Räder des Cabrios auf der staubtrockenen Erde durch und warfen eine Staubfontaine in die Sommerluft. Tanja wandte sich ab, um nicht getroffen zu werden. Mit offenem Mund starrte sie dem Wagen hinterher. Das war genau das, was heute noch gefehlt hatte! Sie hoffte, dass dieser Tag genug Gemeinheiten für sie bereitgehalten hatte. Sie sollte sich täuschen ......
*
„Vielen, vielen Dank nochmal!“
Tanja lehnte sich in die noch offene Beifahrertür.
„Sehr gern!“
Die junge Frau, die sie bis hierher mitgenommen hatte, warf ihr einen aufmunternden Blick zu.
„Alles Gute für die Reha! Und toi toi toi für den Wagen!“
Tanja warf die Tür ins Schloss. Die Frau ließ sie vor Willy’s Autohofallein zurück, einer kleinen Klitsche mit Bürocontainer, einigen älteren Gebrauchtwagen auf Kies sowie einer offenstehenden Garage mit Hebebühne. Tanja war froh, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben. Da sie in der Garage niemanden antraf, betrat sie den Bürocontainer. Es roch nach Kunstleder und kaltem Zigarettenrauch, den ein Ventilator gleichmäßig in dem kleinen Raum verteilte. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand hingen vergilbte Urkunden in billigen Rahmen. Neben einem Schlüsselbrett türmten sich verbeulte Autokennzeichen. Hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Brillenträger mit Polyesterhemd und Taxifahrerweste, vermutlich aus dem gleichen Kunstleder wie das Sofa für die Kunden. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mit seinem Papierkram fertig war und Tanja Beachtung schenkte.
„Ja, bitte?“
Tanja schilderte ihre Autopanne. Sie beschrieb vage, wo ihr Wagen liegengeblieben war.
„Das muss kurz vor Niederlützingen sein“, murmelte er, öffnete das Containerfenster und rief seinen Kollegen zu sich. Der Kollege war nicht mal halb so alt wie er, wahrscheinlich sein Azubi. Er reichte ihm den Schlüssel für den Abschleppwagen aus dem Fenster, gefolgt von dem Hinweis, sich zu beeilen.
„Ist gleich Feierabend!“, erklärte er. Und zu Tanja:„Das wird heute nix mehr.“
Ohne weitere Erklärungen vertiefte er sich erneut in seine Arbeit. Als er bemerkte, dass Tanja noch immer in der Tür stand, griff er zum Telefon.
„Wo soll’s denn hingehen? Ich ruf Ihnen ´n Taxi.“
„Berghoff-Klinik, Konz“, entgegnete sie knapp.
„Kenn ich. Ist nicht weit.“
„Und mein Wagen?“
„Einen Moment, bitte.“
Offenbar war die Taxizentrale am anderen Ende. Er bestellte einen Wagen und legte das Telefon zurück auf den Schreibtisch.
„Kommt gleich.“
„Und mein Auto?“
Tanja war noch immer etwas irritiert durch seine lakonische Art.
„Guck ich mir morgen an.“
„Okaaayyyy“, machte sie fragend und fischte einen gelben Notizzettel vom Schreibtisch, um ihre Telefonnummer darauf zu notieren.
„Sie können mich ja anrufen.“
„Mach ich“, entgegnete der Brillenträger, ohne zu ihr aufzusehen. Tanja legte ihm den Zettel auf den Tisch und verabschiedete sich. Draußen war es nur unwesentlich kühler als in dem stickigen Bürocontainer. Kein Wunder, war es doch wieder mal ein Jahrhundertsommer.
Tanja ließ ihren Blick über die umliegenden Hügel schweifen. Sie dachte an Florian, der in letzter Zeit einiges hatte ertragen müssen: ihre Launen, ihre Gereiztheit, auch ihre Niedergeschlagenheit. Das hatte alles damit begonnen, dass vor ungefähr einem halben Jahr ihre Mutter verstorben war, mit gerade mal einundsechzig. Ein tragischer Unfall. Oder besser gesagt, die tragischen Folgen eines Unfalls, den sie nicht mal selbst verschuldet hatte. Sie war mit ihrem E-Bike auf dem Rückweg vom Einkaufen gewesen, als ihr ein Kleintransporter die Vorfahrt genommen hatte. Sie hatte im letzten Moment ausweichen können, war aber mit dem Kopf auf die Bordsteinkante gestürzt. Die Ärzte hatten sie nach einer Nacht im Krankenhaus mit einer leichten Gehirnerschütterung entlassen. Keine zwei Wochen später war sie dann mit einem Aneurysma in der Notaufnahme gelandet. Die anschließende OP hatte sie dann nicht überlebt .... Ein schwerer Schlag für Tanja, der sie komplett aus der Bahn geworfen hatte. Nach dem ersten Schock und der ersten Trauer begann erst ihre eigentliche Bewährungsprobe; immerhin hatte Maria Bernhardt einen